# taz.de -- „Faust“ in Wien als Groupie-Sause: Schnelldurchlauf durch den Stoff
       
       > Am Wiener Volkstheater inszeniert Kay Voges „Faust“. Die Aufführung wirkt
       > wie ein popkulturelles Ratespiel in nie enden wollender Heiterkeit.
       
 (IMG) Bild: Szene aus dem „Faust“ am Volkstheater Wien
       
       Wien taz | Kann man über „Faust“ schreiben, ohne in den randvollen
       Zitatentopf zu greifen, den das monumentale Spätwerk Goethes hinterlassen
       hat? Wie viele likebare 280-Zeichen-Punchlines würden der Tragödie erster
       und zweiter Teil wohl hergeben? Man könnte eine KI nachzählen lassen,
       gleichsam als automatisiertes Bildungsbürgertum. Das eine oder andere
       Goethe-Zitat benötigt man dann doch, um die [1][Inszenierung von Kay Voges]
       am Wiener Volkstheater, das er seit 2020 leitet, zu beschreiben.
       
       Die Rede vom Autor als „Kollektivwesen“, Goethes Kritik vor der Zeit am
       bürgerlichen Subjektbegriff, nimmt dieser Abend für zweieinviertel Stunden
       als Aufforderung zum Sammeln und Samplen von Bildern und Tönen, das in
       jeder zufälligen Ähnlichkeit schon Wahlverwandtschaft vermutet und immer
       dann einsetzt, wenn das Textaufsagen die medial konditionierte
       Aufmerksamkeitsspanne zu verlieren droht.
       
       „Mehr Licht!“, die anekdotisch überlieferten letzten Worte des Geheimen
       Rats bleiben unvermeidlich, denn Kay Voges hat sich der Fotografie ergeben.
       Nicht Erdgeist, Pudel oder Teufel sind die Spielmacher, nicht mal Gott
       selbst, der hier als ein plasmaartig waberndes Rotlicht wie „Hal“, der
       selbständig denkende Bordcomputer in Stanley Kubricks „2001“, mitspielt,
       sondern Marcel Urlaub.
       
       ## Projektionswand ist der Star des Abends
       
       Der Mann mit der Goldkette, sie wird später als Streetcredibility
       verheißendes Requisit mehrfach wiederkehren, macht mit seiner auf maximale
       Empfindlichkeit gestellten Digitalkamera, einem gleißenden Blitzgerät und
       dem drahtlosen Übertragungssystem fortlaufend Aufnahmen, die nach kurzer
       Latenzzeit bühnenfüllend projiziert werden. Die ersten Schüsse gehen ins
       Publikum. Das blendet, ist aber vorerst lustig, auch wenn man sich
       ungefragt im Großformat entgegensieht. Glotzt nicht so romantisch! Eben.
       
       Die zentrale Projektionswand, immer wieder aus dem Schnürboden
       herabgelassen, ist der eigentliche Star des Abends. Die human-generierten
       Zeichenfolgen drängt sie zu Mikrofonen an den Bühnenrändern. Das erlaubt
       einen Schnelldurchlauf durch den Stoff. Vorne deklamiert einzig und in
       lobenswert unpathetischem Ernst Andreas Beck als alter Faust dessen
       existenzielle Krise. Der mittlere Faust (Frank Genser) gibt auf der
       Leinwand die Studierstube als Folge cooler Filmstills à la Nouvelle Vague.
       Irgendwann tragen alle Andreas-Beck-Silikonmasken.
       
       Auerbachs Keller und Hexenküche wachsen in einem Cosplay-Setting zusammen.
       Als Gretchen auftaucht und Faust (Claudio Ganske) verjüngt zum Exemplar
       einer dieser X-Y-Z-Generationen geworden ist, wandelt die Bildästhetik sich
       in den shabby chic der Pop- und Modefotografie der frühen 1990er Jahre:
       Bewegungsunschärfe, Gegenlichtreflexe, Körnung und ausgerissene
       Spitzenlichter.
       
       ## Idee vom guten Leben
       
       Gretchens gibt es bis zu vier, Gitte Reppin und Friederike Tiefenbacher
       spielen die Kerkerszene im Netflix-zertifizierten orangen Knastdrillich,
       Hasti Molavian singt schön, aber vergeblich vom „König von Thule“.
       Margaretes Begegnung mit Sexualität ist in dieser den
       Rock-’n’-Roll-Machismo affirmierenden Aufführung nur als Groupie-Sause mit
       zu viel Marschierpulver vorstellbar. Die Idee vom guten Leben, die die
       Teufel, Uwe Rohbeck mit gestutzten Satanshörnern und Lavinia Nowak im
       milden Fetisch-Outfit, dem Helden anempfehlen, reicht nicht weiter als
       Sonne, Strand, Lottosechser und nicht mehr arbeiten müssen.
       
       Wenn der uralte Faust (Uwe Schmiederer) – nach schnellem Vorlauf zum Ende
       des zweiten Teils – blind sehend, weil als Sehender blind, vor seinen in
       der Existenz ungewissen Schöpfer tritt, dürften viele schon ausgestiegen
       sein.
       
       Der Strom der Bilder, die Mühen der Beschallung von Carl Orff bis Dolly
       Parton bleiben in der Fülle Ornament, das nur illustriert, nie in den Text
       eindringt, Fragen stellt oder neue Sichtweisen abverlangt. Medienrezeption,
       die unique selling proposition von Voges’ Theater, erschöpft sich an diesem
       Abend in der digitalen Aufrüstung der Bühnentechnik zur Überwältigung der
       Sinne. Nimmt man das alles weg, bleibt dieser „Faust“ biedere Aufsagerei.
       
       „Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen“, das Zitat aus dem Vorspiel
       auf dem Theater, wendet sich hier zur ironischen Selbstimmunisierung gegen
       jeden Widerspruch. Der „Direktor“ (Uwe Schmiederer) wirbelt nicht nur am
       Anfang über die Szene und stachelt auf zu allem, was beliebt zu machen
       scheint.
       
       ## Unterwerfung aus freien Stücken
       
       Der Dichter gibt verdattert nur zarte Gegenrede. Sich der Affirmation
       widersetzen, das ist so 20. Jahrhundert. Für die zynische Vernunft der
       Kulturindustrie liegt Klugheit in der Unterwerfung aus freien Stücken.
       Warum tut man sich diese unerhörten Sätze aus fernen Zeiten überhaupt an,
       wenn man aus ihnen keinen Widerspruch mehr schöpft zur Art und Weise, wie
       wir als Gesellschaft unsere Leben leben? Wozu überhaupt die ganze Mühe mit
       dem Theater, wenn’s nur um Spielmarken geht?
       
       Dieser „Faust“ wird vermutlich keine überregionalen Preise gewinnen. Das
       haben aber einige Produktionen des Wiener Volkstheaters in der Spielzeit
       zuvor, ausgezeichnet [2][durch Einladungen etwa zum Theatertreffen], die
       sich jedoch in Teilen zumindest weniger den Alltagsroutinen des
       Repertoiretheaters als der Substanzauffrischung im Austausch mit einer
       nicht mehr ortsgebunden agierenden freien Szene verdanken.
       
       Trotzdem greift es zu kurz, den Abend nach altem Brauch einfach zu
       verreißen, ist er doch geradezu ein Lehrstück für die Krise des
       Stadttheaters. Für die vielen vergeblichen Versuche, sich im Angesicht
       sinkender Zuschauerzahlen mit Spiegelfechtereien gegen eine verblichene
       bürgerliche Hochkultur, die ihre hegemoniale Position längst eingebüßt hat,
       einen verspäteten Distinktionsgewinn zu verschaffen.
       
       26 Sep 2022
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
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