# taz.de -- Bier fürs Fegen in Amsterdam: Die Ausgekotzten räumen auf
       
       > Dürfen Alkoholiker mit Bier entlohnt werden, wenn sie dafür die Straße
       > fegen? Die Stadt Amsterdam unternimmt ein soziales Experiment.
       
 (IMG) Bild: Das Bier lässt er oft schon weg: Fred Schiphorst säubert den Park. Für ihn ist es mehr als eine Beschäftigungsmaßnahme.
       
       AMSTERDAM taz | Am frühen Morgen ging es Fred Schiphorst gar nicht gut.
       Gleich nach dem Aufstehen fing sie an, die Übelkeit. Und auf dem Weg zur
       Arbeit musste er sich übergeben, dreimal. Erste fachkundige Selbstdiagnose:
       „Ich kämpfe mit Entzugserscheinungen.“ Er hat Grund zu dieser Annahme, denn
       gestern hat er den ganzen Tag nicht getrunken. Zur Arbeit gekommen ist Fred
       Schiphorst trotzdem: „Ich bin ein Mann, der sich an die Abmachungen hält.“
       
       Also sitzt er jetzt in der winzigen Baracke der Stiftung De Regenboog ganz
       am Rand von Amsterdam-Oost, wo sich die Gruppe der Straßenfeger vor der
       Schicht versammelt. Vorsichtig nippt er an einer Kaffeetasse. Seine 60
       Jahre sieht man ihm kaum an. Fred Schiphorst hat klare blaue Augen, und das
       zerzauste dunkelblonde Haar ist nur an den Seiten schon etwas weiß. Der
       Morgen ist eiskalt. In Lederjacke und mit rot-weiß geringeltem Schal sitzt
       er am Tisch im Nichtraucherraum, zusammen mit den beiden
       Sozialarbeiterinnen, die eben schon die erste Runde Dosenbier ausgeteilt
       haben.
       
       Nicht dass er aufgehört hätte zu rauchen. Aber drüben, im Raucherraum der
       Baracke, öffnen die anderen jetzt die blauen Bavaria-Büchsen. Fred
       Schiphorst aber will heute wieder nicht trinken – auch nicht während der
       Arbeit. Was schwierig ist, wenn die Kollegen wie er selbst Alkoholiker sind
       und die Bezahlung in drei Aggregatszuständen daherkommt. Fest: pro Schicht
       zehn Euro auf die Hand. Rauchbar: ein halbes Päckchen Tabak. Flüssig: zwei
       Dosen Pils vorher, zwei in der Pause, eine danach.
       
       ## Typisch Amsterdam?
       
       Zwei Jahre ist es her, dass Stadtverwaltung und Streetworker gemeinsam ein
       Konzept entwickelten: 19 langjährige Trinker, die für anderthalb Liter Bier
       am Tag gemeinnützige Arbeit verrichten. In zwei Gruppen ziehen die
       Sozialhilfeempfänger mit Abfallzangen aus, in einem Kiez im schmucklosen
       Osten der Stadt die Straßen zu säubern. Vor allem internationale Medien
       stürzten sich auf das Phänomen: Die einen bezeichneten es als „typisch
       Amsterdam“, kreativ, ein bisschen verrückt, und gaaanz liberal, die anderen
       fanden kaum Worte für ihre moralische Entrüstung. Niederländer dagegen regt
       es weniger auf.
       
       Auch Fred Schiphorst, von Anfang an dabei, kann mit der Empörung wenig
       anfangen. Er selbst ist gerade „beim Abbauen“: Vom Schnaps ist er schon
       weg, der Rest soll folgen. Dennoch sagt er: „Alkohol ist für uns wie
       Medizin. Manche hier können sonst nicht funktionieren.“ 20 Jahre war er
       trocken, als 2002 sein Bruder starb. Das erste Bier warf ihn zurück in die
       Abhängigkeit, mit der Fred Schiphorst eine lange Geschichte verbindet. Als
       junger Marinesoldat war er einst in Norwegen und Borneo stationiert.
       Heimweh brachte ihn zurück in die Niederlande, sein Speedball-Konsum in
       eine Entzugsklinik.
       
       Im Gang wird es jetzt unruhig. Die Kollegen aus dem Raucherraum kommen
       herüber. Sie holen sich ihre Greifzangen, die in einer Ecke stehen. Halb
       elf, Zeit zum Arbeiten. „Ich bin froh, dass ich dies tun kann“, sagt Fred.
       „Es ist nicht nur Beschäftigungstherapie oder eine Art, den Tag
       herumzubekommen.“ Dass sie ihn zum Vormann seiner Gruppe gewählt haben,
       einstimmig, macht ihn stolz. Er streift die orange Weste über, nimmt sich
       einen Müllsack und befestigt einen Ring in der Öffnung. Die Zange noch, und
       es kann losgehen. Wäre er ohne das Bier auch dabei? Ja, sagt er, ohne zu
       überlegen, und tritt vor die Tür.
       
       ## „Ich liebe meine Arbeit“
       
       Draußen geht die Stadt in Stadtrand über. Felder, von denen sich gerade
       erst der Nebel hebt, ein Fußballplatz, das Gelände eines Tennisclubs. Auf
       der anderen Seite ein Kanal, über dessen Deich sich Jogger und Radfahrer
       bewegen. Die Männer verteilen sich und durchkämmen die Sträucher am
       Wegrand. Der Wagen der städtischen Reinigungsbehörde rollt langsam auf dem
       schmalen Weg vorbei, die Arbeiter tragen die gleichen orangefarbenen
       Westen. Man grüßt sich durch die Scheiben, wie Kollegen das so tun.
       
       Oben am Deich, etwas abseits von den anderen, geht ein kleiner Mann mit
       weißer Baseballmütze bedächtigen Schrittes, ein Auge auf das Gebüsch
       gerichtet. Er trägt beige Handschuhe und eine flauschige schwarze Jacke.
       Ramon Smits, 53, ist ein Surinamer mit indischen und kreolischen Vorfahren.
       „Ich liebe meine Arbeit“, sagt er in sanftem Singsang, und seine Worte
       hinterlassen eine kleine Fahne in der klaren Luft des Vormittags. „Ich bin
       gerne beschäftigt. Wenn ich Müll aufsammle, denke ich nicht an Bier.“
       Anders als sein Vormann würde er aber ohne die tägliche Spende an Dosenbier
       nicht mitmachen.
       
       ## Trinker raus aus dem Park
       
       Früher war Ramon Smits Lagermitarbeiter bei Nissan. Danach war er in einem
       großen Amsterdamer Hotel angestellt und in der Gepäckabteilung am Flughafen
       Schiphol. Seit 13 Jahren trinkt er, „aber nur Bier“. Seine beiden Kinder
       leben in Surinam, er selbst wohnt in einem Obdachlosenheim. In einem halben
       Jahr, hofft Smits, kann er vielleicht ein eigenes Zimmer beziehen. Letzten
       Sommer bekam er einen Anruf von der städtischen Sozialbehörde, ob er bei
       dem Projekt mitmachen wolle. „Gerne“, habe er gesagt. „Sonst sitze ich doch
       nur im Park herum.“
       
       Der „Park“ ist etwas, was alle hier verbindet. Gemeint ist nicht irgendeine
       städtische Grünfläche, sondern der Oosterpark hier in der Nähe, eine
       soziale Schnittstelle der Abfallsammler und vieler Amsterdamer
       Trinkerbiografien. In den frühen 1960ern entstand dort erstmals eine offene
       Alkoholikerszene. Die Gruppe wuchs schnell, weil sich aus anderen
       Stadtteilen Gleichgesinnte hinzugesellten, die dort aus den Parks
       vertrieben wurden.
       
       Seit ein paar Jahren will man dem Treiben im Oosterpark ein Ende setzen.
       Doch selbst Alkoholverbot und eine Offensive des Ordnungsamts, das
       Strafzettel verteilende Beamte auf Streife schickte, kamen nicht dagegen
       an. Besucher des Oosterparks beschwerten sich weiterhin über ein
       zugedröhntes Stammpublikum, das sich manchmal lauthals stritt. „Wir sind
       keine lieben Jungs“, räumt Fred Schiphorst ein. „Aber es gab auch eine
       Wechselwirkung mit der Polizei und ihrem Knollenschreiben.“ Jetzt sind alle
       zufrieden: Trinker, Stadt und Polizei.
       
       ## „Abfall sammeln ist auch wichtig“
       
       „Sollen wir hier ein Zigarettchen rauchen?“, fragt Ramon Smits die
       Kollegen. Die Gruppe bewegt sich nun auf der anderen Seite des Kanals durch
       ein Gewerbegebiet. Smits bleibt am Ende eines kleinen Wasserlaufs stehen
       und zieht den Tabakbeutel aus der Tasche. „Es ist wichtig, dass du etwas
       bedeutest in der Gesellschaft“, philosophiert er. „Ich muss kein Doktor
       oder Arzt sein, Abfall sammeln ist auch wichtig. Jeder hat seine Aufgabe.“
       Er ist sich sicher: „Ich würde dies gerne weitermachen.“
       
       Mitstreiter Vincent De Graven dagegen hat andere Pläne. „Ich hoffe schon,
       dass ich noch mal einen Job finde“, sagt der Mittvierziger mit den langen
       Rastas unter dem Turban. Bis es so weit ist, findet er anderes: Gerade hat
       er ein iPhone mit zerkratztem Bildschirm aus dem Gebüsch gefischt. „Neulich
       hatte ich eins, das ging sogar noch. Und ein anderes Mal fanden wir einen
       Karton Damenwäsche im Graben. Vom Laster gefallen – den wollte jemand dort
       abholen.“
       
       ## Es gibt Grundbedürfnisse
       
       Vormann Fred Schiphorst hat den vollsten Sack, als die Gruppe zur
       Mittagspause wieder bei der Baracke ankommt. Drinnen erwartet sie Janet van
       der Noord, eine der Mitarbeiterinnen der Sozialstiftung De Regenboog, die
       das Projekt begleitet. In ihrer Stimme liegt eine raue Herzlichkeit, die
       man in dieser Stadt öfter antrifft. „Schat“, Schatz, nennt sie die Männer
       mit den Greifzangen gerne. Früher hat Janet van der Noord als Managerin in
       gehobener Position bei amerikanischen Firmen gearbeitet, und niemand wusste
       davon, dass sie kokainabhängig war. Nach ihrem Entzug beschloss sie,
       anderen Suchtkranken zu helfen – „weil ich weiß, wie Sucht funktioniert“.
       
       Es ist ihre Vorgeschichte, die Janet van der Noord eine ganz eigene
       Perspektive auf die Arbeit gibt. Einerseits lehrt sie die Erfahrung: „Nur
       völlige Abstinenz hilft, Sucht zu überwinden.“ Tief in ihrem Herzen wisse
       sie, dass man mit Abhängigkeit nicht glücklich sein kann. „Doch die
       Praxis“, sagt sie, „ist anders“. Sie erzählt von Grundbedürfnissen, dem
       Gefühl von Sicherheit, sozialer Zuwendung und Anerkennung. „Diese Menschen
       wurden von der Gesellschaft ausgekotzt. Da muss man erst Vertrauen
       aufbauen. Manche haben nicht einmal eine Wohnung, wenn sie hier anfangen.“
       Alkoholfrei, wenn überhaupt, könnten die Männer erst später werden, sagt
       sie.
       
       Sicher ist sich Janet van der Noord vor allem einer Sache: „Ohne Bier
       bekäme man diese Gruppe nicht aus dem Park.“ Im Stadthaus scheint man zu
       einem ähnlichen Fazit gelangt zu sein. „Hier“, sagt Fred Schiphorst, und
       deutet auf die Gratiszeitung, mit der er sich am Tisch niedergelassen hat.
       „Das erfolgreiche Straßenfegerprojekt Oost soll verlängert werden.“ Ohne
       Stolz sagt er das nicht. Aus dem Nebenraum hört man, wie die Laschen der
       Pilsdosen aufgezogen werden. Fred Schiphorst hat eine neue Tasse Kaffee vor
       sich. Für den Rest der Schicht wird er dabei bleiben.
       
       5 Apr 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Tobias Müller
       
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