# taz.de -- Essay Chinas Kommunistische Partei: Macht ohne Moral
       
       > Die KP Chinas herrscht und herrscht, aber ihre kulturelle Autorität hat
       > sie verloren. Heute parken Parteibonzen lieber Billionen in Steueroasen.
       
 (IMG) Bild: Das tiefe Misstrauen gegenüber den Herrschenden führt zu einem neuen Selbstverständnis der Beherrschten.
       
       Ball deine rechte Hand zur Faust!“, mit diesen Worten ließ ein Jahr nach
       dem Massaker auf dem Tiananmen-Platz der Schriftsteller Wang Shuo zwei
       Gauner feierlich einen Betrug aushecken. Ganz im Stile der KP-Eide geloben
       die beiden: „Halte die Parteidisziplin ein! … Niemals die Partei verraten!
       … Ich spucke nie! … Wer vertragsbrüchig wird, zahlt Strafe!“
       
       Wang Shuos Verspottung der heiligen KP-Liturgie fand reißenden Absatz. 1991
       stieg er zum meistgelesenen Schriftstellers Chinas auf. Gleichzeitig
       überzog die KP das Land mit Säuberungen und Umerziehungsmaßnahmen; den
       Chinesen sollte wieder Respekt eingebläut werden. Sie ließ nach
       Studentenanführern fahnden, und Uni-Abgänger mussten sich für ein Jahr den
       Arbeitern, Bauern und Soldaten anschließen, um sich ideologisch umerziehen
       zu lassen – ganz wie zu Zeiten der Kulturrevolution. Wang Shuo aber blieb
       unbehelligt. Genauso wie der Rocksänger Cui Jian, der im gleichen Jahr in
       seinem überaus beliebten Song „Ein rotes Tuch“ die rote Fahne der KP offen
       aufs Korn nahm:
       
       „An jenem Tag bindest du mir die Augen zu mit einem roten Tuch. Nicht
       einmal den Himmel schier sehe ich noch im Fluch. Da fragst du mich, was ich
       erblicke, ich antworte: das pure Glück.“
       
       Dass die um Autorität ringende KP-Führung diese Künstler gewähren ließ,
       sollte der schockierten Bevölkerung wohl ein harmloses Ventil gönnen. Was
       sind schon ein paar zynische Geschichten gegen den mit Panzern
       zurückgewonnenen Gehorsam? 1995 attestierte der Philosoph Li Zehou in
       seiner Abhandlung „Abschied von der Revolution“ unter anderem Wang Shuo und
       Cui Jian „radikale Autoritätsdestruktion der Revolutionssprache und
       -symbolik.“ Li ahnte nicht, dass die Destruktion in den nächsten 25 Jahren
       noch viel radikaler ausfallen sollte. Und auch nicht, dass die KP-Führung
       sie zumeist höchstselbst betreiben würde.
       
       Es begann Ende 1992, als Chinas Reformpolitiker Deng Xiaoping
       marktwirtschaftliche Reformen anordnete. Sein Slogan: „Lass einen Teil der
       Menschen zuerst reich werden.“
       
       ## Dorfbewohnern das letzte Hemd ausgezogen
       
       Der KP, die der Kampf für soziale Gerechtigkeit an die Macht gebracht
       hatte, wurde so ihre moralische Legitimation entzogen. Heute haben
       Parteibonzen samt Verwandten rund 4 Billionen Dollar in karibischen
       Steueroasen geparkt.
       
       Bis 1996 wollte die KP nicht nur dank ihrer Waffen, sondern auch als
       moralische Autorität von den Chinesen anerkannt werden. Dann aber begann
       die „Realsatire“, nämlich dass Kommunisten für den Turbokapitalismus
       kämpften. In Romanen und Fernsehfilmen gründeten KP-Kader Firmen und
       scheffelten Geld, um mit gutem Beispiel voranzugehen und allen zu zeigen,
       wie man’s macht. Zugleich, um der Reinheit der Partei willen, entlarvten
       Parteimedien landauf, landab Kader, die versprachen, alle Chinesen in den
       Wohlstand zu führen, und darüber vielen Dorfbewohnern das letzte Hemd
       auszogen.
       
       Inzwischen ist die KP dieses Spiels überdrüssig geworden. Medial lässt sie
       nun Durchsetzungsfähigkeit als Ersatztugend anpreisen. 2009 strahlte das
       Zentrale Chinesische Fernsehen (CCTV) die 30-teilige Serie „Under Cover“
       (qianfu) aus. Ein Straßenfeger erzählt von einem roten Agenten. Dieser
       mordet, erpresst, wäscht Geld mithilfe der Mafia und schmiert, wen immer er
       braucht. Die Partei, der er treu ergeben ist, deckt alle seine
       Machenschaften. „Wenn nötig, kannst du Böses tun … Alles darf man flexibel
       handhaben. Nur das eine nicht: deinen Glauben an unsre Revolution!“ So weit
       der Geheimdienstmann.
       
       Der von ihm beschworene Glaube aber ist schon lange verschwunden.
       Stattdessen breitet sich die Korruption wie ein Krebsgeschwür aus. Sogar
       die Parteiführung stuft sie als „staatsgefährdend“ ein. Gegen diesen
       moralisch-kulturellen Verfall hilft kein neues Gesetz und auch keine
       Verfassung, zumal sich die Autokraten um beides nicht im Geringsten
       scheren. China leistet sich die besten Umweltschutzgesetze; doch die
       ohnehin katastrophale Umweltverschmutzung nimmt mit jedem Tag zu. 1994
       wurde per Verfassung festgelegt: Keine Regierungsinstanz außer der
       Zentralregierung darf Schulden machen. Nun erteilt Peking zehn Provinzen
       die Lizenz, Schuldscheine auszugeben.
       
       Oder nehmen wir die Justiz: Jedem gewährt die 2013 novellierte
       Strafprozessordnung das Recht auf Rechtsbeistand. Im Antikorruptionskampf,
       dem monatlich Kader von Ministerrang zum Opfer fallen, werden den
       Angeklagten während der parteiinternen U-Haft keine Verteidiger an die
       Seite gestellt. Stattdessen verschwinden sie monatelang spurlos. Von der
       Verfolgung politisch Andersdenkender gar nicht erst zu reden.
       
       Mittlerweile hat die Partei ihre juristische Autorität preisgegeben. Das
       alles löst in der chinesischen Gesellschaft verschiedenste Reaktionen aus.
       Die einen behelfen sich mit Selbstjustiz. Am 1. Juli 2008 erstach der
       Arbeitslose Yang Jia in Schanghai sechs Polizisten, verletzte vier schwer,
       um sich für das ihm zugefügte Unrecht zu rächen: grundlose Inhaftierung und
       Folter. Yang wurde daraufhin zum Tod verurteilt und hingerichtet; für viele
       Chinesen ist er ein Held. Es vergeht heute kaum ein Monat, ohne dass
       irgendwo in China Unbeteiligte getötet werden. Verzweiflung ist eines der
       häufigsten Tatmotive.
       
       ## Im Wind der Machtwillkür
       
       Andere segeln im Wind der Machtwillkür. Die Finanzjongleurin Wu Ying vergab
       in ihrer Heimat Zhejiang Kredite an offiziell kreditunwürdige
       Privatunternehmen mit einem Jahreszins von bis zu 75 Prozent und verdiente
       damit Milliarden. 2007 erging gegen sie das Todesurteil, 2009 wurde es zur
       Bewährung ausgesetzt. 2013 genehmigte Chinas Staatsrat eine Finanzreform in
       Zhejiang, die Geldbeschaffung zu einem Zinssatz von maximal 68 Prozent pro
       Jahr erlaubt. Wen wundert es noch, dass gigantische Spekulationsgeschäfte
       heute in China nicht mehr zu kontrollieren sind?
       
       Natürlich besitzt die Mehrheit der Chinesen weder die Tollkühnheit zur
       Selbstjustiz noch das Zeug zum Kasinokapitalismus. Ihr bietet nun das
       Internet Raum. Hier lassen sie ihrem ohnmächtigen Misstrauen und
       Verzweiflung freien Lauf gegen alles, was „von oben“ kommt:
       Erfolgsstatistiken, Expertenmeinung zum Trinkwasserpreis oder die Deutung
       des Irakkriegs. Das Misstrauen vereint prodemokratische Liberale mit
       hartgesottenen Nationalisten: „Brüllt nicht Japaner oder Vietnamesen an!
       Die Russen sind’s. Sie haben uns am meisten geschadet und werden uns noch
       mehr schaden. Tut was, ihr Schlappschwänze!“, giftete ein bekannter
       Nationalist online anlässlich des Mega-Gasdeals zwischen Peking und Moskau.
       Der Vertrauensverlust ufert so weit aus, dass der Online-Rufmord in Mode
       gekommen ist. Man nennt einfach irgendjemanden „wumao“ – Provokateur – und
       kassiert von der Regierung für jedes Posting dieser Art 50 Cents.
       
       Das tiefe Misstrauen gegenüber den Herrschenden führt zu einem neuen
       Selbstverständnis der Beherrschten. Zum Beispiel versteht man sich nun
       gerne als Steuerzahler („nashui ren“). Nach dem Motto: Ihr da oben schuldet
       uns Respekt und Rechenschaft, denn wir bezahlen euch – nicht umgekehrt.
       „Ich will nicht, dass mein Steuergeld dazu benutzt wird, Flugzeugträger zu
       bauen“, schrieb 2011 der Ökonom Mao Yishi in seinem Blog und stieß eine
       Debatte an: Wozu ist die KP-Führung befugt, welche Steuer darf sie erheben
       und wofür verwenden?
       
       ## Wozu brauchen wir Mondlandung?
       
       Umgehend monierten die einen: 300 Milliarden Yuan Steuergeld verballern die
       Staatskader jährlich allein auf Banketten und noch einmal so viel verbraten
       sie auf ihren Luxusreisen ins Ausland! Die anderen ätzen, die Regierung sei
       doch schuld am Smog, doch statt dagegen etwas zu unternehmen, führe sie
       dreist Steuern für Luftverschmutzung ein.
       
       Wieder andere sind empört darüber, dass China als die zweitgrößte
       Wirtschaftsmacht für Schulbildung proportional gesehen noch weniger ausgibt
       als Uganda. Woraufhin einige schmollen: Wozu brauchen wir die Mondlandung?
       
       Seit Neuestem versucht die Partei in Peking auf diese Debatte zu antworten.
       Mit dem Slogan „Wenn ich selbst Steuerzahler wäre …“ verlangt sie von
       Finanzbeamten mehr Kundennähe.
       
       Ab sofort gilt überall im Lande das neue Credo: Erst respektvoll lächeln,
       dann knallhart kassieren.
       
       3 Jun 2014
       
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