# taz.de -- Neuer Roman von Joachim Lottmann: Sex wird hier offenbar unterbewertet
       
       > Ein leicht vertrottelter Protagonist schnüffelt durch die verrottete
       > Gegenwart: Joachim Lottmanns kleines, perfides Meisterwerk „Endlich
       > Kokain“.
       
 (IMG) Bild: Die Symbolbild-Redaktion von dpa scheint einiges gewohnt zu sein, uns würde bei solchen Bergen ja die Nase wegfliegen.
       
       Ein bitterkalter Wintertag in Berlin. Ich wartete am Ende einer sehr langen
       Schlange bei Minustemperaturen vor einem Großraumkino, um mir den
       handlungsschlichten Spielfilm „Gravity“ anzusehen. Vor mir zwei
       Jugendliche, einer davon in T-Shirt und Bermudas.
       
       Wie das gehe, in dieser Sommerkluft hier zu stehen?, fragte ich. Das wissen
       die Ärzte auch nicht, antwortete er. Er war höchstens fünfzehn und hatte
       eine irgendwie deregulierte Körpertemperaturregulierung, die ihn nie
       frieren ließ. Joachim Lottmanns neues Alter Ego Stephan Braum, ermüdeter
       TV-Dokufilmer, geschieden, schwach, friert wahrscheinlich auch selten, weil
       er nämlich an Übergewicht leidet. Um diesem Leiden zu begegnen, beginnt er
       eine „Kokain-Therapie“.
       
       Er verschafft sich Zugang zur Kunst- und Schnubbelszene Wiens und landet
       mit seiner durchgeknallten, weitaus jüngeren Affäre Doreen in exakt so
       einem Großraumkino: „Und so stand ich da und wunderte mich. Warum zogen
       sich die Menschen so schlecht und achtlos an? […] Waren wir wirklich noch
       eine Kulturnation?
       
       Ich sah nur fette Buben in Dreiviertelhosen und mit Badelatschen, die
       älteren mit Topfschnitt und Rundum-Bartwuchs, dickbeinige Mädels in
       Strumpfhosen ohne etwas davor, kein einziges trug noch einen Rock oder ein
       Kleid, alle quälten sich durch die Halle wie im Sportunterricht …
       furchtbar. Die sahen alle gleich aus. Denen konnte es unmöglich um Sexiness
       gehen. Offenbar war Sex völlig unterbewertet in der Jugend.“
       
       ## Perfide und treffend
       
       So ist die Welt. Die Wirklichkeit. Und es ist schön, wenn man davon einmal
       in einem deutschsprachigen Roman liest. „Endlich Kokain“ heißt dieses
       kleine Lottmann’sche Meisterwerk, sein wohl bestes, weil auch lustigstes
       Buch seit „Jugend von heute“ (2004), die bestimmt fünf Bücher dazwischen
       kann man getrost vergessen. Und natürlich hätte man ihm auch diesmal mehr
       stilistischen Mut, etwas mehr Ambition gewünscht – aber Lottmann muss halt
       schnell sein, schließlich schreibt er der Gegenwart hinterher.
       
       Wie toll die Figur, der Schriftsteller Joachim Lottmann wirklich ist, wie
       perfide und treffend seine kleinen aufgeschriebenen Gemeinheiten sind,
       konnte man kürzlich in einem schönen Artikel in der SZ nachlesen. Online
       findet man den Artikel nicht, weil die SZ eine eigene Online-Politik fährt
       und zwecks Online-Leser-Vergrämung auch einen hässlichen Webauftritt
       verfolgt.
       
       Natürlich hat Lottmann, der diesmal immerhin zwei Ebenen in den Roman
       eingezogen hat, eine Binnen- und eine Außenperspektive, auch seine
       Verächter. Einfach macht es der Gute einem ja eh nicht. Verwandte kennt er
       keine, selbst der eigene Bruder bekommt regelmäßig sein Fett weg, seine
       Reputation scheint ihm völlig egal zu sein. Lottmann ist und bleibt
       embedded, nicht als Journalist, sondern als Schriftsteller. Wenn man
       unbedingt möchte, kann man das Borderline-Literatur nennen. Muss man aber
       nicht.
       
       Die Grundidee ist natürlich albern: Man muss nur eine Koks-Diät machen,
       schon wird alles gut. Da Kokain appetitzügelnd ist und den Rededrang
       freisetzt, verschafft es Selbstbewusstsein und Attraktivität. Die
       offensichtlichen Nachteile nehmen wir mit – jeder Spaß hat seine
       Schattenseite. Ort der Handlung ist Wien.
       
       Lottmann schickt also seinen leicht vertrottelten Protagonisten in die
       dortige Kunst- und Schriftstellerszene, es gibt die üblichen Gastauftritte,
       dazu viele verschlüsselte Namen, auch österreichische Politiker (wie der
       junge Star-Außenminister Kurz) treten auf, und das Beste daran ist, dass
       man dabei gar nicht so genau wissen muss, wer jetzt wer ist. Denn lustig
       und entlarvend ist das Buch auch so.
       
       15 Jun 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Rene Hamann
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Roman
 (DIR) Kokain
 (DIR) Wien
 (DIR) Literatur
 (DIR) Körper
 (DIR) Ecstasy
 (DIR) Roman
 (DIR) Berlin
 (DIR) Bergsteigen
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Romanprojekt von Karl Ove Knausgard: Eines Menschen Herz
       
       Die Biografie, die einen gerade voll drauf sein lässt: Überlegungen einer
       Leserin, die an Karl Ove Knausgard verloren ging.
       
 (DIR) Daniel Pennacs neuer Roman: An der Grenze von Körper und Geist
       
       Erst der Bizeps, dann die Wölbung der Hose und zuletzt Haarwuchs und Zähne:
       In „Der Körper meines Lebens“ führt ein Mann ein Körper-Tagebuch.
       
 (DIR) Zum Tode des Ecstasy-Erfinders: Friede, Freude, Heiterkeit
       
       Der Chemiker Alexander Shulgin ist im Alter von 89 Jahren gestorben. Er
       galt als „Pate des Ecstasy“, der Droge des Neoliberalismus.
       
 (DIR) Romandebüt von Heinz Helle: Schnörkellose Gefühlsvorgänge
       
       Wie ein Mann aufhört, seine Freundin zu lieben: Heinz Helles
       Entwöhnungsroman „Der beruhigende Klang von explodierendem Kerosin“.
       
 (DIR) Neue Rolle für ein Partygirl: Was ist mit Ariane Sommer los?
       
       Bekannt wurde sie mit einem Bad in Mousse au Chocolat. Dann wurde sie zum
       It-Girl. Und jetzt? Kämpft sie für den veganen Lebensstil.
       
 (DIR) Bergsteigerroman von Thomas Glavinic: Sinnsucher und Egomane
       
       Thomas Glavinic bezwingt in „Das größere Wunder“ den höchsten Berg der
       Erde, bleibt dabei aber an den Klippen der Dialogführung hängen.