# taz.de -- Vorbild Kanada?: Das Zweiklassensystem
       
       > Die kanadische Einwanderungspolitik wird für ihre Fortschrittlichkeit
       > gelobt. Dabei nützt sie vor allem denjenigen, die gut ausgebildet sind.
       
 (IMG) Bild: Cranberry-Ernte in der Nähe von Vancouver
       
       Toronto taz | Gabriel Allahdua steigt auf eine Gemüsekiste aus rotem
       Plastik und bittet um Aufmerksamkeit. Lächelnd blinzelt der 45-Jährige in
       die grelle Sonne, die gerade erst beginnt, die beißend kalte Luft eines
       kanadischen Herbstmorgens in Toronto aufzutauen. Es ist 10 Uhr. Vor
       Allahdua marschieren etwa 50 Menschen im Kreis, seit fast zwei Stunden. Sie
       sind mit Unmengen an bunten Schildern bestückt, einige davon in Form
       riesiger Tomaten und Paprika und sie skandieren unermüdlich: „Status für
       Gastarbeiter!“ Nur ab und zu halten sie an, um einen Lastwagen
       durchzulassen, der von der mehrspurigen Straße durch das Gittertor des
       Gemüsegroßhandels fährt, vor dem sie demonstrieren.
       
       Allahduas ruhige, volle Stimme mit dem weichen karibischen Dialekt ist
       herzlich, als er die Aktivist*innen begrüßt und sie zur Ruhe bittet. Doch
       schnell wird sie laut und energisch: „Seit 50 Jahren ernten wir hier das
       Obst und Gemüse. Doch wir haben keinen Status, wir haben keine Rechte“,
       ruft er. „Die kanadische Einwanderungspolitik liefert uns der Willkür
       unserer Arbeitgeber aus. Ich bin ein moderner Sklave in Kanada!“
       
       Allahdua kritisiert eine Einwanderungspolitik, die international als
       Vorbild gilt. Seit 1967 schon besteht in Kanada ein Punktesystem, das
       potenzielle Einwander*innen in verschiedene Klassen einteilt: Wer
       beispielsweise jung und gut ausgebildet ist, fließend Englisch oder
       Französisch spricht oder bereits ein Jobangebot hat, bekommt eine hohe
       Punktzahl und hat damit gute Chancen auf permanenten Aufenthaltsstatus.
       Australien, Neuseeland und Singapur, unter anderem, haben das kanadische
       Modell übernommen.
       
       2015 sprach sich auch die SPD für eine Reform des Einwanderungsgesetzes
       aus, die sich stark an Kanada orientiert. Angela Merkel lobte Kanada zudem
       vergangenen Mai dafür, in nur vier Monaten 25.000 syrische Geflüchtete
       aufgenommen zu haben. Ein Jahr lang bekommen sie vom Staat oder von
       privaten Sponsor*innen Unterhalt, so wie Sprachkurse und Unterstützung bei
       der Wohnungs- und Jobsuche.
       
       ## Die erwerbstätige Bevölkerung schrumpft
       
       Der Blick nach Kanada, um sich in Sachen Einwanderung neu zu orientieren,
       ist aus Sicht der Bundesrepublik nicht abwegig. Ähnlich wie in Deutschland
       nämlich altert die kanadische Bevölkerung zunehmend, die erwerbstätige
       Bevölkerung schrumpft. Um dem Arbeitskräftemangel entgegenzuwirken, plant
       Einwanderungsminister McCallum, die Zahl der permanenten Einwander*innen im
       Jahr 2016 auf bis zu 305.000 zu erhöhen. Die guten Aussichten auf
       permanenten Aufenthaltsstatus gelten derweil aber nur für hoch
       qualifizierte Fachkräfte – nicht für Menschen wie Gabriel Allahdua,
       Gastarbeiter auf einer kanadischen Farm.
       
       Unter Applaus und Zurufen beendet der Familienvater aus St. Lucia seine
       Rede. Vom Straßenrand weht der Duft frischer Pancakes herüber, die zwei der
       Aktivist*innen auf einem Gaskocher backen. Allahdua verzichtet aufs
       Frühstück und stellt sich etwas abseits vom Straßenlärm, um Fragen zu
       beantworten. „Wir sind hier, um die Arbeit zu machen, die Kanadier nicht
       machen wollen.“ Er guckt einem direkt in die Augen, spricht ruhig und
       eindringlich. „Doch wir haben keine Aussicht auf Aufenthaltsstatus. Und
       Status bedeutet Rechte.“
       
       Seit 50 Jahren besteht das „Seasonal Agricultural Workers Program“ (SAWP),
       das Anwerbeabkommen für Farmarbeiter*innen, das auch Allahdua nach Kanada
       brachte. Es erlaubt kanadischen Farmbesitzer*innen, Menschen aus Mexiko,
       Guatemala, der Karibik und den Philippinen saisonweise für die Ernte
       einzustellen. Die Arbeitsverträge gelten jeweils für acht Monate, danach
       müssen die Arbeiter*innen wieder in ihre Heimatländer zurückfahren und sich
       für die nächste Saison neu bewerben. Die Arbeitgeber*innen können den
       Vertrag jederzeit kündigen, die Arbeiter*innen müssen dann umgehend das
       Land verlassen. Mit dem SAWP kamen allein 2013 41.700 temporäre
       Farmarbeiter*innen nach Kanada. Die Zahl der Gastarbeiter*innen steigt
       jedes Jahr, seit 2007 übertrifft sie die Zahl der permanenten
       Einwander*innen bei Weitem.
       
       ## Leben ohne Privatsphäre
       
       Gabriel Allahdua hatte in seiner karibischen Heimat eine Imkerei und ein
       kleines Geschäft betrieben – bis ein Orkan seine Lebensgrundlage zerstörte.
       Seit seiner Jugend hatte er im Radio vom Anwerbeabkommen mit Kanada gehört,
       viele Menschen aus seiner Gegend hatten teilgenommen. Er selbst hatte
       aufgrund eines Stipendiums von einer kanadisch finanzierten Uni die Chance,
       Landwirtschaft und Geografie zu studieren. „Kanada wird immer als sicherer
       Zufluchtsort für Menschen aus schwierigen Umständen dargestellt“, meint
       Allahdua.
       
       Sein Eindruck änderte sich schlagartig, als er mit dem SAWP nach Kanada
       kam. Vier Jahre in Folge arbeitete er auf einer Farm in Leamington, im
       Bundestaat Ontario: 22 Hektar voller Gewächshäuser, nur aus dem Flugzeug
       hätte man die Fläche überblicken können, erzählt er. Allahdua und die
       anderen Arbeiter wohnten auf der Farm. Jeweils zu acht, teilten sie sich
       ein kahles, mit Stockbetten versehenes Zimmer. Privatsphäre gab es nicht,
       schlafen konnte er nur mit Ohrenstöpseln. Es gab kein Internet, um mit
       seiner Familie zu kommunizieren.
       
       Jeden Morgen um 6 Uhr stand Allahdua im Gewächshaus und drückte einen Knopf
       auf einem kleinen elektronischen Gerät an seinem Handgelenk – „die Uhr“,
       wie sie es nannten. Jeden seiner Arbeitsschritte musste er so
       dokumentieren. Dann begann der tägliche Wettlauf mit der Zeit: Er pflückte
       Tomaten oder Paprika und packte sie in Plastikkisten. Wenn er zwanzig
       Kisten gepackt hatte, kam ein anderer Arbeiter, um sie abzuholen und zu
       wiegen. Das Gewicht wurde ebenfalls dokumentiert.
       
       ## Gekündigt und abgeschoben
       
       Am Ende der Woche wurde in den Fluren eine Liste ausgehängt, wie viel jeder
       Arbeiter produziert hatte. Die unteren Plätze auf der Liste waren in rot
       markiert. Mehr als einmal war Allahduas Name dabei. Dann kam sein
       Vorgesetzter, um ihn daran zu erinnern, dass in seiner Heimat Hunderte
       warteten, um seinen Job zu machen, wenn er nicht schneller würde. Allahdua
       hatte mitbekommen, wie Arbeiter ohne Vorwarnung gekündigt und abgeschoben
       wurden, weil sie „zu langsam“ waren, krank wurden oder sich verletzten.
       „Jeden Tag hatte ich das im Hinterkopf“, erzählt er.
       
       Er trank Energydrinks, arbeitete die Pausen durch. Auch im Sommer, wenn
       seine Arbeitswoche oft 68 Stunden hatte. „Seit 50 Jahren bestehen diese
       Verhältnisse in Kanada“, wiederholt Allahdua langsam und deutlich. „Warum
       niemand davon weiß? Weil die Angst vor der Abschiebung uns zum Schweigen
       bringt.“
       
       Seit einem Jahr arbeitet er nicht mehr auf der Farm. Er befindet sich im
       „langwierigen Prozess“ eines Asylverfahrens und widmet sich seiner
       politischen Arbeit mit der Organisation „Justicia for Migrant Workers“
       (J4MW). Der morgendliche Protest vor dem Gemüsegroßhandel in Toronto ist
       Teil einer 1.500 Kilometer langen Tour durch Ontario. An 24 verschiedenen
       Orten haben die Aktivist*innen Filme gezeigt, Unis besucht, Konzerte
       veranstaltet, Unterschriften gesammelt. Sie haben mit Gastarbeiter*innen
       gemeinsam gegessen und sie über ihre Rechte aufgeklärt.
       
       Die letzte Station war der Regierungssitz in Ottawa am 3. Oktober. Allahdua
       wurde ins Parlamentsgebäude eingeladen, um mit Arbeitsministerin Mihychuk
       zu sprechen. „Wir werden uns damit befassen“, sei ihre Antwort auf die
       Forderung nach Aufenthaltsstatus gewesen. Auf Anfrage der taz antwortete
       ihre Pressesprecherin, die Regierung sei dabei, die
       Gastarbeiter*innenprogramme „zum Besten für Arbeitgeber*innen,
       Arbeitnehmer*innen und die kanadische Wirtschaft“ zu verändern.
       
       Allahduas Stimme wird plötzlich sehr scharf, als er später am Telefon von
       dem Treffen mit der Ministerin erzählt: „Ihre Antwort war ein Stück
       Scheiße.“ Doch die vielen Verbindungen, welche die Tour geschaffen hat,
       seien für ihn ein Erfolg. Er erzählt von der Wut vieler Kanadier*innen, die
       zum ersten Mal von der Situation der Gastarbeiter*innen hörten, von ihrem
       Willen, sich einzusetzen. Dann spricht er wieder ganz sanft: „Ich werde nie
       die Freude und Erleichterung auf den Gesichtern der Farmarbeiter vergessen,
       als sie gesehen haben, dass es Menschen gibt, die mit ihnen und für sie
       kämpfen.“
       
       14 Nov 2016
       
       ## AUTOREN
       
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