# taz.de -- Berliner Register: Mit Stickern fängt der Rechtsruck an
       
       > Ein Spaziergang in Berlin-Reinickendorf besucht Orte rechter Vorfälle im
       > Kiez. Hotspots sind demnach die Residenzstraße und Stellen entlang der
       > U8.
       
 (IMG) Bild: Kampf um Symbole: Ein antikurdisches Graffiti ist übermalt mit der Jahreszahl der Gründung der kurdischen Arbeiterpartei PKK
       
       Der Franz-Neumann-Platz ist in seiner Trostlosigkeit kein guter
       Ausgangspunkt für einen Spaziergang – zumindest nicht, wenn man die schönen
       Ecken von Reinickendorf erkunden will. Der Brunnen mit drei bronzenen
       Frauengestalten ist abgestellt und voller Zigaretten-Kippen, die Bäume vor
       der Geschäftszeile wurden gefällt. Ein Bauschild kündet von einer Zukunft
       mit viel Grün und Platz für spielende Kinder, noch ist davon nichts zu
       sehen.
       
       An den Stufen des trockenen Brunnens versammeln sich an diesem sonnigen
       Nachmittag zwölf Erwachsene, die meisten Frauen mittleren Alters. Sie sind
       gekommen, um am Kiezspaziergang „Rassismus im Ortsteil Reinickendorf –
       gibt's das?“ teilzunehmen. Dafür sei dieser Ort genau der richtige
       Startpunkt, erklärt Johanna Herzog, eine junge Frau, die sich als
       Mitarbeiterin des Registers Reinickendorf vorstellt, das den Spaziergang
       zusammen mit der Volkshochschule und der Stadtbibliothek anbietet. Denn das
       Gebiet Reinickendorf-Ost rings um die Residenzstraße und entlang der U8 sei
       ein Hotspot rassistischer Vorfälle im Bezirk.
       
       Herzog erzählt ein Beispiel: 2023 wurde ein Familienvater auf der
       Residenzstraße, als er gerade sein Kind ins Auto setzte, von einem
       vorbeikommenden Radfahrer rassistisch beleidigt und geschlagen. „Den Grund
       weiß man nicht“, sagt Herzog – und insofern sei der Vorfall typisch. Oft
       gebe es Konflikte im Straßenverkehr „und die Leute greifen schnell zu
       Gewalt“, oft spiele auch Alkohol eine Rolle.
       
       In jedem Berliner Bezirk gibt es ein sogenanntes Register, also eine vom
       Land finanzierte Stelle, bei der Jeder rechtsextreme und diskriminierende
       Vorfälle melden kann. Anders als die Polizei nehmen die Register nicht nur
       strafrechtlich relevantes wie Sachbeschädigungen, Beleidigungen und
       Angriffe auf, sondern auch niedrigschwellige Vorfälle wie Aufkleber oder
       diskriminierende Äußerungen oder Handlungen. Sie überprüfen die Meldungen,
       systematisieren sie und erstellen Chroniken, aus denen sich ablesen lässt,
       wo es in der Stadt besonders viel diskriminierende Gewalt und Aktivität
       gibt.
       
       ## Zahlen in Reinickendorf im Vergleich niedrig
       
       Im Vergleich mit anderen Bezirken, vor allem in Ost-Berlin, sind die Zahlen
       für Reinickendorf eher niedrig: „In Marzahn-Hellersdorf und
       Treptow-Köpenick kommen sie mit der Auswertung der Meldungen gar nicht mehr
       hinterher“, sagt Herzog. Aber [1][wie überall steigen die Zahlen auch in
       Reinickendorf stark an], laut der Chronik von 103 in 2022 auf 175 in 2023.
       
       Beim Spaziergang konzentriert sich Herzog auf rassistische Vorfälle. Sie
       erzählt von einem Brandanschlag auf das Kulturzentrum der Kurdischen
       Gemeinde im vorigen Herbst – ebenfalls in der Residenzstraße – der nur mit
       Glück rechtzeitig bemerkt wurde, so dass es keine Verletzten gab. Der
       Vorstand der Gemeinde vermute türkische Rechtsextremisten von den Grauen
       Wölfen hinter der Tat, denn schon früher hätten diese das Zentrum bedroht.
       
       Die Gruppe ist noch nicht weit gelaufen, da zeigt Herzog in der
       Holländerstraße auf ein Graffiti an einer Hauswand: „1999“ ist
       durchgestrichen und mit „1978“ überschrieben, weitere Zeichen wurden durch
       Übermalung unkenntlich gemacht. Die Zeichen seien [2][Runen gewesen, „ein
       Symbol der Grauen Wölfe“], erklärt Herzog. Die Zahl 1999 verweise auf das
       Jahr der Verhaftung des PKK-Gründers Abdullah Öcalan, 1978 sei das Jahr der
       Gründung der kurdischen Arbeiterpartei.
       
       Die junge Frau lässt Fotos von weiteren Schmierereien rumgehen, darunter
       drei Halbmonde, die in die Scheibe einer Bushaltestelle eingekratzt wurden
       – auch dies ein Zeichen der Grauen Wölfe. „Das sind Dinge, auf die ihr
       achten und uns melden könnt“, ermuntert sie ihr Publikum. Dazu müsse man
       solche Zeichen aber erst einmal erkennen, merkt eine Frau an.
       
       ## Nicht alle Zeichen klar erkennbar
       
       Dass Zeichen oder Sprüche nicht immer für jeden klar als rassistisch zu
       erkennen sind, zeigt sich auch an der nächsten Station, dem Büro der Linken
       am Schäfersee. Es liegt nur wenige Gehminuten von der Residenzstraße in
       einem ruhigen, grünen Viertel, in dem sich schicker Neubau mit einfachem
       Altbaubestand mischt. Auf dem Schaukasten neben dem Linken-Büro, das auch
       als Anlaufstelle für das Register fungiert, habe vor Monaten dieser
       Aufkleber geklebt, erzählt Herzog und hält ein Foto hoch: „Sozialstaat und
       offene Grenzen schließen sich aus“, ist darauf zu lesen.
       
       „Erkennt jemand das Design?“, fragt Herzog in die Runde. Mehrere antworten
       wie aus einem Mund: „Kein Mensch ist illegal!“ Die Referentin nickt, genau
       dies sei das Perfide, erklärt sie: Rechtsextreme übernehmen Machart oder
       Slogans von politischen Gegnern und formen sie in ihrem Sinne um. Als
       anderes Beispiel zeigt Herzog der Gruppe das Foto von einem Aufkleber, der
       „White Lives matter“ verkündet und damit die „Black Lives Matter“-Bewegung
       verächtlich macht. Eine weitere Masche ist die betont „harmlose“
       Bildsprache mancher Aufkleber. Zur Illustration machen Kopien von
       „Abschiebung schafft Wohnraum“ die Runde, auf denen eine comichaft
       gezeichnete junge Blondine lächelt und mit den Händen ein Herzchen formt.
       
       Sticker seien ja zunächst harmlos, meint ein junger Mann, aber angesichts
       der zunehmenden Drohbriefe und Angriffe auf Parteibüros glaubt er, das eine
       führe schnell zum andern. Herzog stimm zu und ergänzt: Es sei umso
       wichtiger, rechte Aufkleber zu entfernen, sobald man sie dokumentiert hat.
       „Wenn so etwas lange stehen bleibt, ermutigt es die Täter, weil sie sich
       bestätigt fühlen.“ Eine Frau warnt, dass unter den Aufklebern Rasierklingen
       versteckt sein könnten. Das gebe es schon, bestätigt Herzog, in
       Reinickendorf sei es aber noch nicht vorgekommen.
       
       Janna Voßnacker vom Grünen-Kreisvorstand Reinickendorf meldet sich zu Wort
       und erzählt von einem „Farbanschlag“ kürzlich auf das Kreisbüro der Grünen
       in Tegel, bei dem Unbekannte den Spruch „Mörder raus“ hinterlassen hätten.
       „Wir wussten gar nicht, wie das gemeint war“, sagt sie. Herzog nickt. Beim
       Register sei man sich zunächst auch unsicher gewesen, welche „Mörder“
       gemeint seien. Aber ein ähnlicher Anschlag auf das SPD-Büro habe deutlich
       gemacht, dass die Schmierereien allgemein gegen MIgration gerichtet seien.
       
       ## Teilnehmer politisch engagiert
       
       Es geht weiter, vorbei an Schäfersee, Kleingärten, Hundeauslaufgebiet und
       Seniorenresidenz. Beim Spazieren kommen die Teilnehmer ins Gespräch: Eine
       Frau aus Frohnau erzählt, sie wolle einfach mehr wissen über ihren Bezirk,
       ein Mann arbeitet mit Jugendlichen, eine ältere Frau, die sich als „Oma
       gegen rechts“ outet, engagiert sich in einem Sprachcafé für Flüchtlinge.
       Die meisten Teilnehmer, so scheint es, beschäftigen sich mit dem Thema
       Rassismus oder sind politisch engagiert.
       
       Vor dem Friedrich-Engels-Gymnasium setzen sich alle bis auf Herzog auf die
       Treppenstufen und strecken die Beine aus. Die Referentin erzählt von Schule
       als „einem Ort struktureller Diskriminierung“, wo das Machtverhältnis
       zwischen Lehrern und Schülern Benachteiligungen Vorschub leiste – vor allem
       von Schwarzen Kindern, oder als Sinti und Roma oder muslimisch Gelesenen.
       
       Wieder ein Beispiel, das dem Register gemeldet wurde: In einer Schule habe
       eine Schwarze Schülerin innerhalb einer Woche dreimal Rassismus erfahren,
       so Herzog. Erst hätten Mitschülerinnen Affenlaute gemacht, dann habe jemand
       das N-Wort gesagt, und schließlich sei das N-Wort im Unterricht verwendet
       worden. „Das führte dazu, dass das Mädchen einige Tage nicht zur Schule
       kam“, so Herzog, die von dem Fall über Schulsozialarbeiter erfahren hat.
       
       Weil der „Tatort Schule“ gar nicht selten ist, gehen Herzog und ihre
       Kollegin auch in Schulen und machen Workshops. „Fortbildungen zum Thema
       Rassismus haben aber an Schulen nicht immer Priorität“, erzählt sie.
       Bisweilen schienen Lehrer kapituliert zu haben vor dem rassistischem
       „Kriegszustand“ auf dem Schulhof. „Andere Schulen sagen dagegen, sie
       greifen sofort ein.“
       
       ## Häufung rassistischer Aufkleber
       
       Weil niemand mehr weitergehen will bis zur letzten Station, erzählt Herzog
       noch etwas über die Gegend rund um die Schule. Am Kolpingplatz gebe es seit
       vorigem Jahr eine Häufung von rassistischen Aufklebern. Wieso hier genau,
       wisse man nicht. Manchmal reiche eine Einzelperson, um die Zahlen in einer
       Gegend hochschnellen zu lassen.
       
       Einer der Spaziergänger erzählt von einem Fall, wo ebenfalls mutmaßlich ein
       Einzelner die ganze Nachbarschaft verärgert hatte: Am Fellbacher Platz in
       Hermsdorf sei kürzlich ein „Mahnmal“ mit Kerzen und Kuscheltieren
       aufgetaucht, das den Opfern von Anschlägen gedachte, die mit Datum
       aufgelistet waren. Allerdings enthielt die Liste nur Morde, die von
       „Ausländern“ begangen wurden. Solche mit „deutschen“ Tätern – etwa Hanau –
       fehlten. Ein paar Anwohner kommentierten das „Mahnmal“ mit eigenen
       Schildern und warnten vor Hetze, schließlich räumte das Ordnungsamt den
       Haufen ab. Kurz darauf war das Mahnmal wieder da, wieder rief jemand das
       Amt.
       
       Doch neben Einzeltätern gibt es auch rechte Strukturen, die im Bezirk
       besonders aktiv sind, sagt Herzog. Etwa der NPD-Nachfolger „Die Heimat“,
       der mit Flyern wie „Migration tötet“ auf sich aufmerksam zu machen versucht
       und 2023 drei Kundgebungen gegen geplante Heime für unbegleitete
       minderjährige Flüchtlinge veranstaltete.
       
       Beim Abschlussgespräch in der Stadtbücherei geht es um eigene
       Rassismus-Erfahrungen, wobei die meisten aufgrund ihres Äußeren nur als
       Zeugen von Vorfällen berichten können. Und es geht darum, was man tun kann,
       wenn man Zeuge von Rassismus wird. Einige Teilnehmerinnen erzählen von
       ihrer Zurückhaltung einzugreifen, sei es aus Angst, selbst zum Ziel zu
       werden oder aus Unsicherheit, wenn es Freunde oder Familienmitglieder sind,
       die sich rassistisch äußern. Herzog erzählt, was sie sich angewöhnt hat,
       wenn sie in der Öffentlichkeit etwas mitbekommt: „Es reicht!“, rufe sie
       dann laut. „Das unterbricht die Situation und lenkt die Aufmerksamkeit der
       Umstehenden auf den Fall“, sagt sie. Und man ist nicht mehr allein.
       
       4 Apr 2025
       
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