# taz.de -- Debatte Mauerfall und Migranten: Geteilte Erinnerung
       
       > Ostdeutsche und Migranten haben vieles gemein. Aber Einwanderer und ihre
       > Kinder waren die eigentlichen Wendeverlierer.
       
 (IMG) Bild: Im Osten gipfelte der Hass in Pogromen wie in Rostock. Im Westen richtete er sich insbesondere gegen Türken
       
       BERLIN taz | Es war die Kanzlerin höchstselbst, die kürzlich die
       Erfahrungen von Ostdeutschen mit denen von Einwanderern verglichen hat. Auf
       einer parteiinternen CDU-Tagung zum Thema Zuwanderung empfahl Angela Merkel
       ihren Zuhörern mit Migrationshintergrund, sich von „kleinen Widrigkeiten“
       wie Alltagsrassismus nicht entmutigen zu lassen, und verwies dabei auf
       eigene, einschlägige Erfahrungen. Auch sie sei nach dem Mauerfall als
       „Zonenwachtel“ beschimpft worden und darüber nicht glücklich gewesen.
       
       Aber letztlich habe sie sich nicht unterkriegen lassen und sei ihren Weg
       gegangen. Ja, ja, die westdeutsche Willkommenskultur. Passend dazu wurde
       jüngst die Bemerkung von Helmut Kohl über Merkel publik, diese habe nicht
       mal "richtig mit Messer und Gabel essen" können, als er sie in sein
       Kabinett berief. So abschätzig redeten damals also selbst Konservative über
       jene, die für manche Linke nur "Zonis" waren.
       
       Tatsächlich waren Ostdeutsche und Einwanderer, damals noch gemeinhin als
       „Ausländer“ bezeichnet, nach dem Mauerfall aus westdeutscher Perspektive
       beide gleichermaßen Außenseiter und Underdogs: anders gekleidet, mit
       seltsamen Sitten und Gebräuchen und fremden Dialekten und Akzenten. Aber
       auch kulturell hatten Ostdeutsche mit vielen Einwanderern etwas gemein,
       stammten doch beide aus Gesellschaften, in denen der Gemeinschaftssinn groß
       geschrieben wurde.
       
       Das zeigte sich schon im Alltagsverhalten: Weil es in der DDR wenig
       Telefone und kaum öffentliche Lokalitäten gab, war es im Osten Deutschlands
       üblich, dass man bei Freunden einfach vorbei ging und sich in deren Wohnung
       traf. Solch enge Nachbarschaftlichkeit war auch bei vielen Migranten zu
       jener Zeit noch sehr ausgeprägt. Sie unterschieden sich darin von den meist
       distanzierten Westdeutschen, die sich schon damals lieber in Cafés oder
       Restaurants als bei sich zu Hause verabredeten.
       
       ## Ein radikalen Einschnitt
       
       Und nicht nur viele Ostdeutsche sagten ihren westlichen Mitbürgern nach der
       Wende Egoismus und Ellenbogen-Mentalität sowie Arroganz und Überheblichkeit
       nach. Auch viele Einwanderer beklagten die „Kälte“ der westlichen
       Konsumgesellschaft und attestierten ihren Herkunftsmilieus im Vergleich
       dazu eine größere „Wärme“.
       
       Wie stark die Wende das Leben der Ostdeutschen geprägt hat, das ist
       bekannt: Mehr als drei Viertel der ehemaligen DDR-Bürger wurde arbeitslos
       oder musste ihren Job wechseln. Sie mussten erleben, wie ihre Abschlüsse
       entwertet und wie viel Unverständnis ihren Biografien entgegen gebracht
       wurde. Weniger bekannt ist, welchen radikalen Einschnitt der Mauerfall auch
       für viele Einwanderer und deren Kinder bedeutete - im Osten wie im Westen.
       
       Vor allem für die ehemaligen Vertragsarbeiter aus Angola, Mocambique oder
       Vietnam änderte sich alles. Sie wurden als Erste aus ihren Kombinaten
       entlassen, und wer nicht gleich in seine Heimat abgeschoben wurde, musste
       sich irgendwie in den neuen Verhältnissen durchschlagen.
       
       Aber auch viele Migranten im Westen verloren nach der Wende ihren Job -
       insbesondere im Westen Berlins, wo die Subventionen gestrichen wurden. Und
       plötzlich gab es auf dem Arbeitsmarkt auch noch die Konkurrenz zu den
       Ostdeutschen, die teilweise besser qualifiziert oder einfach nur bereit
       waren, zu deutlich niedrigeren Löhnen zu arbeiten.
       
       ## Deutsche berauscht vom Nationalgefühl
       
       Die Mehrheit der Deutschen war nach dem 9. November 1989 berauscht von
       einem neuen Nationalgefühl. Die Einwanderer mussten erkennen, dass sie auf
       dieser patriotischen Party vor der Tür blieben. Ein Phänomen, das sich
       seither jedes Jahr zum Mauerfall-Jubiläum aufs Neue wiederholt. Denn bei
       allen Jahrestagen der Wende bleibt die Perspektive der Migranten meist
       außen vor. Bei der großen deutschen Bauchnabel-Show sind sie bis heute nur
       Zaungäste geblieben.
       
       Die Migrationsforscherin Nevim Çil hat für ihre 2007 erschienene
       Dissertation viele Deutschtürken über ihre Wendeerfahrungen befragt. Dabei
       zeigte sich, dass sich viele als eigentliche Wendeverlierer empfanden. Denn
       obwohl sie oft seit vielen Jahren in Deutschland gelebt hatten oder sogar
       hier geboren waren und sich zunächst oft über die deutsche
       Wiedervereinigung gefreut hatten, mussten sie erleben, dass die
       Ostdeutschen an ihnen vorbeizogen.
       
       Die Neuankömmlinge aus der ehemaligen DDR erhielten ein Begrüßungsgeld, die
       vollen Staatsbürgerrechte ohne jede Vorbedingung oder Gesinnungstests, wie
       sie bei Einbürgerungen später Pflicht wurden, und sie hatten bei der
       Jobsuche und auf dem Wohnungsmarkt bessere Chancen.
       
       Der Rassismus, den es schon im alten Westen gab, nahm nach der Wende
       drastisch zu. Im Osten richtete er sich gegen Asylbewerber und „Ausländer“
       insgesamt, und gipfelte in den Pogromen von Hoyerswerda und Rostock. Im
       Westen richtete er sich, wie schon zuvor, insbesondere gegen Türken - die
       Anschläge von Mölln und Solingen brannten sich einer ganzen Generation ins
       Gedächtnis ein.
       
       ## Feindbild Türke
       
       Auf das Feindbild Türke waren auch die NSU-Mörder fixiert, deren
       gesamtdeutsche Blutspur den mörderischen Endpunkt dieser
       Post-Wende-Entwicklung bildete. Weil die Täter aus Thüringen kamen und fast
       alle Opfer Türken waren, bilden sich manche Westdeutsche bis heute ein,
       dass diese Taten nichts mit ihnen zu tun haben. Aber es waren auch
       westdeutsche Behörden und Journalisten, die angesichts dieser Mordserie
       versagt haben, weil ihnen ihre eigenen Vorurteile im Weg standen.
       
       Nach dem 9. November veränderte sich die deutsche Gesellschaft stark. Die
       Ostdeutschen fühlten sich im neuen Deutschland oft als Bürger zweiter
       Klasse. Die Migranten rutschten in der Hackordnung weiter nach hinten und
       wurden zu Bürgern dritter Klasse degradiert.
       
       Vor den Zumutungen der neuen Zeit flüchteten sich die einen in eine diffuse
       Ostalgie oder einen übersteigerten Nationalismus. In Ostdeutschland blühte
       eine Neonazi-Szene auf, die in manchen Regionen tonangebend wurde.
       
       Die anderen verklärten die Heimat ihrer Eltern, die sie oft nur aus dem
       Urlaub kannten, flüchteten sich in türkischen Nationalismus oder religiösen
       Fundamentalismus. Die Integrationsdebatte aber wurde um mindestens 20 Jahre
       zurück geworfen. Die Debatte um eine doppelte Staatsbürgerschaft und ein
       kommunales Wahlrecht für Ausländer, die es schon in der alten
       Bundesrepublik gab, hält darum bis heute an.
       
       ## Der „empfindliche Ausländer“
       
       Auch Ostdeutsche wurden von Wessis belächelt und diskriminiert, meist in
       einem Zug. Ein sächsischer Akzent konnte mancherorts ein
       Ausschlusskriterium sein, so wie anderswo eine andere Hautfarbe oder
       Herkunft. Aber es war Nichts im Vergleich zu dem, was viele Einwanderer und
       deren Kinder zu erdulden hatten. Wer das nicht so witzig fand, der fing
       sich schnell den Vorwurf ein, humorlos zu sein.
       
       Was in den Neunzigerjahren die populäre Rede vom „Jammerossi“ war, gerann
       auf der anderen Seite zum Bild vom „empfindlichen Ausländer“, das heute im
       Klischee vom ständig „beleidigten Muslim“ eine Neuauflage erfährt. Und wenn
       Westler den Osten noch heute als „Dunkeldeutschland“ bezeichnen, dann
       entspricht das dem Geraune über „Parallelgesellschaften“ von Migranten.
       
       So werden Ostdeutsche und Einwanderer auch gegeneinander ausgespielt: Hier
       der rassistische und autoritätshörige Ostdeutsche, da der
       integrationsunwillige und aggressive Migrant - diese Stereotype waren und
       sind für viele Westdeutsche sehr bequem, denn sie erlauben es ihnen, sich
       im Vergleich ungemein tolerant, weltoffen und liberal zu fühlen - viel
       toleranter, weltoffener und liberaler, als die meisten von ihnen in
       Wirklichkeit je waren oder sind.
       
       Diese Teilung der Gesellschaft setzt sich bis heute fort. Darum hatte das
       Buch „Zonenkinder“ der Freitag-Redakteurin Jana Hensel so einen Erfolg -
       als Gegenstück zu den selbstzufriedenen Absonderungen der westdeutschen
       „Generation Golf“, deren vorgebliche „Pop-Literaten“ sich für das Maß aller
       Dinge hielten. Und darum gründete sich vor fünf Jahren das Netzwerk „Dritte
       Generation Ost“, in dem sich junge Ostdeutsche treffen, die ihre Kindheit
       teils in der ehemaligen DDR und teils im wiedervereinigten Deutschland
       erlebt haben.
       
       ## Widerstand und Ignoranz
       
       Die zornigen Nachkommen von Einwanderern dagegen gründeten in den
       Neunzigerjahren Netzwerke wie „Kanak Attack“ oder die „Initiative Schwarze
       Menschen in Deutschland“ (ISD). Heute versammeln sie sich in
       Selbstorganisationen wie „Deutsch plus“ oder „Deukische Generation“.
       
       Die Einheit zwischen Ost und West ist unvollendet geblieben, allen
       Festtagsreden zum Trotz. Die „zweite Einheit“, die zwischen Bürgern
       deutscher und ausländischer Herkunft, lässt erst recht auf sich warten.
       Beide werden erst dann erreicht sein, wenn eine Mehrheit der Bevölkerung in
       Deutschland es schafft, ihre Widerstände und ihre Ignoranz gegenüber der
       Vielfalt dieser Gesellschaft zu überwinden.
       
       8 Nov 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Daniel Bax
       
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