# taz.de -- Büchner-Preis für Jürgen Becker: Poetische Geschichtsschreibung
       
       > Die enorme Präsenz von Jürgen Beckers Gedichten beruht nicht auf formalen
       > Kunstgriffen. Sie speist sich aus Erfahrungen.
       
 (IMG) Bild: So sehr Jürgen Beckers Gedichte Naturbilder beschwören: Naturlyrik ist das an keiner Stelle.
       
       „Kein Krieg. Die alte Frau / zieht nur den Kopf ein, weil / sie hört, wie
       ein Apfel / krachend durchs Geäst schlägt.“ Das ist das kürzeste von Jürgen
       Beckers Gedichten, aus seiner Sammlung, die den hinreißenden Titel
       „Dorfrand mit Tankstelle“ trägt. Das Gedicht erschließt sich ganz erst
       durch seinen Titel, „Septemberanfang“.
       
       Nein, an diesem 1. September beginnt nicht noch einmal der Zweite
       Weltkrieg. Für Jürgen Becker, der an dessen Ende noch nicht ganz 13 Jahre
       alt war, hat er aber nie aufgehört. „Gib her, ein Blättchen, Tabak, den
       Filter; nie / hört die Nachkriegszeit auf. Der Tau, die Kälte am Morgen, /
       so beginnt der September, der September / der Zitate.“ So beginnt auch ein
       früheres Gedicht von Becker, aus den Neunzigerjahren, mit dem Titel „Im
       Rheinland. An der Oder.“
       
       Das ist ein Titel, den man programmatisch lesen muss. Von Anfang an hat
       Jürgen Becker, der, wie nun bekannt wurde, dieses Jahr mit Deutschland
       renommiertestem Literaturpreis, dem Büchnerpreis, geehrt wird, gleichsam
       ein Tagebuch der Bundesrepublik geschrieben, der rheinischen ebenso wie der
       Berliner. Er hat das nicht mit dem großen deutschen Roman getan, hat dieser
       Form lange prinzipiell misstraut, ehe er 1999 mit „Aus der Geschichte der
       Trennungen“ überraschte, dem ersten gelungenen Roman zur deutschen
       Wiedervereinigung.
       
       Seine Arbeitsweise als Chronist wirft sich nicht aufs große Ganze, sie
       orientiert sich an Bildern: „Ich kann nur schreiben, wenn ich Bilder vor
       mir sehe“, hat Becker in einem Gespräch gesagt. Und, so muss man
       hinzufügen, wenn er Klänge und Wörter auf ihre Bedeutungshöfe abhört:
       Septemberanfang ist Spätsommer, ist der fallende Apfel, ist Kriegsbeginn.
       
       ## Dichter und Landschaftshistoriker
       
       Der Dichter Becker ist ein Landschaftshistoriker, der nicht erst auf die
       „Wiederentdeckung des Raums“ in der Geschichtswissenschaft warten musste.
       Für ihn war Literatur immer Topografie und Erinnerung, Landvermessung und
       Rekonstruktion in einem. Schon immer konnte er in wenigen Zeilen einen Ort,
       eine Landschaft räumlich und zeitlich entfalten.
       
       Bewundernswert ist die enorme Gegenwärtigkeit der Bilder von früher, die
       Präsenz der Erinnerungen, die sie des Charakters der Erinnerung beraubt und
       zu gleichsam unvergänglichen Fakten macht. Alles ist Jetztzeit, alles ist
       gleichzeitig. „Wieder sind ein paar Äste nicht / durch den Winter gekommen.
       Die Birnbäume, / fast so alt wie das Jahrhundert. / Die wenigen Nachbarn
       können es nicht mehr / erzählen, und als sie noch lebten, erzählten / sie
       auch nichts. Die vergrabenen Flinten, / vielleicht liegen sie dort, wo /
       dünn das Gras auf der Wiese steht.“
       
       Eins der neuen Gedichte heißt „Zeitzeugen“ und könnte durchaus durch die
       unsägliche ZDF History à la Guido Knopp inspiriert sein, der das aber,
       würde er es lesen, kaum begreifen würde. Es beginnt: „Jetzt weiß man es
       wieder. Der Frontverlauf / zwischen Hückeswagen und Wipperfürth,
       Tiefflieger / über dem Niederen Fläming, im Vorgarten / das
       Maschinengewehr. Abends hat die erste Amsel / geflötet, und über die
       Terrasse schwebt / ein blaues Mädchenkleid. Den Großvater hat noch / der
       Volkssturm geholt …“
       
       So leicht Beckers Gedichte zu fließen scheinen, so sehr sie Naturbilder
       beschwören, den Apfel und die Amsel, die Birnbäume und die Schneereste, so
       leise sie auch sind: Naturlyrik ist das an keiner Stelle. Es geht hier
       immer um die ganze Wucht von Geschichte, die die Menschen und die
       Landschaften gleichermaßen trifft. Nicht zufällig findet sich, als einzige
       Reverenz an einen Kollegen, unter dem Titel „Sheerness-on-Sea. Februar
       1984“ ein Epitaph auf Uwe Johnson in diesem Band.
       
       ## Erfahrungen in Bilder übersetzen
       
       Die enorme Präsenz von Beckers Gedichten beruht nicht auf formalen
       Kunstgriffen. Sie stützt sich auf Aufmerksamkeit. Sie speist sich aus
       Erfahrungen und aus der Fähigkeit, diese in Bilder zu übersetzen.
       
       Was die Natur angeht, so ist ironisch zu vermelden: „Wenn der Bauantrag /
       durchkommt … der Eigentümer wiegelt ab. / Natur bleibt Natur. Moritz sagt,
       früher / war der Tankwart der Tankwart.“ Programmatisch für Beckers Poetik
       sind die Zeilen, mit denen eins seiner Gedichte endet: „Als ginge die
       Landschaft / verloren, so trostlos hast du gesprochen, aber / das stimmt
       nicht, und du weißt es, die ganze Zeit, / in der du am Zaun stehst und
       siehst, / wie aus dem Bild einer Küste eine Küste entsteht.“
       
       Viele der Gedichte von Jürgen Becker sind, ganz hilflos gesprochen,
       wunderschön. Mit dem diesjährigen Büchnerpreis wird ein Autor bedacht, der,
       zu unserem Trost, eindringliche poetische Geschichtsschreibung betreibt.
       
       30 May 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jochen Schimmang
       
       ## TAGS
       
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 (DIR) Sibylle Lewitscharoff
       
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