# taz.de -- 50. Deutscher Historikertag: Besprecht das Unsagbare
       
       > Auf ihrem Kongress nehmen sich die Historiker erstmals der Geschichte des
       > Homosexuellen an – und bleiben dabei hinter den Möglichkeiten zurück.
       
 (IMG) Bild: Wollte einige Sachen wohl lieber nicht sagen: Joachim Gauck.
       
       Seltsam, dass Kritik am Bundespräsidenten so oft in ästhetischer Hinsicht
       geübt wird. Dass er etwa, wie Dienstag zur Eröffnung des 50. Historikertags
       in Göttingen, allzu pastoral gesprochen habe. Kommt wohl auf die Hörweise
       an: Tatsächlich kann er reden, muss es auch, entscheiden hingegen kann er
       nichts. Gauck also verlor auch einige Worte über die Freiheit als
       Kernbedingung einer guten Gesellschaft in der Göttinger Lokhalle.
       
       Aber kein kritisches Wort fand sich hernach darüber, dass in dem, was er
       den HistorikerInnen zu sagen hatte, doch einiges fehlte. „Alles, was wir so
       sehr genießen, Frieden, Freiheit, Wohlstand – was Menschen in vielen Teilen
       der Welt bitter fehlt – ist das mühsam genug erreichte Werk von Menschen“,
       sprach Gauck. Und, so lautete seine Botschaft: „Die Zukunft kommt nicht von
       selbst.“
       
       Davon abgesehen, dass dies das Selbstverständliche meinte, konnten seine
       Worte natürlich auch wie ein Appell an die Historiker verstanden werden,
       sich in Forschung und Lehre für ein Gutes einzusetzen – das aber hätte die
       bis weit in die sechziger Jahre hinein national, gesinnungsethisch
       orientierte Historiografie gern gehört: Geschichtswissenschaft als
       Begleitmusik, als Begründungsberatung zum politisch Gegebenen. Heute ist
       das nicht mehr möglich: Historiker müssen darauf bestehen, den Quellen das
       Sachliche zu entnehmen, unabhängig davon, wem es nützt.
       
       Denn was vermisst werden musste, war ja, dass Gauck den Begriff der
       Freiheit – zumal beim Motto des Historikertags, „Sieger und Verlierer“ –
       nicht besonders bunt auspinselte. Die Bundesrepublik ist nicht allein
       deshalb ein besseres Deutschland als alle zuvor, weil sie – bei allen
       Gerechtigkeitswünschen – keinen Krieg anzettelte, sondern weil das Land so
       plural, so vielschichtig, so divers ist wie niemals zuvor.
       
       ## Ein bunteres Land
       
       Sogar im Programm des Historikertags spiegelt sich das inzwischen:
       Sektionen zur Migrationsgeschichte in Deutschland, zur
       Geschlechtergeschichte etwa oder zum durch die Historikerin Ute Frevert am
       Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin angesiedelten
       Schwerpunkt Emotionsgeschichte: Das Gewöhnliche, wenn man so will, im Leben
       aller Teile der Gesellschaft kommt zum Vorschein, und dieses könnte sogar
       noch ausgebaut werden.
       
       Erstmals gab es eine eigene Sektion zu Schwulen und (nur von Maria Borowski
       aus Berlin repräsentiert) Lesben: „Von Verlierern der Moderne zu Gewinnern
       der Post-Moderne?“ lautete die Fragestellung. Rüdiger Lautmann, einst
       Professor an der Universität Bremen und seit Mitte der siebziger Jahre
       versuchend, als Soziologe Homosexualitäten in die historischen Fachdiskurse
       zu bringen, war leider verhindert. Aber immerhin hat sich das Münchener
       Institut für Zeitgeschichte durch Michael Schwartz des Themas angenommen.
       
       Tatsächlich ist ja der Diskurs zum Thema – darauf verwies der
       Geschichtsdidaktiker Martin Lücke von der Freien Universität Berlin – ein
       überwiegend heterosexueller im 20. Jahrhundert geblieben. Lücke bürstete
       die übliche Annahme, die Weimarer Republik habe Homosexuellen jede Menge
       Freiheiten geschaffen, kräftig gegen den Strich.
       
       In Wahrheit sei auch die Zeit zwischen Erstem Weltkrieg und völkischer
       Selbstermächtigung eine gesetzlich und atmosphärisch unumstritten homophobe
       gewesen. Norman Domeier von der Universität Stuttgart beleuchtete die
       Harden-Eulenburg-Affäre Anfang des 20. Jahrhunderts, als alle bürgerliche
       Welt in Deutschland plötzlich glaubte, der Kaiser sei umstellt von einer
       homosexuellen Seilschaft: Es sei auch der quasioffizielle Auftakt
       homophober Diskurse gewesen.
       
       ## Schwules blieb geächtet
       
       Michael Schwartz selbst beleuchtete das Ende der sechziger Jahre, als die
       Nazifassung des Paragrafen 175 (komplettes Verbot von Homosexualität,
       Pönalisierung schon bei Verdacht durch Blicke etc.) endlich fiel: Auch die
       Aufhebung der Strafverfolgung bei erwachsenen Männern (Lesben waren nicht
       gesetzlich verfolgt) sei nicht aus dem politischen Begehr der
       Entnazifizierung beschlossen worden, sondern weil das Verbot nicht mehr
       nötig war: Klimatisch geächtet blieb Schwules (und Lesbisches) ohnehin.
       
       Maria Borowski beleuchtete die Entwicklung des Lesbischen und Schwulen in
       der DDR nach 1949: Die Arbeiter-und-Bauern-Republik war auch kein queeres
       Paradies, aber wenigstens gab es, anders als in der BRD, so gut wie keine
       ausgrenzende Hetze gegen Homosexuelle. Rainer Nicolaysen von der
       Universität Hamburg erörterte ein vergangenheitspolitisches Problem, das er
       am Beispiel von Depromotionen, also dem Entzug von Doktorgraden,
       illustrierte. In der NS-Zeit wurde den nach Paragraf 175 Verurteilten auch
       der Doktortitel entzogen: Sie seien des Titels „unwürdig“, hieß es damals,
       weil ein deutscher Doktor nicht homosexuell sein dürfe.
       
       Die Pointe ist freilich, dass diese Entwürdigten im Zuge der späten
       Rehabilitierung seit den neunziger Jahren – anders als die „rassisch und
       politisch Verfolgten“ – nicht berücksichtigt wurden. Womöglich seien sie ja
       wirklich als Homosexuelle kriminell gewesen. Eine Haltung, die auch im
       liberalen, sozialdemokratischen und linken Milieu gepflegt wurde.
       Nicolaysen schlug vor, endlich auch allen nach Paragraf 175 Verurteilten
       ihren Doktortitel wieder zurückzugeben – auch wenn dies heute nur noch ein
       symbolischer Akt sein kann. Es gibt, so ließe sich die Sektion bündeln, auf
       diesem Feld noch reichlich Forschung zu betreiben und Erkenntnis zu
       gewinnen. Denn die Sache selbst, das Sexuelle, findet ja in keinem anderen
       Bereich Beachtung.
       
       ## Missachtung des Sexuellen
       
       Die Kategorie des Sexuellen spielt in der Fragematrix – sei es zur
       europäischen Geschichte, im aktuellen Konflikt um Russland oder eben zur
       NS- und frühen Bundesrepublik- und DDR-Geschichte – überhaupt keine Rolle.
       Sie ist wohl immer noch allzu schmutzig, allein schon wegen der Quellen,
       die zu bergen wären. Andererseits: Spielt das Sexuelle nicht in allen
       Kontexten wenigstens subtil eine stiftende oder giftende, jedenfalls
       tragende Rolle?
       
       Nun ließe sich, wir sind ja beim Historikertag, sagen: Was soll die
       breitwandige Erwähnung eines Homoaspekts? War nicht sprechend genug, dass
       das Interesse an dieser Sektion nicht unerfreulich war, aber doch begrenzt
       blieb? Gäbe es nicht viel zu erzählen von den Heroen, den Großhistorikern,
       von großen Erzählentwürfen für alle Menschen, nicht nur von solchen, die
       explizit nicht heterosexuelle Menschen betreffen? Müsste man nicht doch
       darauf hinweisen: alles Krümel, oder was?
       
       Ja, so lässt sich das wohl empfinden. Womit man wieder beim
       Bundespräsidenten Gauck wäre und seinem Talent, deutlich zu sprechen.
       Weshalb hat er in seiner Ansprache, es ging ja um Freiheit, nicht zum
       Beispiel stolz und souverän gegen die vielen Putinversteher gesprochen und
       davon, wie sehr zu einer guten Gesellschaft das Diverse, das Bunte, das
       Andere, ja auch das zunächst Fremde gehört? Das wäre den Völkischen in
       Russland gegenüber doch mal ein Signum gewesen: Seht her – wir definieren
       Freiheit als Möglichkeit zum Eigensinn!
       
       Und was hätte ihn das gekostet, explizit gerade auch die von Schwulen und
       Lesben erkämpften bürgerlichen und atmosphärischen Freiheiten zu benennen?
       Und die Kunst der Integration von Migranten, seien sie muslimisch geprägt
       oder nicht? Und überhaupt: Warum schätzt man offiziös nach wie vor die
       Kämpfe von Minoritäten nicht – und weshalb kommt, wie es im
       schwul-lesbischen Bereich hieß, das Unsagbare (nicht drüber sprechen, es
       muss diskret bleiben) nicht endlich auch in der sogenannte Mitte
       repräsentativ zum Ton und Bekenntnis?
       
       25 Sep 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jan Feddersen
       
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