# taz.de -- Bergsteigerroman von Thomas Glavinic: Sinnsucher und Egomane
       
       > Thomas Glavinic bezwingt in „Das größere Wunder“ den höchsten Berg der
       > Erde, bleibt dabei aber an den Klippen der Dialogführung hängen.
       
 (IMG) Bild: Der höchste Berg der Erde, der Mount Everest, hier von China (Tibet) aus gesehen.
       
       Die Idee war gar nicht schlecht. Die Idee nämlich, einen Bergroman neuer
       Prägung zu schreiben und damit so etwas wie der Dr. Arnold Fanck
       (legendärer Bergfilmer der Weimarer Republik, besungen von der Band F.S.K.)
       des zeitgenössischen Romans zu werden. Die Stelle ist schließlich noch
       frei.
       
       Die andere Idee war im Grunde auch nicht übel: Die Bergepisoden im Roman,
       die sich um den Aufstieg zum höchsten Berg der Erde drehen – ein naturgemäß
       äußerst langsames Erzählen, in dem es viel um Körperlichkeiten geht, um
       physische Zusammenbrüche, Atemnot, Erfrierungen, permanentes Übelsein, auch
       um Tote – mit einer lang angelegten, biografischen Erzählung natürlich
       eines der Bergsteiger zu kombinieren.
       
       Diese Ideen hatte Thomas Glavinic, österreichischer Schriftsteller, mit
       diesem Buch zum dritten Mal auf der Longlist des Deutschen Buchpreises
       gewesen, aber erneut nicht auf der Shortlist, ferner Freund und Konkurrent
       von Daniel Kehlmann. Das Buch heißt „Das größere Wunder“. Es ist 523
       Seiten, tja, stark. Es präsentiert die beiden Stränge in abwechselnder
       Reihenfolge, bevor sie dann zusammenwachsen.
       
       Der Protagonist und Bergsteiger trägt den Namen Jonas und ist schon aus
       zwei anderen Glavinic-Romanen bekannt. Glavinic, Jahrgang 1972, ist nämlich
       ein Vielschreiber. Und hat mit diesem Buch bereits das Maximale erreicht:
       Platz 1 der Bestsellerliste. Wenn auch „nur“ in Österreich.
       
       Bei der Kritik indes kam er diesmal nicht so weit. Zunächst musste er eine
       vernichtende Rezension in der FAZ einstecken. Es folgte eine Hymne im
       Spiegel, die eher gegen das Buch sprach, und einige weitere, harmlosere
       Verrisse.
       
       Aber vielleicht liegt hier nur ein Missverständnis vor, denn die beiden
       Ideen sind ja wie gesagt nicht per se schlecht. Darüber hinaus lässt sich
       Glavinics Stil im besten Sinn als konventionell bezeichnen: Formale
       Experimente interessieren den Autor nicht. Auch sprachliche Eskapaden oder
       sonstwie avantgardistische Zugänge auf Wirklichkeit sind nicht seine Sache:
       Wichtig ist, dass erzählt wird, schon unwichtiger, was; und damit sich das
       Buch irgendwie vom Ramschtisch abhebt, kommt es halt diesmal mit allerlei
       Lebensweisheiten um die Ecke.
       
       ## Übertriebene Exkurse
       
       Gerade im biografischen Teil des Romans bietet sich dazu reichlich
       Gelegenheit. Hier verfolgen wir den Werdegang des Jonas von der Pike auf:
       Problemfamilie, saufende Mutter, abwesender Vater, behinderter
       Zwillingsbruder. Dann gelingt die Flucht unter die Fittiche eines Paten.
       Mit dessen Enkelsohn Werner teilt er sich die Kindheit und später auch die
       erste Freundin.
       
       Es gibt allerlei Seltsamkeiten, übertriebene Exkurse in den
       Kindheitsabenteuerroman, viel Reisen, wenig bis keine Psychologie, dafür
       das Ausbuchstabieren kindlicher Allmachtsfantasien: Nicht nur, dass Jonas
       und Werner telepathische Fähigkeiten haben, nein, Jonas versteht auch
       Fremdsprachen, ohne sie erst lernen zu müssen.
       
       Die Passagen, die in der Pubertät der beiden spielen, sind zugleich die
       stärksten wie auch die schwächsten: Die Gefühlslagen sind sehr gut
       getroffen. Die Dialoge aber kranken an ihrer Künstlichkeit und daran, dass
       die Kinder hier grundweg erwachsener daherkommen, als sie sein können.
       
       ## Umständliche Genauigkeit
       
       Beispiel: Auftritt Vera, der ersten Freundin der beiden. „’Wie alt seid ihr
       drei denn?‘ ’Bald sechzehn. Und du?‘ ’Bald siebzehn. In welche Schule geht
       ihr?‘ ’In keine‘, sagte Werner. ’Ihr arbeitet doch noch nicht!‘ ’Nein, so
       war das nicht gemeint. Wir gehen nicht zur Schule, die Schule kommt zu
       uns.‘ ’Kapier ich nicht. Kriegt ihr Privatunterricht oder was?‘ ’So
       ungefähr.‘ Irritiert blickte sie vom einen zum anderen. Gerade als Jonas zu
       einer Erklärung ansetzte, lachte sie auf. ’Ihr wohnt doch nicht etwa da
       oben in diesem Riesenkasten?‘ ’Doch, warum?‘ ’Das ist sehr komisch! Ich
       hätte euch gleich erkennen müssen.‘ ’Jetzt beruhig dich mal und erklär uns,
       wieso du lachst!‘“ (Seite 121) Usw. Um das Mindeste zu sagen: In seiner
       Genauigkeit ist das sehr umständlich. Und so geht es sehr oft zu in diesem
       Buch.
       
       Dafür wird kaum ein Drama ausgelassen. Der behinderte Bruder stirbt nach
       einem Angriff des Postboten; der Postbote stirbt auf „Befehl“ des Sohnes
       dann ebenfalls. Jonas verkrümelt sich für Tage nach Kiel, während Vera in
       Südfrankreich auf ihn wartet. Ziehvater Picco hat Krebs, Werner stirbt
       irgendwann auch, dann taucht allmählich eine überirdische Frau namens Marie
       auf – eine berühmte Musikerin, wobei sich Jonas „gar nicht“ für diesen Ruhm
       interessiert. Psychologisch stimmt das: Jonas ist nicht nur ein Sinnsucher,
       der die Welt mit Paulo-Coelho-Romanen verwechselt, die hier zum Vergleich
       leider herangezogen werden müssen. Nein, er ist darüber hinaus ein großer
       Egomane. Ein ewiges Kind. Was manchen, besonders der Figur selbst, und
       seinem Autor wohl auch, vor lauter Sinnsuche und Abenteuerlust am Rande der
       Lebensmüdigkeit gar nicht aufzufallen scheint.
       
       Insofern kann man schnell sehr genervt sein von dem Buch – andererseits
       lässt es sich auch schnell lesen. Und manche Passage ist gelungen
       (besonders die Krankenhauspassage). Andere hingegen sind zäh.
       
       Am Ende bleiben ein oder zwei Dinge zu vermuten: Thomas Glavinic möchte gar
       kein anderer Autor sein. Er möchte nichts anderes sein als ein
       Vielschreiber, der okaye Abenteuer- und Unterhaltungsromane verfasst. Mit
       Helmut Krausser hält er in Sachen Quantität und Qualität locker mit, bis zu
       Stephen King ist es noch ein weiter Weg, den Mont Coelho hat er hiermit
       mühelos erklommen.
       
       5 Jan 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Rene Hamann
       
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