# taz.de -- Prostitution in Hamburg: In finstere Ecken gedrängt
       
       > Sexarbeit gehört seit Jahrzehnten zum Hamburger Stadtteil St. Georg.
       > Durch Sperrbezirk und Kontaktverbot wurde die Prostitution nur geheimer.
       
 (IMG) Bild: Ins Dunkelfeld abgedrängt: Prostitution in St. Georg
       
       Hamburg taz | Im Kalender steht nichts vom Streiten: Es ist Montag, der 25.
       November – und damit Internationaler Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen
       Frauen. Ein Anliegen also, gegen das wenigstens öffentlich kaum mit
       Gegenwind zu rechnen sein dürfte. Vor dem Hamburger Rathaus wird eine Fahne
       der Frauenrechtlerinnen von [1][Terre des Femmes] gehisst: „Frei leben ohne
       Gewalt“ ist da über eine stilisierte Frauenfigur gedruckt. Der Hamburger
       Senat hat die Aktivistinnen eingeladen, zum Sektempfang als Dank für ihre
       ehrenamtliche Tätigkeit.
       
       Doch auch unten auf dem Platz vor dem Rathaus sind Transparente zu sehen.
       Rund 40 Frauen, die nicht eingeladen sind, halten handbeschriebene Laken
       und Schilder in die Luft: „Wir sind gegen Gewalt“. Bemerkenswert ist, dass
       die Frauenrechtlerinnen vor und die im Rathaus nicht nur jeweils für die
       Rechte der Frau kämpfen, sondern zumindest heute, an diesem
       symbolträchtigen Montag, vor allem auch gegeneinander antreten.
       
       Es geht um Sexarbeit, Prostitution oder Hurerei. Schon über diese Worte
       lässt sich lange streiten. Für Terre des Femmes und andere
       traditionell-feministische Gruppen gilt Sexkauf als Inbegriff von
       Ausbeutung und Unterdrückung der Frau, weshalb sie den diesjährigen
       Aktionstag der Forderung nach einem grundsätzlichen Verbot der Prostitution
       gewidmet haben.
       
       Auf der Kundgebung draußen vor dem Rathaus heißt es hingegen, gerade das
       Verbot der Sexarbeit sei Gewalt an Frauen. Oder vielleicht noch schärfer
       gegen Terre des Femmes gewendet: „Sexkaufverbot ist antifeministisch“.
       
       Fast alle Protestierenden kommen aus der Sozialarbeit: [2][Der Verein
       Ragazza] ist gekommen, eine Anlaufstelle für drogenabhängige Frauen und
       Prostituierte, einige Menschen aus der Aidshilfe – sowie von
       [3][Sperrgebiet St. Georg], die unter dem Dach der Diakonie
       niedrigschwellige Hilfe für die meist osteuropäischen Sexarbeiterinnen des
       Stadtteils anbieten.
       
       ## Protest der Sozialarbeiter*innen
       
       Deren Leiterin Julia Buntenbach-Henke hat die Aktion mitorganisiert, weil
       sie die aktuelle politische Debatte über das Sexkaufverbot für höchst
       gefährlich hält. Das sei nicht nur keine Lösung des Problems, sagt sie:
       „Verbieten verschärft die Ausbeutung sogar noch“, weil die Frauen weiter in
       Unsichtbarkeit und Abhängigkeit von kriminellen Strukturen gedrängt werden.
       
       Die Gruppe Sperrgebiet St. Georg arbeitet zwei Kilometer östlich, genau auf
       der anderen Seite des Hauptbahnhofs. Ihre Räume liegen in einer Nebenstraße
       des Steindamms, gar nicht weit vom berüchtigten Hansaplatz entfernt. Von
       außen ist das Gebäude unscheinbar, die Fenster undurchsichtig, um die
       Frauen zu schützen, die hier Hilfe suchen.
       
       „Wir vermitteln rechtliche Beratung und haben auch regelmäßig eine Ärztin
       hier“, sagt Buntenbach-Henke. Besonders beliebt sei auch die Friseurin.
       „Und Kondome, immer wieder Kondome.“ Zurzeit stapeln sich in den Büroräumen
       und im Keller noch Kartons voller gespendeter Winterjacken. Das Klientel
       der Gruppe setzt sich vor allem aus Frauen aus der Armutsprostitution und
       vom Straßenstrich zusammen. Wo es schlichtweg an allem mangelt.
       
       Dass es in St. Georg seit Jahrzehnten Sex zu kaufen gibt, weiß in Hamburg
       jede*r. Obwohl hier – anders als auf der Reeperbahn – niemand auf die Idee
       käme, Prostitution als Touristenspektakel mit dem fragwürdigen Charme des
       durchgeknallten Stadtmarketings zu inszenieren. In St. Georg geben
       Voyeurismus und Angstlust den Ton an: „Straße des Schreckens“ stand mal in
       der Hamburger Morgenpost, die Bild vermutete hier schon den „Vorhof zur
       Hölle“.
       
       Tatsächlich muss man in St. Georg nicht lange nach Sexarbeiterinnen suchen,
       mit ihnen aber über ihre Lebensumstände oder Arbeitsbedingungen zu
       sprechen, ist erst mal nahezu unmöglich. Die meisten kommen aus Bulgarien,
       aus Rumänien oder Polen. Seit ein paar Jahren versuchen auch viele
       Geflüchtete, hier irgendwie unterzukommen. Und sie alle sind es gewohnt,
       dass längst nicht nur Freier nach ihnen suchen, sondern auch ganze
       Heerscharen von Gangstern, Polizisten und Missionaren.
       
       St. Georg ist jedoch nicht nur für seinen Drogenstrich berüchtigt, sondern
       auch für fragliche staatliche Regulierungsversuche. Seit 1980 ist hier
       Sperrbezirk, auch wenn es gut 20 Jahre dauert, bis die Behörden tatsächlich
       offensiv werden. Höhepunkt der Maßnahmen ist das Kontaktverbot, welches
       bereits Anbahnversuche von Freiern und Sexarbeiterinnen unter Strafe
       stellt.
       
       Das Ergebnis: Prostitution wurde ein bisschen geheimer – und zog sich in
       immer finstere Ecken zurück. Das ist ein Problem für die Frauen selbst,
       aber auch für jene, die ihnen helfen wollen. Buntenbach-Henke berichtet von
       „Kolleginnen, die nun wirklich nicht empfindlich sind, und die sagen: Da
       gehen wir abends nicht mehr hin.“ Das gilt auch für die Gegenseite: Dass
       [4][die Freier, die trotz Kontaktverbot zum Hansaplatz kommen], aus immer
       härteren Milieus stammen, kann hier in den umliegenden Bars und Geschäften
       jede*r bestätigen.
       
       Die Prostitutionsgesetze von 2002 und 2017 haben sicher zu dieser
       Verschattung des Geschäfts beigetragen, obwohl sie das Gegenteil im Sinn
       hatten. Das seit zweieinhalb Jahren gültige Prostituiertenschutzgesetz ist
       ja auf dem Papier ein Legalisierungsprogramm: Sexarbeiterinnen sollen sich
       anmelden, krankenversichern, sich beraten lassen und Steuern zahlen. Nur
       ist das alles für Frauen in St. Georg, die oft kaum Deutsch sprechen, die
       manchmal überhaupt nicht lesen können, eine ziemlich undurchsichtige
       Angelegenheit.
       
       Und im Zweifel ist die Seite der Ausbeuter besser aufgestellt: Kurz nach
       Inkrafttreten des Gesetzes tauchen von Steindamm bis zum Kiez dubiose
       Versicherungsmakler und vermeintliche Anwälte auf. Eine Frau habe 1.500
       Euro für eine vermeintlich notwendige „Steuerberatung“ zusammengekratzt,
       ist zu hören.
       
       In der Herbertstraßeauf St. Pauli werden europäische
       „Krankenversicherungen“ vertickt, die in Deutschland nichts abdecken. Die
       Zuhälter setzen „Serviceverträge“ auf, die der Arbeit etwa in
       Modellwohnungen einen rechtlichen Rahmen geben, der in der Regel nicht zu
       Gunsten der Frauen ausfällt. Da ist dann immer wieder von Kosten „in
       angemessener Höhe“ die Rede, einer hebt unter Paragraf 5 mit einem
       Nebensatz das Briefgeheimnis der Sexarbeiterin auf.
       
       Dennoch: „Das Schutzgesetz ist nicht nur schlecht und bietet in der
       Evaluation auch Chancen“, sagt Julia Buntenbach-Henke. „Wir sehen nur immer
       noch, wie wenig die Frauen überhaupt von den Regelungen wissen. Und wie
       viel Verunsicherung das mit sich bringt.“
       
       ## Abwanderung ins Internet
       
       Die Ablehnung pauschaler Verbote fußt bei den Sozialarbeiterinnen in St.
       Georg jedenfalls auch auf solchen Erfahrungen. Sexarbeit hat durch die
       bisherigen Regularien nicht abgenommen, sich sehr wohl aber weiter
       verelendet. Nur Frauen, die unter extremer Mehrfachdiskriminierung leiden,
       arbeiten hier heute noch offen sichtbar.
       
       Und sie werden immer älter, weil sich die jüngste Generation zunehmend über
       das Internet organisiert. Sperrgebiet St. Georg war ursprünglich als Teil
       der Jugendhilfe angetreten und hat sein Angebot aber stückchenweise immer
       weiter gefasst. „Es sind inzwischen auch 60-Jährige dabei“, sagt
       Buntenbach-Henke. Unter welchen Bedingungen der Nachwuchs arbeitet, ist
       auch für professionelle Betreuungsstrukturen heute immer weniger
       ersichtlich.
       
       Wer sich eine Weile auf dem Hamburger Steindamm umsieht, wird jedenfalls
       verstehen, warum manche die Prostitution am liebsten schlagartig abschaffen
       würden – und Ausstiegsprogramme fordern statt kleinteilige Unterstützung.
       Auch Sperrgebiet St. Georg hat [5][so ein Projekt] im Angebot. Wer
       aussteigen will, bekommt hier Hilfe. Dass das eher selten passiert, dürfte
       auch daran liegen, dass ihnen die Welt jenseits des Strichs nicht gerade
       offensteht. Ohne feste Wohnung kein Job und ohne Job keine Wohnung: Das ist
       der Teufelskreis der Deklassierten, der Obdachlosen und vieler
       Geflüchteter.
       
       ## Verschärfter Ton
       
       Oft ist schon das Konto nicht zu kriegen, ohne das man mit dem Ausstieg gar
       nicht erst anzufangen braucht. Es sei nicht zwar unmöglich, sagt die
       Sperrgebiet-Leiterin Buntenbach-Henke, aber eben außerordentlich schwierig.
       Echte Ausstiegsprogramme seien darum nur sinnvoll, „wenn sie auch mit
       realistischen Mitteln ausgestattet sind“.
       
       Dazu kommt eine kulturelle Barriere, die sich allein in juristischen
       Kategorien kaum verstehen lässt. Sexarbeit sei immer in der Schmuddelecke
       gewesen, sagen die Sperrgebiet-Mitarbeiterinnen, weshalb ihre Projekte
       immer bei der Entstigmatisierung des Berufs ansetzen. Nur gilt hier: „Ein
       Verbot würde genau das Gegenteil bedeuten.“
       
       In der politischen Debatte verschärft sich derweil der Ton, seit die
       Bundestagsabgeordnete Leni Breymaier (SPD) im Sommer einen Arbeitskreis zur
       Prostitution gegründet hat, der inzwischen fraktionsübergreifend besetzt
       ist. Die Kräfteverhältnisse sind nach wie vor nicht entschieden. Klar ist
       aber, dass die Verbotsforderung von Terre des Femmes nicht im luftleeren
       Raum stattfindet.
       
       ## Grundverschiedene Vorstellungen von Feminismus
       
       Hier prallen grundverschiedene Vorstellungen auch darüber aufeinander, was
       Feminismus bedeuten kann. Sperrgebiet-Mitarbeiterin Ines Berding betont,
       dass die Illegalisierung nicht nur die Sexarbeit selbst betreffe, „sondern
       auch grundsätzlich das Recht von Frauen, über ihre Körper zu entscheiden“.
       Die Argumente der Verbotsbefürworter seien pure Fremdbestimmung und
       erklärten die Sexarbeiterinnen zu unmündigen Opfern.
       
       Auch wenn alle Seiten immer wieder von Zahlen sprechen, die wahlweise ein
       Scheitern oder einen Erfolg des Nordischen Modells belegen sollen, nach dem
       sich der Freier strafbar macht, nicht die Sexarbeiterin, läuft es immer
       wieder darauf hinaus, dass sich hier Moral und Pragmatik aneinander
       reiben. „Wie kann so etwas erlaubt sein?“, fragen die einen. „Welchen
       Schaden bedeutet ein Verbot für bestehende Hilfsstrukturen und für die
       Frauen selbst?“, wollen die anderen wissen.
       
       Unwahrscheinlich ist, dass sich beides zusammendenken lässt. Umso wichtiger
       wird sein, wohin das politische Pendel in Berlin in den kommenden Wochen
       und Monaten ausschlagen wird. Und in St. Georg werden bis dahin erst einmal
       weiter die Winterjacken verteilt.
       
       10 Dec 2019
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jan-Paul Koopmann
       
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