# taz.de -- Filmfestival in Bologna: Botschaften, die hart treffen
       
       > Das Festival Il Cinema Ritrovato rückt den Regisseur John M. Stahl ins
       > Zentrum: Seine Filme über Rassismus und Männlichkeit wirken erschütternd.
       
 (IMG) Bild: Louise Beavers in „Imitation of Life“
       
       Sie habe sich auch schon oft gefragt, warum das Leben für Schwarze in den
       USA so schwer ist, sagt Delilah Johnson (Louise Beavers), aber: „Ich weiß
       auch nicht, woran das liegt“. Und weil sie in diesem Moment – im Erzählkino
       eine Seltenheit – frontal in die Kamera blickt, gibt sie die Frage an die
       Zuschauer weiter. Das ist ein Schlüsselmoment in „Imitation of Life“, einem
       antirassistischen Melodrama von John M. Stahl aus dem Jahr 1934. Er macht
       deutlich, dass es in dem Film, genau wie in Stahls anderen Werken, nicht um
       tränenselige, sentimentale Weltflucht geht, sondern um direkte,
       unmittelbare Erschütterungen – die sich auch viele Jahrzehnte später noch
       nachfühlen lassen, zum Beispiel auf dem Festival Il Cinema Ritrovato,
       dessen 32. Ausgabe letzte Woche in Bologna stattfand.
       
       Il Cinema Ritrovato – das wiedergefundene Kino. Der Name des Festivals
       bezieht sich zunächst auf die gezeigten Filme. Keine Neuheiten werden in
       Bologna präsentiert, sondern Wiederaufführungen historischer Filme,
       insbesondere aus den 1910er bis 1960er Jahren. Man kann ihn aber auch
       anders, wörtlich lesen: Das Ritrovato zelebriert, vielleicht vor allem
       anderen, die kontinuierliche Wiederentdeckung des Kinos als eines
       einzigartigen, sozialen Erfahrungsraums.
       
       „Imitation of Life“ ist dafür nur ein Beispiel, allerdings ein besonders
       eindrückliches. Delilahs Blick in die Kamera funktioniert nur, weil ihr
       Gegenüber kein vereinzeltes Individuum ist, sondern die Gemeinschaft der
       Kinozuschauer, eine Gruppe von Menschen, die sich gemeinsam angesprochen
       und vielleicht auch gemeinsam ertappt fühlen. Was nicht zuletzt daran
       liegt, dass das Publikum von „Imitation of Life“ zu weiten Teilen ein
       weißes sein dürfte – 1934 in den USA genauso wie 2018 in Bologna.
       
       Delilah dagegen ist eine schwarze Frau. Und sie verzweifelt in Stahls Film
       vor allem an ihrer hellhäutige Tochter, die ihre Mutter verleugnet und
       versucht, als Weiße zu leben. Heute würde eine solche Geschichte, falls sie
       denn überhaupt noch erzählt werden könnte, unweigerlich auf eine
       Emanzipationserzählung hinauslaufen – selbst die deutlich bekanntere,
       zweite Verfilmung des Stoffs aus dem Jahr 1959 (inszeniert von Douglas
       Sirk) bewegt sich bereits vorsichtig in diese Richtung, indem sie den
       Schwerpunkt der Erzählung auf die Tochter verschiebt.
       
       ## Filme treffen hinterrücks und hart
       
       Stahl dagegen konzentriert sich auf die Mutter, auf die absolute
       Hilflosigkeit einer Frau, die sich irgendwann nicht mehr anders zu helfen
       weiß, als ihr Leid auf uns, auf die weiße Mehrheitsgesellschaft im Kino, zu
       übertragen. In Momenten wie diesen zeigt sich: Gerade weil die Filme in
       Bologna aus der Vergangenheit kommen und nicht passgenau auf unsere
       Gegenwart zugeschnitten sind, können sie uns ganz besonders hart, weil
       überraschend und hinterrücks, treffen.
       
       Die Filme Stahls, dem auf dem diesjährigen Festival eine spektakuläre
       Retrospektive gewidmet war, sind auch ansonsten geeignet, den Blick auf die
       Filmgeschichte neu zu justieren. Fast ebenso erstaunlich wie „Imitation of
       Life“ ist zum Beispiel „Immortal Sergeant“: ein 1943 entstandener
       Kriegsfilm, der vorderhand den Durchhaltewillen US-amerikanischer Soldaten
       im Kampf gegen die Nazis feiert (beziehungsweise einfordert); von dem aber
       in erster Linie ebenfalls Momente der Hilflosigkeit und Passivität im
       Gedächtnis bleiben.
       
       Die von Henry Fonda gespielte Hauptfigur ist durchaus auch ein Kriegsheld,
       aber in erster Linie ein empfindsames, nicht zuletzt in seiner Männlichkeit
       fragiles Individuum, das noch im Moment des Triumphs von Selbstzweifeln
       heimgesucht wird. Letztlich schöpft der unsterbliche Sergeant seine Kraft
       nicht aus sich selbst, sondern aus Erinnerungsstimmen, die von außen an ihn
       herantreten. Heroismus als Psychose.
       
       Der ebenfalls 1943 gedrehte Film „Holy Matrimony“ wiederum kommt als
       liebenswürdiges, leicht verschrobenes Lustspiel daher – ist aber vielleicht
       sogar noch radikaler, da Stahl hier nicht nur Konzepte von Handlungsmacht,
       sondern gleich den Wert von Identität an sich in Frage stellt. Im Zentrum
       steht der gefeierte, aber öffentlichkeitsscheue Kunstmaler Priam Farll
       (Monty Wooley), der nach dem Tod seines Hausdieners Henry Leek dessen Namen
       übernimmt, um hinfort ein Leben im Frieden der Anonymität führen zu können.
       
       Erwartungsgemäß entspinnt sich im Folgenden eine Verwechslungskomödie, die
       allerdings eine überraschende Wendung nimmt, als die Hauptfigur heiratet:
       Ausgerechnet die von Gracie Fields verkörperte Ehefrau interessiert sich
       von allen Beteiligten am allerwenigsten dafür, ob es sich bei ihrem Gatten
       nun um Priam Farll oder um Henry Leek handelt. Genauer gesagt, ist das für
       sie höchstens ein Problem der Inneneinrichtung: Sie möchte einfach nur
       einen Mann, der es genießt, gemeinsam mit ihr abends vor dem Kaminfeuer zu
       sitzen.
       
       Der Name des Mannes ist dabei genauso wichtig oder unwichtig wie die Farbe
       des Sessels.
       
       4 Jul 2018
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Lukas Foerster
       
       ## TAGS
       
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 (DIR) Männlichkeit
 (DIR) Identität
 (DIR) Filmgeschichte
       
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