# taz.de -- 40 Jahre nach Ende des Vietnamkriegs: Eine unvollendete Geschichte
       
       > Vor vierzig Jahren siegte der kommunistische Norden über den Süden. Was
       > wurde aus den Hoffnungen für ein freies Vietnam?
       
 (IMG) Bild: Nordvietnamesischer Panzer, der am 30. April 1975 das Tor zum Präsidentenpalast in Saigon durchbrach.
       
       BERLIN taz | Nie werde ich den frenetischen Jubel vergessen, der die eher
       karge Mensa des Pekinger Spracheninstituts erfüllte, als am 30. April 1975
       die Nachricht von der Kapitulation der südvietnamesischen Regierung
       eintraf: Studierende aus Westeuropa, Albanien, Afrika schrien, klatschten,
       umarmten sich und tanzten, um jenen Sieg zu feiern, der offensichtlich die
       weltpolitischen Machtverhältnisse auf den Kopf stellte.
       
       Nur eine Gruppe schien sich nicht von dieser ausgelassenen Stimmung
       mitreißen zu lassen. Freundlich lächelnd, fast ein bisschen verlegen,
       nahmen die Studenten aus Vietnam die Glückwünsche entgegen, mit denen sie
       von allen Seiten überhäuft wurden.
       
       Mit einem von ihnen hatte ich ab und zu ein paar Sätze gewechselt. Und so
       fragte ich ihn einige Tage später in meinem holprigen Chinesisch, warum sie
       sich denn in der Mensa so auffallend zurückgehalten hätten.
       
       Ja, das sei sicher schwer zu verstehen, meinte er, aber gerade im
       Augenblick des Triumphs seien ihm und vieler seiner Kommilitonen die Opfer
       vor Augen gestanden – die Erinnerung an das Dröhnen der Bombenflugzeuge, an
       die Kameraden, die blutjung schon kurz nach ihrem ersten Einsatz von einer
       Granate in Stücke gerissen wurden, das panische Entsetzen, das die
       Überlebenden immer wieder heimsucht …
       
       Aber nun, so fügte er hastig hinzu, sei das alles vorüber und all die
       Opfer, hätten den Weg für eine bessere Zukunft in Frieden und Wohlstand
       bereitet.
       
       Irgendwie hatte es mein Freund Klaus geschafft, uns im September 1975 ein
       Visum für die Demokratische Republik Vietnam zu besorgen. Wir nahmen Hanoi
       als eine gelassene, merkwürdig unaufgeregte Stadt wahr. Die Leute strahlten
       Freude und Zuversicht aus: Wir haben die Amerikaner besiegt, weil wir eben
       gewitzter waren. Was fehlte, war jener pathetische Heroismus, mit dem
       damals in Peking selbst banalste Aussagen und Handlungen begleitet wurden.
       
       ## Mit Sympathie betrachtet
       
       Viele ausländische Beobachter sahen die Entwicklungschancen Vietnams
       durchaus positiv. Wer der vielfach überlegenen Feuerkraft der
       amerikanischen Militärmaschine erfolgreich widerstanden hatte, für den
       würde auch der wirtschaftliche Wiederaufbau kein unüberwindbares Hindernis
       darstellen.
       
       Zudem konnten die Vietnamesen nicht nur auf die Hilfe der sozialistischen
       Länder zählen. Sie verfügten auch über viele Sympathien in der Dritten Welt
       und der Blockfreienbewegung. Die USA hatten zwar ein Wirtschaftsembargo
       verhängt, aber ihre europäischen Verbündeten, wie z. B. die Bundesrepublik
       Deutschland, nahmen diplomatische Beziehungen zu Hanoi auf und stellten
       wirtschaftliche Hilfe in Aussicht.
       
       Zehn Jahre später hatte sich keine dieser hoffnungsvollen Erwartungen
       erfüllt. Die durch den jahrzehntelangen Krieg geprägte Führung Vietnams war
       auf den Frieden überhaupt nicht vorbereitet. Es gelang ihr weder, die
       Wirtschaft wieder aufzubauen, noch eine nationale Versöhnung in die Wege zu
       leiten, wie es die „Nationale Befreiungsfront“ versprochen hatte. Im
       Gegenteil: Die Bevölkerung hatte so wenig zu essen wie in den härtesten
       Jahren des Krieges.
       
       ## Flucht übers Meer
       
       Im ehemals kapitalistischen Süden Vietnams erlagen die kommunistischen
       Kader bislang ungewohnten Versuchungen. Sie bereicherten sich an dem noch
       vorhandenen Gold, den Devisen und anderen Wertgegenständen. Die Gräben
       zwischen den beiden Landesteilen wurden unüberbrückbar.
       
       Ende der 70er Jahre flohen Hunderttausende Vietnamesen auf seeuntüchtigen
       Booten übers Meer; viele ertranken oder wurden Opfer von Piraten.
       
       In dieser Zeit wurde die Krise im Inneren durch eine weitgehende
       außenpolitische Isolierung noch verstärkt. Als sich die
       sowjetisch-vietnamesischen Beziehungen vertieften, reagierte China hart: Es
       stellte jegliche Hilfe an Vietnam ein – und unterstützte die mörderische
       Politik Pol Pots in Kambodscha. Der hatte sich die Wiedereroberung
       kambodschanischen Territoriums im Mekong-Delta auf die Fahnen geschrieben.
       
       Anfang 1979 marschierten vietnamesische Truppen im Nachbarland ein und
       vertrieben die Roten Khmer aus Phnom Penh. Dies wurde aber im Ausland nicht
       etwa als Befreiung von einem Regime gewertet, unter dem ein Fünftel der
       kambodschanischen Bevölkerung umgekommen war. Statt dessen warf Peking –
       ebenso wie Washington – den Vietnamesen vor, sie wollten Kambodscha
       besetzen, um ganz Indochina unter ihre Herrschaft zu zwingen.
       
       ## Abhängig von der Sowjetunion
       
       In der Folge wurde Vietnam immer abhängiger von der Sowjetunion und deren
       osteuropäischen Verbündeten. Deren Hilfsbereitschaft war aber – angesichts
       eigener Probleme – enge Grenzen gesetzt.
       
       1984 kam ich nach Ho-Chi-Minh-Stadt, wie die frühere Hauptstadt
       Südvietnams, Saigon, nun hieß. Sie bot einen tristen Anblick: Die einst so
       geschäftigen Straßen waren verödet, Läden geschlossen, Märkte leer. Wo es
       überhaupt etwas zu kaufen gab, war es unerschwinglich, während in
       Südostasien und in China die Wirtschaft boomte.
       
       Wer heute, vierzig Jahre nach Kriegsende, durch Vietnam fährt, erlebt ein
       scheinbar völlig anderes Land: Es ist international wie regional
       respektiert, ein geschätzter Handelspartner und gefragter
       Investitionsstandort.
       
       Hanoi stellt derzeit den Generalsekretär der südostasiatischen
       Staatengemeinschaft ASEAN, war zwei Jahre lang im UN-Sicherheitsrat
       vertreten und bereitet intensiv seine Teilnahme an UN-Friedensmissionen
       vor. Besucher sind beeindruckt von immer gigantischeren Hochhäusern, einem
       offen und oft protzig zur Schau gestellten Reichtum, überbordenden Märkten,
       gut besuchten Restaurants.
       
       ## Von China gelernt
       
       Für die Zeiten des Kriegs und der Entbehrungen scheinen sich nur noch die
       Ausländer zu interessieren. Natürlich gibt es die Museen, die den
       heldenhaften Kampf für die Unabhängigkeit dokumentieren. Friedhöfe erinnern
       an die „Märtyrer“, die ihr Leben für die Unabhängigkeit gaben. An die
       250.000 Soldaten, die auf Seiten der südvietnamesischen Regierung fielen,
       erinnert kein Gedenkstein.
       
       Aber diese Erinnerung ist kanonisiert, Pflichtprogramm für Schulen und auf
       Heldengedenktage beschränkt. Versuche, sich mit der schwierigen und alles
       andere als linear verlaufenen Geschichte der vergangenen 70 Jahre
       auseinanderzusetzen, hat die Regierung schnell abgewürgt. Die recht junge
       Bevölkerung, die zu über 60 Prozent nach 1975 geboren ist, interessiert
       sich auch kaum dafür.
       
       ## Politik der Erneuerung
       
       Diese Generation ist geprägt von einem stetigen wirtschaftlichen Aufstieg.
       Lebte früher über die Hälfte der Vietnamesen in großer Armut, sind es heute
       weniger als zehn Prozent. Gewiss, die Kluft zwischen Arm und Reich ist groß
       und wird stetig größer; aber es gelang immer wieder, dem Wachstum neue
       Impulse zu verleihen – auch wenn die derzeitige Steigerung von 5,8 Prozent
       erheblich unter den vor Jahren anvisierten Marke von 8 Prozent liegt.
       
       Man gibt dies in Vietnam ungern zu, aber für die Ende 1986 verkündete
       Politik der Erneuerung (Doi Moi) war – wie so oft in der Geschichte
       Vietnams – China das Vorbild: Wachstum durch wirtschaftliche
       Liberalisierung, aber keine politische Liberalisierung. Die Partei
       begründet ihren Machtanspruch mit ihrer „weitsichtigen Führung“ des
       Reformprozesses.
       
       Tatsächlich waren die meisten dieser Reformen eher Zugeständnisse an die
       Bevölkerung. Bis dato verbotene privatwirtschaftliche Aktivitäten wurden
       nun erlaubt, ja sogar gefördert. Die Reformen wuchsen so eher von unten
       nach oben als umgekehrt.
       
       ## Brisante Fragen
       
       Dennoch verteidigt die Partei bis heute eisern ihr Macht- und
       Meinungsmonopol und wirft Dissidenten und kritische Journalisten ins
       Gefängnis.
       
       Damit beraubt sie sich des Potenzials einer aktiven Zivilgesellschaft, die
       dem Reformprozess entscheidende Impulse verliehen hat. Sie wird auch
       weiterhin unentbehrlich sein, um Antworten auf Fragen zu finden, deren
       Brisanz eher zu- als abnehmen wird: Wie könnte ein politisches System
       aussehen, in dem Konflikte in Wirtschaft und Gesellschaft friedlich
       beigelegt oder gar kreativ genutzt werden können? Was ist nötig, um die
       Wirtschaft wirklich zu modernisieren? Wie kann Vietnam seine politische und
       ökonomische Unabhängigkeit gegenüber der VR China verteidigen, ohne eine
       offene Auseinandersetzung mit dem Nachbarland zu riskieren?
       
       Auf diese Fragen gibt es keine einfachen und ein für allemal gültigen
       Lösungen. Neue Wege wird man nur in einem offenen Diskurs ohne Tabus
       finden, an dem sich alle Vietnamesen – ohne Angst vor Strafe – beteiligen
       können.
       
       30 Apr 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Gerhard Will
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Kambodscha
 (DIR) China
 (DIR) USA
 (DIR) Vietnam
 (DIR) USA
 (DIR) Vietnam
 (DIR) Außenpolitik
 (DIR) Schwerpunkt Meta
 (DIR) China
 (DIR) Vietnam
 (DIR) Vietnam
 (DIR) China
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) 40 Jahre nach Ende des Vietnamkriegs: Ein unvorstellbar langes Leiden
       
       Am 10. August begeht Vietnam den Tag des ersten US-Herbizideinsatzes im
       Land. Erstmals klagt ein Opfer in Frankreich auf Entschädigung.
       
 (DIR) Verhältnis Vietnam-USA: Auf dem Ho-Chi-Minh-Pfad zu Obama
       
       In Washington wird erstmals für einen vietnamesischen KP-Chef der rote
       Teppich ausgerollt. Beide Seiten eint das Misstrauen gegenüber China.
       
 (DIR) Rote Khmer in Kambodscha: Horrorregime von Pekings Gnaden
       
       Vor 40 Jahren begannen die Roten Khmer ihren vierjährigen Völkermord.
       Unterstützt wurden sie von China. Die KP verschleppt die Aufarbeitung.
       
 (DIR) Vietnams keimende Zivilgesellschaft: Protest gegen städtischen Kahlschlag
       
       In Hanoi erreicht eine Facebookgruppe, dass 6.700 Stadtbäumen nicht gefällt
       werden. Knapp ein Viertel des Gesamtbestandes wird so gerettet.
       
 (DIR) Essay Chinas Kommunistische Partei: Macht ohne Moral
       
       Die KP Chinas herrscht und herrscht, aber ihre kulturelle Autorität hat sie
       verloren. Heute parken Parteibonzen lieber Billionen in Steueroasen.
       
 (DIR) Kommentar Chinesen in Vietnam: Jenseits der Solidarität
       
       In Vietnam geht der Mob auf Chinesen los. Zur Geltung kommt ein trübes
       Gefühlsgemisch, das sich ins Gewand verletzten Nationalstolzes hüllt.
       
 (DIR) Proteste in Vietnam: Peking verhandelt nicht
       
       Ob der antichinesischen Proteste fliehen Chinesen nach Kambodscha. Die
       Regierungen in Hanoi und Peking schieben sich gegenseitig die Schuld zu.
       
 (DIR) Inselstreit zwischen Vietnam und China: Zu Wasser und auf der Straße
       
       Normalerweise sind Demonstrationen in Vietnam nicht gestattet. Doch wenn
       sich der Protest gegen den Erzfeind China richtet, dann schon.