# taz.de -- Roma in Europa: Der Geruch der Armut
       
       > Roma sind eine sozial benachteiligte Gruppe. Wer dies außer Acht lässt,
       > wird das Übel nur befördern. Wir müssen anders über Roma reden.
       
 (IMG) Bild: Ausgegrenzt: Am Stadtrand von Kosice in der Slowakei liegt Lunik IX, einer der größten Roma-Slums Europas.
       
       Roma stinken: Das ist in Osteuropa eine gängige Beleidigung, die schon
       kleinen Kindern den Schulbesuch zur Hölle machen kann. Wer gelernt hat,
       Minderheiten die fällige menschliche Wertschätzung zu erweisen, wird sich
       darüber empören.
       
       Die Geschichte hat aber auch eine andere Seite. „Wir kriegen hier in
       unseren Hütten die Kleider nicht trocken“, sagt Elena, eine
       alleinerziehende Mutter, die mit ihren vier Kindern in einer verfallenen
       Hütte am Stadtrand von Cluj in Rumänien lebt. „Waschen können wir sie am
       Brunnen, aber trocknen können wir sie nicht.“ Und fügt hinzu: „Wenn ich den
       Kindern feuchte Sachen anziehe, dann werden sie krank.“
       
       Roma sind – nicht nur in Osteuropa – zwei Übeln zugleich ausgesetzt: der
       Verachtung ihrer Mitmenschen und einer überkommenen Armut. Was gegen das
       eine Übel hilft, hilft nicht nur nicht gegen das andere, sondern befördert
       es zuweilen sogar.
       
       Wer die Roma gegen die Verachtung in Schutz nimmt, wird den Hetzern
       antworten: Geruch ist eine Sinneswahrnehmung, die man nicht messen kann.
       Also hört auf, über etwas zu reden, das ihr nicht belegen könnt! Woher
       wollt ihr wissen, dass Roma oft stehlen?, fragen die Gutwilligen. Keine
       polizeiliche Statistik weist ethnische Gruppen gesondert aus! Roma – so
       wissen wir – sind nicht besser und nicht schlechter als andere, sie sind
       Menschen wie alle anderen auch.
       
       ## Intakte Familien
       
       In diesem Satz, so richtig er ist, sind allerdings die Bedingungen
       ausgeklammert, unter denen in Rumänien, Bulgarien, in der Slowakei oder in
       Serbien die meisten Roma leben müssen. Wer seine Kleider nicht waschen
       kann, fängt tatsächlich irgendwann zu riechen an. Es ist der Geruch der
       Armut, nicht der Geruch der Roma. In allen Slums auf der Welt und um sie
       herum gibt es auch Kriminalität.
       
       Osteuropäische Roma-Quartiere machen da nur insofern eine Ausnahme, als die
       Gewaltkriminalität wegen der intakten Familienbindungen dort viel geringer
       ist als in südafrikanischen Townships oder brasilianischen Favelas. Die
       rassistischen Hetzer hätten gern eine Roma-Kriminalstatistik zur Hand, um
       beweisen zu können, dass „die Zigeuner“ viel häufiger stehlen als zum
       Beispiel „die Deutschen“. Die bekommen sie nicht, und das ist auch gut so.
       Aber dass „die Deutschen“ für „die Roma“ eine angemessene Vergleichsgruppe
       darstellen, zieht niemand in Zweifel.
       
       Roma sind ein „Volk“, eine ethnische Gruppe, aber sie sind nicht nur das.
       In der Realität und auch im Begriff, den wir und sie sich davon machen,
       sind sie – anders als zum Beispiel „die Deutschen“ – zugleich eine soziale
       Gruppe, eine Schicht. Das sollten wir spätestens 2014 alle begriffen haben.
       In der Geschichte der Roma waren in den vergangenen 250 Jahren beide
       Aspekte, der ethnische und der soziale, immer präsent. Einmal war der eine
       stärker, dann wieder der andere.
       
       Die Aufklärer betonten die Begabung jedes Menschen zur Vernunft und
       unterzogen die Zigeuner ungeachtet ihrer ethnischen Besonderheit einer
       strengen Erziehung und Assimilation. Die Romantiker dagegen betonten und
       betonen deren Andersartigkeit – den Volkscharakter. Manche Vertreter dieser
       Denkungsart loben den (übrigens steigenden) Analphabetismus von
       südosteuropäischen Roma folgerichtig als „schriftlose Kultur“. Was anders
       ist, denken sie, kann nicht schlecht sein.
       
       Wir leben, wenn es um Roma geht, in ganz Europa seit dem Einsetzen der
       Roma-Nationalbewegung vor über 40 Jahren in einer romantischen Phase. Wir
       begreifen Roma als Volk und wenden gegen ihre Misere alle Mittel der
       Volksgruppenpolitik an: Anerkennung als nationale Minderheit, Unterstützung
       von Selbstorganisation und Selbstvertretung, Ächtung von Diskriminierung.
       Das passte gut zu den Debatten über Multikultur und Einwanderung, die zur
       gleichen Zeit an anderen Gegenständen geführt wurden. Dass Roma zugleich
       aber fast immer arm oder unmittelbar der Armut entkommen sind, blieb außer
       Acht.
       
       ## Kampf statt Respekt
       
       Minderheitenpolitik aber hilft nicht gegen Armut, sie kann sogar schaden.
       Wenn die Roma ein Volk sein wollen, liest man neuerdings in den Chaträumen,
       dann sollen sie ihre Verhältnisse gefälligst untereinander regeln. Niemand
       käme allerdings auf die Idee, etwa die Hartz-IV-Empfänger eine Vertretung
       bestimmen und ihre Verhältnisse untereinander regeln zu lassen. Armut
       gehört bekämpft, nicht respektiert. Armut verlangt nicht nach Autonomie,
       sondern nach rückstandsloser Integration.
       
       In den südosteuropäischen Ländern, wo ethnische Minderheiten kollektive
       Rechte genießen, wählen die allermeisten Roma deshalb auch keine Roma als
       ihre Vertreter. Sie wissen: Minderheitenvertreter eignen sich schlecht als
       Kämpfer gegen die Armut. Minderheitenvertreter müssen beweisen, dass die
       von ihnen vertretene Gruppe zwar kulturell anders, aber nicht schlechter
       ist als die Mehrheit. Deshalb werden sie versucht sein, die Armut und deren
       Folgen herunterzuspielen. „Volk“ sein (und damit für viele auch: sich Roma
       und nicht „Zigeuner“ nennen) bürdet ihnen einen Anspruch auf, den sie nicht
       erfüllen können.
       
       Die „anderen Bilder“, die Geschichten von Roma, die so gar nicht dem
       Klischee entsprechen, sind deshalb ambivalent. Jane Simon (33) kommt aus
       einer analphabetischen Roma-Familie. Sie hat es geschafft, sich davon zu
       lösen, und sagt in einem Roma-freundlichen Artikel der Bild-Zeitung:
       „Natürlich werfen die rumänischen Bettelbanden ein schlechtes Licht auf uns
       alle!“ Die Erfolgreichen unter den Roma zeigen der Mehrheitsgesellschaft:
       Seht her, wir sind wie ihr! Gebildet, gepflegt, erfolgreich, begütert
       vielleicht, eloquent. Die Mehrheit nimmt das zu gern auf und gibt zurück:
       Es geht ja, wenn man sich genügend anstrengt!
       
       Das mag für Deutschland stimmen; für Rumänien, Bulgarien oder Mazedonien
       stimmt es definitiv nicht. „Bildung ist der Schlüssel zur Lösung der
       Probleme“, lautet das politische Mantra dazu. Aber eine Investition in
       Bildung muss man sich erst einmal leisten können. Wer nicht hoffen kann,
       für eine jahrzehntelange Schul- und Universitätskarriere mit einem guten
       Leben belohnt zu werden, der wird in Bildung auch nicht investieren. Der
       Zusammenhang von Bildung und gutem Leben ist in Osteuropa – und zwar nicht
       nur für Roma – zerrissen.
       
       Wenn wir von den Roma nur als von einem Volk sprechen, ersparen wir es uns,
       von der Armut überhaupt zu reden. In Umfragen wird regelmäßig festgestellt,
       dass zwischen 20 und 30 Prozent der Deutschen keine Türken oder Afrikaner
       als Nachbarn haben wollen, aber um die 60 Prozent keine Roma. Wer eine
       Gruppe, die zu 90 Prozent aus Armen und Arbeitslosen besteht, mit einer
       verfassten, geschichteten Nation vergleicht, setzt sie einer unfairen und
       unsinnigen Konkurrenz aus. Am Ende werden die Leute sagen: Die Roma mögen
       ja ein Volk sein. Aber dann sind sie ein minderwertiges.
       
       3 Jan 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Norbert Mappes-Niediek
       
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