# taz.de -- Nachdenken über Weihnachten: Die Rache des Profanen am Sakralen
       
       > Bekanntlich ist Ostern das wichtigste christliche Fest. An Weihnachten
       > dagegen verbündet sich Religion mit dem Kommerz und der bürgerlichen
       > Familie.
       
 (IMG) Bild: Weihnachten: ein besonderes Fest mit besonderen Dingen und Speisen, Geschenken und Geschichten
       
       Was bedeutet die Erfindung des bürgerlichen Weihnachtsfests im Biedermeier?
       Was ist die Pointe am Verständnis des Weihnachtsfests als Familienfest? Ist
       es Zufall, dass sich diese Entwicklung mitten im Jahrhundert der
       Säkularisierung, das heißt im Jahrhundert der Zurückstufung der Religion
       auf ein Funktionssystem der Gesellschaft unter anderen vollzieht?
       
       Man weiß, dass das wichtigste Fest der Christenheit nicht die Geburt Jesu
       Christi, sondern seine Auferstehung feiert. Ostern ist das wichtigste
       religiöse Fest, nicht Weihnachten. Weihnachten hingegen unterliegt dem
       Verdacht einer sentimentalen Feier der Familie und einer kommerziellen
       Ausbeutung der neuen Bereitschaft, den Kindern mehr Aufmerksamkeit zu
       widmen und die Braven mit Geschenken zu belohnen. Was hat das noch mit
       Religion zu tun?
       
       Religion, so hat Émile Durkheim festgehalten, führt in die Gesellschaft
       eine Unterscheidung zwischen profanen und sakralen Dingen ein, die
       wichtiger sei als ihre ältere Unterscheidung zwischen gut und böse. Profane
       Dinge seien mehr oder minder homogen und verdienten nicht mehr als eine
       alltägliche Aufmerksamkeit, während sakrale Dinge heterogen sind und daher
       mit fein abgestuftem, rituell festgelegtem Respekt behandelt werden.
       
       Die Unterscheidung dient der Ausdifferenzierung einer heiligen Sphäre der
       Dinge, Ereignisse, Geschichten und Figuren, doch wichtiger ist das, was
       diese Ausdifferenzierung übriglässt. Den außerreligiösen Rest der Welt,
       obwohl Teil der Schöpfung, macht sich der Mensch untertan und verwendet sie
       als Mittel für seine Zwecke. Profan ist, was zu beliebigen Zwecken
       behandelt werden kann; heilig ist, was seinen Zweck in sich selbst hat.
       
       ## Der Rausch der Gaben
       
       Die traditionelle Gesellschaft unterschied zwischen gut und böse und
       begründete so den Dominanzanspruch der Religion. Die neuzeitliche
       Gesellschaft unterscheidet zwischen sakral und profan und gibt so beidem
       ihr unterschiedliches Recht. Das Weihnachtsfest unterläuft diese
       Unterscheidung. Es führt eine dritte Kategorie ein. Es ist ein besonderes
       Fest, mit besonderen Dingen und Speisen, Geschenken und Geschichten. Das
       Besondere ist weder heilig noch profan.
       
       Die Bibel weiß etwas von Geschenken der [1][Heiligen Drei Könige] an das
       neugeborene, heilige Kind, aber sie weiß nichts vom Weihnachtsmann und
       nichts vom Weihnachtsbaum, dessen Lichter allerdings an die Sternennacht
       erinnern. Das Besondere nimmt Anleihen am Heiligen und wertet das Profane
       auf. Aber seine eigentliche Botschaft ist die Heraushebung des Fests aus
       dem Alltag.
       
       Wem gilt dieses Fest? Aus Anlass der Geburt Jesu Christi, aber mit
       [2][Anspielung auf die Wintersonnenwende] und andere heidnische Feste
       feiert es die bürgerliche Familie, insbesondere die um die Großeltern
       erweiterte Kernfamilie. Die bürgerliche Familie feiert sich, sie ist das
       Besondere, das sich gegenüber dem Adel und der Industrialisierung und
       Urbanisierung behauptet.
       
       Das Gedränge der Weihnachtsmärkte und der Rausch der Gaben profitiert von
       den religiösen Reminiszenzen, wie umgekehrt die Heiligen Messen in der
       Kirche vom bürgerlichen Fest profitieren. Aber streng genommen ist das
       Weihnachtsfest die Implosion des christlichen Glaubens, in der die
       Inkarnation Gottes ebenso wie sein späterer Kreuzestod und seine
       Auferstehung zu einer Folklore geworden sind, in der sich Sentimentalität
       gegenüber der Familie und Melancholie um eine verlorene Evidenz des
       Glaubens zum Amalgam einer verwirrten Geselligkeit verbinden.
       
       ## Emanzipation der bürgerlichen Familie
       
       Man muss dieses Weihnachtsfest nicht als Dekadenzphänomen werten,
       geschweige denn als Symptom einer fortschrittlichen Moderne. Aber es
       verdient den Moment eines nachdenklichen Innehaltens. Weil man die Wucht
       einer gesellschaftlichen Dynamik, hier die Emanzipation der bürgerlichen
       Familie, selten so überzeugend vorgeführt bekommt. Und weil es faszinierend
       ist, zu sehen, wie sich die Religion, nicht nur die Kirche, noch lange
       nicht geschlagen gibt.
       
       Die Religion verbündet sich mit dem Kommerz und der Familie. Sie weiß, dass
       es ohne minimale Momente der Transzendenz, der Auszeichnung des Heiligen
       nicht geht. Das Besondere wäre nicht besonders, wenn es nicht mit dem Index
       einer Aura ausgestattet würde, die über das Profane hinausweist. Es ist der
       Abglanz einer Religion – und wer will bestreiten, dass sich darin eine
       Ahnung von Zusammenhängen zeigt, die selbst religiöser Natur ist? Den
       Kitsch des Weihnachtsfests bekommt man nicht ohne einen Kontext, der selbst
       nicht kitschig ist.
       
       Das Weihnachtsfest ist die Rache des Profanen am Sakralen, von dem es
       unterschieden wird. Im Besonderen verliert sich diese Unterscheidung, ohne
       die Erinnerung an ihre beiden Seiten aufzugeben. Es kommt zu einer
       Transzendenz des Immanenten, die nicht zufällig auf den Namen des
       Ökologischen hört. Denn im Ökologischen ist alles besonders. Nichts ist
       homogen, alles ist heterogen.
       
       Darum wünschen wir uns eine frohe Weihnacht. Wir feiern die
       Unwahrscheinlichkeit unseres Lebens, derer wir auch dann innewerden, wenn
       wir nicht an Götter glauben. Die [3][bürgerliche Familie,] das sind wir
       alle. So oder so lässt sich weder der Adventszeit noch den Weihnachtsfeiern
       ein gewisser „katholischer“ (allumfassender) Übermut auch in schwierigen
       Zeiten nicht absprechen.
       
       24 Dec 2025
       
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