# taz.de -- Ostgrenze der Europäischen Union: Theater am Ende der Welt
       
       > Einst lebten sie in einem gemeinsamen Staat: die Menschen in der
       > Ostslowakei und der Westukraine. In der Slowakei spielt das heute keine
       > Rolle mehr.
       
 (IMG) Bild: Malerisch, nicht wahr? Die Innenstadt des slowakischen Presov.
       
       PRESOV taz | Gleich hinter Ubl’a beginnt das Ende der Welt. Dies zumindest
       sagen die Einheimischen, und an diesem warmen Sonntag sieht es ganz so aus,
       als hätten sie recht. Mitten auf der Landstraße gehen vier junge Frauen in
       Miniröcken und High Heels spazieren. Zwei schieben einen Kinderwagen vor
       sich her, und sie alle scheinen sich sicher zu sein, dass kein
       Vorbeifahrender sie stören wird. Weshalb auch?
       
       In den Dörfern, durch die diese Landstraße im nordöstlichsten Zipfel der
       Slowakei zur slowakisch-ukrainischen Grenze führt, haben die Gasthäuser
       schon vor Jahren geschlossen, lediglich die Schilder der regionalen
       Biermarke „Saris“ erinnern noch an sie.
       
       Doch nicht nur auf der Straße, auch am Grenzübergang sind an diesem Sonntag
       die Menschen zu Fuß unterwegs. Denn als Fußgänger gelangt man sehr viel
       schneller in die Ukraine als mit dem Auto. Wobei das eigentliche Ziel der
       Spaziergänger gar nicht das Nachbarland selbst ist, sondern der
       Duty-free-Shop zwischen den beiden Ländern. Wodka, Zigaretten, Schokolade,
       aber auch Plastikspielzeug – die Einkaufstaschen sind gut gefüllt auf dem
       Heimweg.
       
       Allerdings wird das Sonntagsvergnügen der Einheimischen jetzt noch durch
       den Zöllner gestört. Der ist zwar ebenfalls Slowake, doch notiert er
       akribisch die Alkoholika unter der Passnummer des Passanten in seinem
       Computer.
       
       ## Ein Sprachenmix
       
       Nur vier Liter im Monat sind erlaubt. Saris, so heißt nicht nur die lokale
       Biermarke, sondern auch der Dialekt, der hier im äußersten Nordosten der
       Slowakei gesprochen wird. Es ist ein Mix aus Slowakisch und Polnisch, und
       Ján Hanzo, der Direktor des Stadttheaters von Presov erzählt, dass das
       Sarise schon in der Mittelslowakei kaum mehr verstanden werde. In seinem
       Theater wurden früher sogar Stücke auf Saris aufgeführt, ebenso wie auf
       Ungarisch, Deutsch, Lateinisch und natürlich Slowakisch.
       
       Nur nicht auf Ukrainisch, denn dafür gibt es in der 90.000 Einwohner
       zählenden Stadt, die auf Ukrainisch Prjaschiw heißt, ein eigenes Theater.
       Das Ende der Welt wird auch heute noch von zahlreichen Völkern bewohnt,
       jahrhundertelang trennte sie im Vielvölkerstaat der Habsburger keine
       Grenze.
       
       Die Ukrainer, die im hügeligen Sariser Land leben, nennen sich nicht
       Ukrainer, sondern Russinen – und auch das Russinische ist eine eigene
       Sprache. Einer der berühmtesten Russinen ist Andy Warhol, dessen Eltern aus
       einem Dorf bei Medzilaborce stammen, dort wo es heute ein Warhol-Museum
       gibt. Im ukrainischen Theater von Presov, das mit seinen Stücken durch
       Städte und Dörfer wie Medzilaborce zieht, wird heute fast ausschließlich
       auf Russinisch gespielt.
       
       Seit dreißig Jahren mit dabei ist der heutige Direktor Marián Marko, der
       Besucherinnen bei der Begrüßung die Hand küsst und begeistert von seinen
       Studentenzeiten in Kiew erzählt. Inzwischen jedoch sind seine persönlichen
       Beziehungen zum Nachbarland eingeschlafen, und das hat sich auch durch die
       Kriegsgefahr dort nicht geändert.
       
       ## Das Stanislau-Phänomen
       
       „Eigentlich sind uns die Probleme in der Ukraine nicht viel näher als die
       des Nahen Ostens“, sagt er und fügt dann ein nachdenkliches „Vielleicht
       sollte dies ja nicht so sein“ hinzu. Genauso sieht dies auch Ján Hanzo,
       Direktor des Stadttheaters in Presov: „Ja, wir sind eine multikulturelle
       Stadt. Doch k. u. k ist Vergangenheit. Heute schauen wir nach Westen.“
       
       Und dann sagt er noch etwas, was die Ukrainer jenseits der Grenze ziemlich
       erschüttern dürfte: „Für uns waren früher alle Besucher, die aus der
       Sowjetunion kamen, Russen. Kiew ist für uns genauso weit entfernt wie
       Berlin.“ Zumindest was die Distanz in Kilometern angeht, hat Hanzo damit
       recht: Zur ukrainischen wie zur deutschen Hauptstadt beträgt die Entfernung
       knapp 700 Kilometer.
       
       250 Kilometer östlich von Presov liegt Iwano-Frankiwsk, und dort in der
       Westukraine sieht man die Sache mit der Distanz etwas anders. Ja, nach dem
       Zerfall der Sowjetunion ist dort sogar eine kulturelle, eine literarische
       Bewegung entstanden, die versucht, an die jahrhundertealten Traditionen
       dieser multikulturellen Region anzuknüpfen. Ihre Protagonisten,
       Schriftsteller wie der zurzeit in Berlin lehrende Juri Andruchowytsch,
       nennen sie das „Stanislau-Phänomen“. Denn Stanislau ist der frühere Name
       dieser Stadt inmitten des „Königreichs von Galizien und Lodomerien“, und
       sein König war der österreichische Kaiser. Erst 1962 erhielt die inzwischen
       auf 200.000 Einwohner angewachsene Stadt im Vorland der Karpaten den Namen
       des ukrainischen Schriftstellers Iwan Franko.
       
       Dass Iwano-Frankiwsk einst zu Österreich gehörte, ist immer noch deutlich
       zu sehen. Da ist das ehemalige Jesuitenkolleg, an dessen Wand nun ein
       Transparent mit den Bildern der Opfer des Maidan in Kiew hängt. Da sind die
       rosafarbenen und habsburgergelben einstöckigen Häuschen mit ihren viel zu
       mächtigen Stuckverzierungen. Da sind die Gründerzeitpaläste, die
       entstanden, als Kaiser Franz Joseph versuchte, sein Reich neu zu bauen. Auf
       einem zentralen Platz spielt ein Blasorchester Marschmusik und Wiener
       Klassik. Es fällt nicht schwer, sich vorzustellen, dass aus einem
       Kaffeehaus am Marktplatz Joseph Roth tritt. Sein „Radetzkymarsch“ handelt
       in dieser Zeit und in diesem Raum.
       
       ## Westslawische Wurzeln
       
       Eine Dichterin, die Stanislau zu ihrem Thema gemacht hat, obwohl sie gar
       nicht hier, sondern in einem Bergdorf der Karpaten geboren wurde, ist Halya
       Petrosanyak. „Mein Glück ist es, in einer Stadt zu leben, wo gewaltig und
       bestimmt Hoffnungen sich erfüllen“, schreibt die 44-Jährige und der Wechsel
       von der Vergangenheit zur aktuellen politischen Situation ergibt sich da
       von selbst. Halya Petrosanyak kann nicht verstehen, warum der Westen beim
       Blick auf die Westukraine jetzt plötzlich nur noch Faschisten sieht.
       
       In einem Stadtpark wurde ein Opfer des Kiewer Maidan beigesetzt. „Sehen so
       etwa Faschisten aus?“, fragt die Dichterin und zeigt auf das Bild eines
       jungen Mannes mit braunen, lockigen Haaren. „Im Oktober wäre Roman Huryk
       zwanzig Jahre alt geworden. Er studierte im zweiten Semester Psychologie an
       unserer Uni. Was für ein offenes Gesicht er hat. Sehen so wirklich
       Faschisten aus?“
       
       Halya Petrosanyak ist selbst so zierlich und wirkt so zerbrechlich, dass
       man meint, der erste kräftige Windstoß könnte sie zu Fall bringen. Doch hat
       sie in Wien und Prag studiert, spricht perfekt Deutsch, gewann mehrere
       Literaturpreise und übersetzt aus dem Tschechischen ins Ukrainische. So
       kann Halya mit wenigen Beispielen deutlich machen, dass die ukrainische
       Sprache dem westslawischen Tschechisch in vielem näher ist als dem
       ostslawischen Russisch.
       
       Überhaupt ist die Sprache, ist die Dominanz des Russischen, hier wie auch
       bei allen anderen Stationen dieser Reise entlang der EU-Außengrenze, eines
       der ganz zentralen Themen. „Die russischen Verlage sind größer, die
       russischen Fernsehsender reicher, die russischen Popstars bekannter.
       Russland überflutet uns mit seinem Trash und verdrängt das Ukrainische“,
       sagt die Dichterin. Und sie erzählt, dass in der Straße, in der einige der
       schönsten Häuser aus der K.-u.-k.-Zeit stehen, zu Sowjetzeiten die
       einheimischen Bewohner ausziehen mussten, um Platz zu machen für
       KP-Funktionäre aus Kiew und Moskau. „Die Verdrängung unserer Kultur durch
       die russische ist ein schleichender, langsamer Prozess.“
       
       Als die Habsburgermonarchie nach dem Ersten Weltkrieg zusammenbrach, war
       Stanislau für wenige Monate die Hauptstadt einer „Westukrainischen
       Volksrepublik“, die sich gegen die russischen Bolschewiki stellte. Und seit
       die Ukraine 1991 zu einem selbstständigen Staat wurde, tauchen in der
       Karpatho-Ukraine immer mal wieder Forderungen nach einer Unabhängigkeit von
       Kiew auf. Wenn der Osten der Ukraine sich Russland anschließt, könnte sich
       dann auch der Westen des Landes abspalten?
       
       ## Neue Ära in Klein-Berlin
       
       Eine Frage, die Halya Petrosanyak gar nicht so abwegig vorkommt. „Ich habe
       meinen 37-jährigen Nachbarn gefragt, ob er für eine geeinte Ukraine in den
       Krieg ziehen würde“, berichtet sie. „Seine Antwort lautete: Nein, für
       Donezk würde er nicht kämpfen, wohl aber für die Freiheit der Westukraine.“
       Und die Dichterin fügt hinzu: „Irgendetwas brodelt hier, aber bisher nur in
       unserem Unterbewusstsein.“
       
       Vielleicht ist es genau das, was das literarische Stanislau-Phänomen zu
       einem politischen macht. Einerseits wollen die Autoren die ukrainische
       Sprache und ihren Staat stärken. Andererseits sehen sie sich mit ihren
       multikulturellen Traditionen zugleich als Avantgarde. Ihre Heimat ist
       größer als die Ukraine.
       
       Wer von der Westukraine zurück in die Ostslowakei will, muss dafür viel
       Zeit einplanen. Direkte Verbindungen gibt es nicht, die Zugfahrt dauert
       zwölf Stunden, davon gehen drei Stunden für die Abfertigung an der Grenze
       drauf. Und auch die Umspurung der Züge von der russischen Breit- auf die
       europäische Schmalspur erfordert seine Zeit. Und so scheint es, als würde
       die einst geeinte Region heute nichts mehr verbinden. Und doch ändert sich
       auch hier etwas.
       
       Ende April erklärte sich die Slowakei bereit, die nicht genutzte
       Vojany-Pipeline für Gaslieferungen in die Ukraine freizugeben. Und dann ist
       da noch das Dorf Slemence. Nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Slowakei
       ihre östlichste Region an die siegreiche Sowjetunion abtreten musste, fand
       sich der größere Teil der Einwohner plötzlich auf slowakischer, der
       kleinere auf ukrainischer Seite wieder. Von nun an gab es zwei Dörfer, und
       man sprach von „Klein-Berlin“.
       
       In diesem Frühsommer jedoch sieht es in Slemence ein bisschen so aus wie in
       den Tagen des Berliner Mauerfalls. Teile der Grenzbefestigung werden von
       einem schweren Kran angehoben und schweben durch die Luft. Mit 300.000 Euro
       aus dem Freundschaftsprogramm der EU wird die Grenze den Bedürfnissen
       dieser neuen Wendezeit angepasst.
       
       29 May 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Sabine Herre
       
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