# taz.de -- Romane und Krimis als Graphic Novel: Eine Welt von verwirrender Unwirklichkeit
       
       > Erotische Fesseln, einsame Ermittler und erneuerte Noir-Mythologie.
       > Romane Léo Malets und der Strugatskis neu inszeniert, Brubaker/Sand in
       > Deluxe.
       
 (IMG) Bild: Szene aus Veiko Tammjärv: „Hotel zum verunglückten Alpinisten“, erzählt nach einem Roman von Arkadi und Igor Strugatski
       
       Die Zeit des klassischen Film noir ist schon lange vorbei; sie dauerte von
       1940 bis 1960. Aber dann kam ja der Neo-Noir. So ist etwa die Rolle, die
       Harrison Ford in dem modernen Science-Fiction-Klassiker „Blade Runner“
       (1982) spielt, ohne das Vorbild Humphrey Bogarts nicht denkbar.
       
       Zudem ist auch die Faszinationskraft der ganz alten Filme erstaunlich
       intakt geblieben, nicht zuletzt aufgrund der tiefen Verunsicherung, von der
       sie oft erzählen. Wenig ist im Film noir, wie es scheint. In ihm verwischt
       sich vieles, was zuvor klar geschieden schien, seien es die Unterschiede
       zwischen Gut und Böse oder zwischen weiblichem und männlichem
       Rollenverhalten.
       
       Vom Film noir – sowie den mit ihm geistesverwandten hard boiled novels
       Dashiell Hammetts und Raymond Chandlers – beeinflusst sind auch die 15
       Romane, die Léo Malet (1909 –1996) unter dem Obertitel „Les Nouveaux
       Mystères de Paris“ zwischen 1954 und 1959 verfasst hat.
       
       Jeder von ihnen ist in einem bestimmten Arrondissement der französischen
       Hauptstadt angesiedelt; Hauptfigur ist der Privatdetektiv Nestor Burma.
       Vier dieser Romane hat Jacques Tardi seit den frühen 1980ern als Comic
       adaptiert. Nach einer 25-jährigen Pause legt er jetzt, wie schon mit „Blei
       in den Knochen“ (1990), einen von ihm selbst geschriebenen Burma-Comic vor.
       
       ## Vor Weihnachten in Paris
       
       „Rififi in Menilmontant“ spielt an den Tagen um Weihnachten, im 20. Pariser
       Arrondissement. Hier residiert das Pharma-Unternehmen Manchol, dessen
       diverse Produkte Nestor Burma, der von einem Schnupfen geplagt wird, eifrig
       nutzt. Als Nicole Manchol, die Ehefrau des Besitzers, ihn in seiner Agentur
       aufsucht, hat sie allerdings keinen Auftrag für ihn.
       
       Sie gesteht vielmehr, ihren Ehemann am Abend zuvor „noch vor dem Dessert“
       und „mit größtem Vergnügen“ erschossen zu haben. Unmittelbar darauf begeht
       sie mit derselben Pistole Selbstmord. Burma beginnt zu ermitteln – und
       stellt fest, dass die Geschäfte der Firma Manchol alles andere als sauber
       sind.
       
       Dem Band vorangestellt sind Zeilen aus einem Chanson der Sängerin Dominique
       Grange, die mit Tardi verheiratet ist. Beklagt wird in ihm das Leid von
       Labortieren. Das stellt sich dann als der zeitkritische Kern der Story
       heraus. Eine nur [1][nostalgische Wohlfühllektüre wollte Tardi offenkundig
       nicht] abliefern.
       
       Einen Spaß macht er sich daraus, seinen Helden leicht lächerlich erscheinen
       zu lassen. Dessen Niesanfälle führen mehrfach dazu, dass er in peinlicher
       Weise reichlich Rotz versprüht. Etwas bedauern darf man die Kolorierung.
       Sie ist zwar dezent, aber in Schwarz-Weiß besitzen Burmas Abenteuer, vor
       allem was Pariser Stadtansichten betrifft, eindeutig mehr Atmosphäre.
       
       ## Abgeschnitten in den Alpen
       
       Hoch in die winterlichen Berge führt „Hotel zum verunglückten Alpinisten“.
       Der estnische Zeichner Veiko Tammjärv hat den gleichnamigen Roman des
       [2][russischen Autorenduos Arkadi und Boris Strugatzki], der 1969
       erschienen ist, vor fünf Jahren als Comic adaptiert.
       
       Wegen eines toten Bergsteigers wird der Polizeiinspektor Glebsky in ein
       Hotel gerufen, scheinbar ein Routinefall. Vor Ort wird er jedoch mit
       mehreren merkwürdigen Gästen konfrontiert: einer darf sich aufgrund seiner
       Tuberkulose nicht im Innern aufhalten, ein anderer, der Physiker ist,
       stellt sich als „Oberbefehlshaber der kybernetischen Streitkräfte“ und
       Mitarbeiter des angeblich streng geheimen „Projekts Midas“ vor. Der dicke
       Herr Moses hat eine schöne, deutlich jüngere Frau, die gerne mit anderen
       Männern tanzt. Schließlich geschieht ein Mord.
       
       Manches erinnert hier an Agatha Christies „Mord im Orientexpress“. In
       beiden Fällen gibt es einen auf sich gestellten Ermittler und mehrere
       verdächtige Figuren; dem im Schnee steckengebliebenen Zug entspricht das
       Hotel, das eine Lawine von der Außenwelt abschneidet. Aber im Comic gibt es
       keine endgültige Aufklärung.
       
       Wer in „Hotel zum verunglückten Alpinisten“ ist Mensch oder Android, Mann
       oder Frau, Erdenwesen oder Außerirdischer? Wie ist der größere
       Zusammenhang, in dem alles steht? Am Ende ist dies nur zu einem Teil klar,
       und der stark abstrahierte, von harten Farbkontrasten geprägte Noir-Stil
       Tammjärvs, in dem Schwarz, Blau und Rot dominieren, verstärkt den Eindruck,
       in eine Welt von verwirrender Unwirklichkeit einzutauchen.
       
       ## „Criminal“ in Deluxe Edition
       
       Mit Unterbrechungen schon seit 2006 erscheint die von Ed Brubaker
       geschriebene und von Sean Phillips gezeichnete Comic-Serie „Criminal“. Die
       ersten 13 Ausgaben liegen in einer voluminösen Deluxe Edition vor.
       Enthalten sind drei Story Arcs. In der ersten lässt sich der Taschendieb
       Leo für die Planung eines Diamantenraubs verpflichten.
       
       In der zweiten ist der Army-Veteran Tracy auf der Suche nach dem Mörder
       seines jüngeren Bruders Ricky. Die dritte blendet zurück in die 1970er und
       ist aus drei Perspektiven erzählt: Ein afroamerikanischer Boxer steht vor
       seinem großen Aufstieg; Tracys Vater Teeg bekommt Schwierigkeiten mit einem
       Gangsterboss; eine junge, heroinsüchtige Afroamerikanerin geht im
       kriminellen Milieu unter.
       
       Schauplatz von „Criminal“ ist die fiktive US-amerikanische Großstadt Center
       City, dort speziell die schäbige Bar „Undertown“, die von ihrer
       Stammklientel nur „Undertow“ („Sog“) genannt wird. Zu Recht, denn sie ist
       ein Platz von unwiderstehlicher Anziehungskraft. In ihr kreuzen sich die
       Schicksale, und dies nicht nur einmal, sondern immer wieder.
       
       ## Eine „Comédie humaine“
       
       Wie in Balzacs „Comédie humaine“ treten in „Criminal“ Figuren mehrfach auf,
       mal im Zentrum, mal am Rand der jeweiligen Handlung, wobei familiäre und
       erotische Bande vor allem als Fesseln erscheinen, von denen sich zu
       befreien unmöglich ist; vielmehr führen sie zielsicher ins Verhängnis oder
       in den Tod.
       
       Erneuert Brubaker die Noir-Mythologie? In inhaltlicher Hinsicht nur
       ansatzweise, wenn er als Motivation krimineller Taten sehr alltägliche
       finanzielle Gründe ins Spiel bringt, etwa die Sorge um einen dementen
       Angehörigen. Die groß angelegte epische Verzweigung, die über die einzelnen
       Story Arcs hinausgeht, ist aber schon ein Meisterstück.
       
       Zudem hat er mit Sean Phillips einen Zeichner zur Seite, der seine Aufgabe
       nicht darin sieht, selbst groß zu glänzen, sondern primär Partner des
       Szenaristen zu sein.
       
       Nicht zu unterschätzen ist auch der Anteil, den Val Staples, der Kolorist,
       am Gelingen von „Criminal“ hat. Die gedeckten Farben, die er wählt,
       vermitteln ein Gefühl von Beklemmung, von Unausweichlichkeit, wie es
       Schwarz-Weiß nicht besser könnte.
       
       21 Dec 2025
       
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