# taz.de -- Vor den Wahlen in der Türkei: Der Anti-Erdoğan
       
       > Mit Kemal Kılıçdaroğlu will die türkische Opposition bei der
       > Präsidentschaftswahl im Mai antreten. Welche Chancen hat er, Staatschef
       > Erdoğan abzulösen?
       
 (IMG) Bild: „Gandhi der Türkei“: Kemal Kılıçdaroğlu will den türkischen Präsidenten Erdoğan beerben
       
       Istanbul taz | An der Autobahn von Istanbul nach Ankara drängen sich
       tausende Menschen. Sie fiebern einem Mann entgegen, für den die Massen bis
       dahin nur wenig Begeisterung aufbringen konnten. Nach stundenlangem Warten
       unter knalliger Sonne kommt Bewegung in die Menge. „Da kommen sie“, schreit
       jemand, und tatsächlich sind in der Ferne einige Läufer zu erkennen, die
       sich auf die Menge zubewegen. Es ist die Vorhut eines Marsches, den es so
       in der Türkei noch nicht gegeben hat.
       
       Der „Gerechtigkeitsmarsch“ im Juni 2017 ist in die jüngere türkische
       Geschichte eingegangen. Zugleich bildet er einen Höhepunkt in der
       persönlichen Geschichte des heutigen Präsidentschaftskandidaten Kemal
       Kılıçdaroğlu. Es ist die Zeit, als die Repression in der Türkei nach dem
       Putschversuch gegen [1][Präsident Recep Tayyip Erdoğan] im Sommer 2016
       ihren Höhepunkt erreicht. Dieser hatte im September 2016 den
       Ausnahmezustand verhängen lassen, und im gesamten Land wurde eifrig nach
       tatsächlichen oder vermeintlichen Unterstützern der Putschisten gefahndet.
       Staatlich geförderte Denunziation war an der Tagesordnung, politische
       Gegner wie Journalisten wurden zu Gefängnisstrafen verurteilt.
       
       In dieser Situation entschloss sich Kılıçdaroğlu als Vorsitzender der
       größten Oppositionspartei zu einem Marsch für Gerechtigkeit von Ankara nach
       Istanbul. In den ersten Tagen noch wenig beachtet, entwickelte sich der
       Marsch zu einer Massenbewegung, die Erdoğan und sein Umfeld erstmals seit
       dem Putschversuch nervös machte. Kılıçdaroğlu wurde damals von tausenden
       Anhängern begleitet, und zehntausende Zuschauer warteten an jedem
       Etappenziel auf ihn.
       
       Im Marathondress – Turnschuhen, kurzer Hose und Schlabbershirt – rannte der
       damals bereits 68-jährige Mann gut zwei Wochen seinem Ziel in Istanbul
       entgegen – dem Gefängnis im Istanbuler Stadtteil Maltepe, wo ein hoher
       Funktionär der Partei, der Journalist Enis Berberoğlu, seit Monaten in
       U-Haft saß, weil er angeblich geheime Informationen für den schon
       geflüchteten Can Dündar beschafft hatte.
       
       Man sah Kılıçdaroğlu an diesem Tag die Erschöpfung kaum an, trotz 400
       Kilometer Wegstrecke. Als er in Istanbul ankam, erwartete ihn eine riesige
       Menschenmenge, Hunderttausende sollen es gewesen sein. Kılıçdaroğlu hielt
       eine feurige Rede, Berberoğlu kam frei, und der Vorsitzende der CHP war auf
       dem Höhepunkt seiner Popularität. Das ist das eine Gesicht von Kemal
       Kılıçdaroğlu.
       
       Das andere zeigte sich kürzlich bei einer Veranstaltung der SPD-nahen
       Ebert-Stiftung in Istanbul, wo Kılıçdaroğlu gemeinsam mit dem
       Stiftungsvorsitzenden Martin Schulz auf dem Podium saß, um über Demokratie
       in der Türkei und die bevorstehende Präsidentenwahl zu sprechen.
       Kılıçdaroğlu war zu der Zeit noch nicht der offizielle Kandidat der
       Opposition, und er tat alles, um die Zuhörer davon zu überzeugen, dass er
       auch nicht der Richtige wäre.
       
       Statt die Menschen im Saal mitzureißen, hielt er eine dröge Rede über die
       Demokratie im Allgemeinen und in der Türkei im Besonderen, die die Zuhörer
       fast zum Einschlafen brachte. Wer an diesem Abend aus dem Saal kam,
       verstand, warum seine Kritiker ihn „Büroklammer“ schimpfen, während seine
       Fans vom „Gandhi der Türkei“ sprechen, einmal wegen seines Aussehens,
       insbesondere wenn er seine randlose Brille trägt, zum anderen aber auch
       wegen seines beharrlichen Kampfes für Demokratie und Gerechtigkeit, wie
       sein Marsch von Ankara nach Istanbul zeigte.
       
       Auf jeden Fall ist Kılıçdaroğlu eher der ruhige, vermittelnde Typ, kein
       Volkstribun und Macho-Führer, von denen es in der türkischen Politik so
       viele gibt. Etliche sehen in ihm deshalb einen Kandidaten, der dem
       Volkstribun Erdoğan kein ausreichendes Paroli bieten kann, andere setzen
       dagegen auf die Verbindlichkeit, Vertrauenswürdigkeit und strategische
       Weitsicht des Kandidaten.
       
       Kılıçdaroğlu stammt aus einer armen alevitischen Familie aus der Region
       Tunceli. Beides gilt in der Türkei als Makel. Für türkische Nationalisten
       ist Tunceli eine kurdisch-alevitische Aufstandsprovinz, deren Menschen
       nicht zu trauen ist. Kılıçdaroğlu hat mit seinem ganzen bisherigen Leben
       gezeigt, dass diese Vorurteile haltlos sind. Er ist ein zutiefst
       überzeugter Demokrat und Anhänger eines republikanischen, säkularen, aber
       toleranten Staates. Er studierte an einer Akademie für Wirtschafts- und
       Verwaltungswissenschaft in Ankara und ging anschließend ins
       Finanzministerium. Er wurde ein vorbildlicher Bürokrat, der bis zum Chef
       der öffentlichen Sozialversicherung SSK aufstieg. Politisch engagierte er
       sich seit Langem in der sozialdemokratisch-kemalistischen CHP.
       
       Er gehörte zu den Kritikern des früheren CHP-Chefs Deniz Baykal, eines
       Mannes vom alten Schlag des autoritären Kemalismus. Mit einer Kampagne
       gegen die Korruption im Regierungslager von Istanbul setzte er 2009 im
       Kampf um den Oberbürgermeisterposten der größten Stadt erste deutliche
       Akzente. Zu Recht gilt er persönlich als bescheiden, integer und ehrlich.
       Bis heute lebt er mit seiner Familie in einer relativ kleinen Wohnung in
       Ankara.
       
       Ein Jahr später übernahm er von Baykal den Vorsitz der CHP und begann die
       Partei zu modernisieren: weg vom autoritären Kemalismus, hin zu einer
       moderateren sozialdemokratischen Partei. Dennoch musste er bei mehreren
       Wahlniederlagen schmerzlich lernen, dass die CHP allein gegen Erdoğan und
       seine AKP nicht gewinnen kann. Die Rechte hat in der Türkei seit
       Jahrzehnten eine strukturelle Mehrheit, und Erdoğan hat es geschafft,
       diverse rechte Strömungen in seiner AKP zu vereinen.
       
       Als sich 2016 ein Richtungsstreit beim Koalitionspartner Erdoğans, der
       ultranationalistischen MHP, so zuspitzte, dass die Partei sich spaltete und
       2017 unter Führung der Frontfrau Meral Akşener die IYI-Parti als neue
       rechte Partei außerhalb des Einflusses von Erdoğan gegründet wurde, sah
       Kılıçdaroğlu die Chance zu einem Bündnis, das über die bisherige
       Wählerschaft der CHP hinausgehen könnte. Er verhalf Akşener und ihrer neuen
       Partei zum Einzug ins Parlament, indem er zeitweilig CHP-Abgeordnete an sie
       auslieh, und testete das neue Bündnis erstmals bei den Kommunalwahlen 2019.
       
       Mit durchschlagendem Erfolg: Das Bündnis konnte der AKP nicht nur die
       Metropolen Istanbul und Ankara abnehmen, es gewann auch in den sechs
       nächstgrößten Städten des Landes. Seitdem hat Kılıçdaroğlu das Bündnis
       gepflegt und um weitere kleinere Parteien erweitert, die alle das
       politische Ziel eint, Erdoğan von der Macht zu verdrängen und das von ihm
       geschaffene autoritäre Präsidentenregime wieder in eine parlamentarische
       Demokratie zurückzuverwandeln.
       
       ## Er selbst sieht sich als „Demokratie-Dede“
       
       Dieses Bündnis reicht von der religiösen Saadet-Partei über zwei Parteien,
       die sich aus Enttäuschung über Erdoğans Autoritarismus von der AKP
       abgespalten haben, bis zur rechten IYI-Parti und dem Überrest der früheren
       mitte-rechten Demokratischen Partei. Dieses Bündnis, der so genannte
       „Sechsertisch“, ist das Werk Kılıçdaroğlus. Die anderen Parteien im Bündnis
       stehen alle rechts von der CHP, und Kılıçdaroğlu hofft, dass die
       Wählerbasis des Bündnisses damit breit genug ist, [2][um Erdoğan bei den
       Präsidentschaftswahlen im Mai schlagen zu können].
       
       Um eine echte Chance zu haben, im ersten Wahlgang über die nötigen 50
       Prozent der abgegebenen Stimmen zu kommen, muss er zu seinem rechten
       Bündnis aber noch die links-kurdische HDP mit ins Boot holen. Das wird ein
       Drahtseilakt, weil er aufgrund vielfältiger Vorbehalte gegen die angeblich
       mit den „Terroristen der PKK“ verbundene HDP sie nicht formal mit ins
       Bündnis holen kann, die Partei aber dennoch davon überzeugen muss, keinen
       eigenen Kandidaten aufzustellen, sondern ihn gegen Erdoğan zu unterstützen.
       Kılıçdaroğlu traut man es zu, dass er das schafft, denn Vertrauensbildung
       und Diplomatie sind ja seine Spezialität.
       
       Erste Signale aus der HDP nach seiner Nominierung zeigen, dass es für
       Kılıçdaroğlu klappen könnte. Der jetzt 74-Jährige hat jahrelang mit zäher
       Geduld auf diesen Moment hingearbeitet. Er hat viele Demütigungen und
       Angriffe Erdoğans und seiner Anhänger ertragen, um an diesen Punkt zu
       kommen. Er weiß, dass es für ihn persönlich die letzte politische Chance
       ist, aber wohl auch für das Land die vorerst letzte Chance, aus dem
       autoritären, nationalreligiösen Klammergriff herauszukommen.
       
       Er möchte als „Demokrat-Dede“, als Vater der Demokratie, in die Geschichte
       eingehen, hat er kürzlich vor jungen Leuten gesagt. Tatsächlich traut man
       ihm zu, dass er die von Erdoğan errichtete Präsidialherrschaft wieder auf
       eine eher repräsentative Rolle des Präsidenten zurechtstutzt und das
       Parlament wieder zum entscheidenden Ort der türkischen Politik macht. Nun
       muss Kılıçdaroğlu nur noch die türkischen Wähler überzeugen.
       
       13 Mar 2023
       
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