# taz.de -- Filmfestival in Bologna: Ein fast außerweltliches Licht
       
       > Das Festival „Il Cinema Ritrovato“ im italienischen Bologna stellt sich
       > gegen die Digitalisierung. Es zeigt viele Filme in der analogen
       > 35-mm-Kopie.
       
 (IMG) Bild: Titelheldin „Chandralekha“ wird in den Machtkampf zweier Prinzen verwickelt.
       
       Strömender Regen, fauchender Sturm. Eine Lokomotive donnert mit Volldampf
       auf eine einsturzgefährdete Brücke zu. Um diese zu stabilisieren,
       angeblich. Aber Jack (Regis Toomey), der im Führerhaus sitzt, weiß selbst,
       dass das keine besonders gute (Drehbuch-)Idee sein dürfte. Und ist nur umso
       wilder entschlossen, in den Sturm hinaus zu flüchten; nach einem Streit mit
       einem Nebenbuhler hat er sein Augenlicht verloren, möchte zukünftig seiner
       Frau nicht zur Last fallen und gleichzeitig den Weg für deren neue Liebe
       freigeben.
       
       Die Szene ist der Höhepunkt von „Other Men’s Women“, einem eigenwilligen,
       faszinierenden working-class-Melodram von William A. Wellman, dem das
       filmhistorische Festival „Il Cinema Ritrovato“ dieses Jahr eine
       Retrospektive widmete.
       
       Als „Other Men’s Women“ in Bologna im Kino Jolly vorgeführt wurde, erhielt
       die finale Eisenbahnsequenz dramaturgische Unterstützung von überraschender
       Seite: Kurz bevor der Zug die Brücke erreichte, stockte der Filmprojektor,
       das gerade noch bewegte Bild fror ein – und gleich darauf ging Jack mitsamt
       der Lokomotive in Flammen auf.
       
       ## 24 Einzelbilder pro Sekunde
       
       Der Grund dafür: Analoges, zelluloidbasiertes Kino kann nur in permanenter
       Bewegung existieren. Wenn der Filmstreifen sich nicht mehr – mit der
       Geschwindigkeit von 24 Einzelbildern pro Sekunde – durch den Projektor
       bewegt, überhitzt dessen Lampe das Zelluloidmaterial und vernichtet das
       aktuell beleuchtete Bild im Handumdrehen.
       
       Die Projektion von Wellmans Film konnte zwar schon wenige Sekunden später
       fortgesetzt werden, Jack durfte weiter der Dunkelheit entgegenrasen;
       dennoch brachte gerade dieser Moment des radikalen Bruchs des
       Bilderflusses, diese spontane Selbstvernichtung kinematografischer
       Raumzeit, auf den Punkt, warum das „Cinema Ritrovato“ vor allem in der
       letzten Zeit zu einem, wenn nicht zu dem zentralen europäischen
       Filmfestival geworden ist: Hier kann man noch, Jahr für Jahr aufs Neue,
       jene radikale Sterblichkeit nachvollziehen, die dem Kino eignete, solange
       es von jeweils singulären Trägermedien abhängig war: Jede Filmkopie hat ein
       eigenes Leben, jede stirbt, wenn sie nur lange genug, Wellmans
       Selbstmordzug gleich, durch die Projektoren gerattert ist, ihren eigenen
       Tod.
       
       Eben dieses Bewusstsein für die eigene Zeit- und Geschichtlichkeit droht
       dem Kino in seinem Normalbetrieb, aber eben auch auf fast allen anderen
       Festivals, abhanden zu kommen, seitdem der Betrieb auf (zumindest
       theoretisch) beliebig manipulier- und vervielfältigbare Digitalmedien
       umgestellt wurde. Cannes zum Beispiel hatte dieses Jahr fast schon stolz
       verkündet, auch in den Retrospektiven kein analoges Material mehr
       vorzuführen.
       
       ## Wer einmal kommt, kommt immer wieder
       
       Das „Cinema Ritrovato“ wurde 1986 gegründet und war zunächst eine
       überschaubare Angelegenheit, die in einem Kino an drei Tagen über die Bühne
       ging. Diese Zeiten sind längst vorbei, heute beherbergt Bologna ein
       einwöchiges Eventfestival, das jedes Jahr weiter zu expandieren scheint,
       das sein zunehmend unübersichtlicher werdendes Programm in stets neue
       Nebenreihen ausdifferenziert. Was auch mit dem wachsenden Zuschauerzuspruch
       zu tun haben wird: Es reisen mehr und mehr Besucher an, aus aller Welt. Und
       vor allem: Wer einmal kommt, kommt immer wieder.
       
       Es gibt natürlich viele Gründe, die einen dazu bewegen können, im Sommer
       eine Woche im schönen, entspannten und dieses Jahr nicht einmal besonders
       überhitzten Bologna zu verbringen – längst nicht alle haben etwas mit Kino
       zu tun. Die besondere Faszination des „Ritrovato“ hat aber mindestens auch
       damit zu tun, dass hier immer noch in der Mehrzahl der Vorführungen 35
       Millimeter breite Filmstreifen in die jeweiligen Projektoren eingespannt
       werden.
       
       Für einige dieser Filmstreifen, das verstärkt den Eindruck von
       Dringlichkeit, dürfte der Einsatz in Bologna die letzte Projektion
       überhaupt gewesen sein. Ganz besonders gilt das für die – hier und da schon
       etwas zerkratzten, insgesamt aber noch wunderschön leuchtenden –
       Filmkopien, die in der Sektion „Endangered Indian Classics“ vorgeführt
       wurden: Acht indische Filme aus den 1950er Jahren, aus einem Jahrzehnt, das
       als „goldene Epoche“ einer der bis heute weltweit wichtigsten
       Filmindustrien gilt.
       
       ## Filme in den letzten verfügbaren Kopien
       
       Wie die Überschrift der Reihe nahe legt, steht es nicht gut um die
       Überlieferung dieses Kinos. Zum Teil wurden die Filme in den letzten
       verfügbaren Kopien nach Italien versandt, auch in der Hoffnung, dass die
       internationale Aufmerksamkeit nachhaltige Sicherungen und Restaurierungen
       dieser Klassiker ermöglichen wird.
       
       Wiederzuentdecken (und zu bewahren) sind eindrückliche Zeugnisse nicht nur
       einer künstlerisch ungemein ambitionierten Kinematografie, sondern auch
       einer noch jungen Nation: Ende der 1940er erkämpfte sich Indien die
       Unabhängigkeit, in der Folge mischte das Kino – seiner prinzipiell strikt
       kommerziellen Orientierung zum Trotz – beim nation building mit.
       
       Besonders deutlich wird das in „Mother India“ von Mehboob Khan: Ein knapp
       dreistündiges Epos ist das, in dem zunächst die leidende, alleinstehende
       Mutter des Titels zu einer wandelnden nationalen Allegorie mutiert, wenn
       sie von erbarmungslosen Geldeintreibern, die unschwer als Widergänger der
       britischen Kolonisatoren erkennbar sind, geknechtet – und um ein Haar
       vergewaltigt – wird; und die ihren Kampf schließlich an ihre beiden
       ungleichen Söhne vererbt, die ihn aber höchstens so halb annehmen.
       
       ## Ekstatische Gesangsnummern
       
       Weil Bollywood bei aller politischen Ambition sowieso Bollywood bleibt,
       bricht der zunächst didaktische Aufbau des Films bei jeder Gelegenheit
       zugunsten ekstatischer Gesangsnummern auf – der widerspenstige Sohn Birju
       wiederum nutzt seine überschüssige Energie mit Vorliebe dazu, mit seiner
       Steinschleuder die Tonkrüge kichernder Dorfmädchen zu Bruch gehen zu
       lassen.
       
       Überhaupt: Dorfmädchen. Zumindest, wenn man von der in Bologna
       präsentierten Filmauswahl ausgeht, scheint wenig das Indien der 1950er
       Jahre so sehr bewegt zu haben, wie das Schicksal (beziehungsweise das
       Geheimnis) junger Frauen vom Land.
       
       Gleich zweimal leihen fiktive Dorfmädchen den Filmen ihren Namen: Die
       Titelheldin des schon 1948 produzierten „Chandralekha“ wird in den
       verzwickten Machtkampf zweier Prinzen verwickelt, die Hauptfigur aus Bimal
       Roys „Madhumati“ überlebt sogar ihren eigenen Tod – und treibt gegen Ende
       dieses ausgezeichneten, souverän zwischen diversen Tonarten, Stilelementen
       und Realitätsebenen hin und her wechselnden Liebesfilms als hochromantische
       Geistererscheinung ihr Unwesen.
       
       ## Mädchen vom Land
       
       Das eindrücklichste Mädchen vom Land (in diesem Fall vielleicht eher, was
       aufs Gleiche hinausläuft: ein Mädchen „from the other side of town“) taucht
       in Guru Dutts wunderschönem, zu Tränen rührenden Meta-Film „Kaagaz Ke
       Phool“ auf: Die junge Shanti wird da, fast ohne ihr Zutun, zum Filmstar:
       Sie stolpert auf ein Filmset, direkt auf ein von Anfang an bedrohlich
       wirkendes Kameraauge zu.
       
       Suresh Sinha, ein von Dutt selbst verkörperter Regisseur, „entdeckt“ Shanti
       daraufhin im Schnittraum – also: auf einem Filmstreifen – und macht sie
       anschließend nicht nur zur allseits umjubelten Darstellerin, sondern
       verliebt sich außerdem unsterblich in sie. Leider ist er schon verheiratet.
       Was wie eine Bollywoodvariation auf „A Star Is Born“ beginnt, verwandelt
       sich, illuminiert von einer fast außerweltlich anmutenden Lichtsetzung, in
       eine tieftraurige Reflexion über die Unvereinbarkeit der Illusionsmaschine
       Kino mit dem desillusionierenden, immer schon desillusionierten Leben.
       
       ## Zu visionär
       
       Shanti und Suresh driften auseinander, sie zieht sich aus dem Rampenlicht
       zurück und beginnt, in der schönsten Sequenz des Films, wenn nicht des
       Festivals, auf dem Land als Dorflehrerin zu arbeiten, er verfällt dem
       Alkohol und bekommt in der Filmindustrie bald keinen Fuß mehr auf den
       Boden.
       
       In dieser Hinsicht entpuppte sich der autobiografisch inspirierte Film als
       nur zu visionär: Auch Dutt konnte nach dem 1959 an den Kinokassen
       gescheiterten „Kaagaz Ke Phool“ keinen weiteren Film als Regisseur mehr
       realisieren und starb fünf Jahre später, mit nur 39 Jahren. Immerhin lebt
       sein Meisterwerk in einer einzigen, umwerfenden Cinemascope-Kopie weiter.
       Noch.
       
       8 Jul 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Lukas Foerster
       
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