# taz.de -- Freiwillige Hilfestellungen: Die dunkle Seite des Ehrenamts
> Alle Jahre wieder kommt der Appell, sich unentgeltlich für den Nächsten
> einzusetzen. Das Armutszeugnis eines perfiden Gesellschaftsentwurfs?
Der Staat, unsere Gesellschaft gibt jedes Jahr hunderte von Milliarden Euro
aus, nimmt astronomische Kredite auf – unter anderem für Autobahnen,
Zugverkehr, Waffenproduktion, künstliche Intelligenz, Experimente im
Weltraum, Förderung der Unterhaltungs- und Videospielindustrie und vieles
Wunderbare mehr. Aber um jedem Mitbürger die Teilnahme an einem würdigen
Leben zu garantieren, dafür sind die Kassen knapp, dafür haben wir kein
Geld.
So appellieren unsere Staatsoberhäupter im Gewand der Moralapostel zu jedem
Weihnachtsfest, zu jedem Jahreswechsel, man solle sich doch unentgeltlich
für den Nächsten einsetzen – um Notlagen abzufedern. Hallo, geht’s noch?
Die ehrenamtliche Arbeit, vor allem im sozialen Bereich, das heißt, der
unentgeltliche freiwillige Einsatz, die nicht monetär entlohnte Leistung
des Einzelnen für „einen guten Zweck“ steht in unserer Gesellschaft
moralisch besonders hoch im Kurs – und das ist auch gut so! Aber worum geht
es dabei wirklich?
Deutschland ist ein Land des Ehrenamts. Fast [1][30 Millionen Deutsche, 40
Prozent] der über 14-Jährigen, engagieren sich freiwillig, davon rund 2,6
Millionen Menschen allein im sozialen Bereich. Die offiziellen Zahlen sind
aber nur die halbe Wahrheit, denn nicht erfasst sind all die Menschen, die
unentgeltlich sozial engagiert, aber nicht offiziell in Vereinen oder
Initiativen registriert sind. Das können [2][Nachbarschaftshilfe],
informelle Unterstützung von älteren oder kranken Menschen, private
Obdachlosenhilfe, Nachhilfe, ehrenamtliche Begleitung und anderes sein.
Schätzungen legen nahe, dass die Dunkelziffer bei ehrenamtlich im sozialen
Bereich engagierten Menschen bis zu 50 Prozent über den offiziellen Zahlen
liegen könnte, das wären über 5 Millionen sozial engagierte Freiwillige.
Diese Menschen setzen sich für andere ein, retten Leben, kümmern sich dort,
wo der Staat wegschaut. Wie sähe Deutschland ohne Ehrenamt aus? Geflüchtete
hätten es schwerer, sich im Land zurechtzufinden, Bedürftige müssten
häufiger hungern, Obdachlose hätten weniger Zufluchtsorte, alte Menschen
wären einsamer, vielen Kindern würde niemals vorgelesen.
Würde es brennen, käme in vielen kleineren Orten wohl niemand zum
[3][Löschen]. Nach einem Hochwasser wären die Betroffenen noch mehr auf
sich allein gestellt. In erster Linie geht es darum, Menschen in prekären
oder Notsituationen zu helfen. Wer durch das soziale Netz fällt, wer den
Anschluss an unsere Leistungsgesellschaft verloren oder nie geschafft hat,
ist besonders auf Unterstützung angewiesen: Obdachlose, Mittellose, Opfer
von Gewalt und Stigmatisierung, Menschen mit schwerem körperlichen und/oder
psychischen Leiden, die es allein nicht schaffen, das Mindestmaß eines
würdigen Lebens zu erreichen.
## Jemand da zum Löschen?
Diese Hilfebedürftigen stehen [4][am Rande der Gesellschaft], sind oft
nicht gemeldet, erscheinen in keinen offiziellen Statistiken und führen
meist ein Leben in sozialer Ausgrenzung. Immer mehr Menschen gehören dazu,
und das sind nicht nur die „Verlierer“ unserer Spaß- und
Wettbewerbsgesellschaft; nicht nur die sogenannten Wirtschafts-, Klima- und
Kriegsflüchtlinge. Immer öfter trifft es Leute aus jenen Wohnungen, jenen
Stadtvierteln nicht weit von uns, die irgendwie auch so aussehen wie wir,
die abrutschen in die Mittellosigkeit, Depression, in die Einsamkeit – in
aller Stille, ohne sich irgendwo festhalten zu können.
Die steigende Tendenz [5][sozialer Missstände in Deutschland] über die
letzten zehn Jahre spricht Bände, überall gehen die Zahlen nach oben –
Wohnungs- und Obdachlosigkeit, Armutsgefährdung, prekäre Beschäftigung,
Depressionen und Vereinsamung. Mit dem evidenten, aber unausgesprochenen
Hinweis, selbst nicht die nötigen finanziellen Ressourcen zur Verfügung
stellen zu können, appelliert der Staat an das Mitgefühl der Bürger und
Bürgerinnen – mit inbegriffen sind Zeit, körperliche und psychische
Leistung und persönliche Geldmittel –, sich doch auch um diese Missstände
ein bisschen zu kümmern – selbstverständlich gratis.
Der genaue finanzielle Wert des Ehrenamts für den Staat lässt sich nicht
beziffern, denn unbezahlte Tätigkeiten werden bei der Berechnung des
Bruttoinlandsprodukts (BIP) grundsätzlich nicht berücksichtigt. Ohne
Zweifel ist er enorm. Ehrenamtliches Engagement ersetzt Leistungen, die
andernfalls auch von bezahlten Fachkräften erbracht werden müssten. Damit
werden dem Staat immense Kosten erspart – vor allem im sozialen Sektor,
aber auch in Bereichen wie Bildung, Sport und Kultur.
## 77 Milliarden spart der Staat
Eine grobe Schätzung lässt die tatsächliche Dimension erkennbar werden:
Davon ausgehend, dass jeder und jede der 30 Millionen Freiwilligen
durchschnittlich pro Jahr ehrenamtlich 200 Arbeitsstunden leistet, was eher
niedrig ansetzt, und die sich ergebende Gesamtzahl mit dem aktuell
geltenden Mindestlohn in Höhe von 12,82 Euro multipliziert wird, dann
erhält man einen volkswirtschaftlichen Wert dieser Arbeitsleistung von 77
Milliarden Euro.
Und hier ist die Dunkelziffer der nicht offiziellen, nicht registrierten
ehrenamtlich Engagierten noch nicht einmal mitgerechnet. Insgesamt dürfte
der tatsächliche Wert der ehrenamtlich geleisteten Arbeit eher im Bereich
von jährlich mindestens 100 Milliarden Euro liegen. Das ist mehr als zwei
der größten Posten des Staatshaushalts – der Verteidigungsetats, der im
laufenden Jahr (das Sondervermögen nicht mitgerechnet) bei 62 Milliarden
Euro lag, oder der Etat für [6][Verkehrsinfrastruktur] mit 38 Milliarden
Euro.
Wenn man sich diese Zahlen vergegenwärtigt, wird klar, warum Präsident und
Kanzler uns jedes Jahr darum anbetteln, jene Kosten des Ehrenamts zu
übernehmen, schließlich sind andere Dinge doch viel wichtiger für den Staat
und für uns, oder nicht? Aber Moment mal, wie wäre das eigentlich, wenn der
Staat diese, sagen wir mal 100 Milliarden Euro im Rahmen einer
hypothetischen „ideologischen“ Haushaltsreform tatsächlich für die
Gesellschaftsbereiche des heutigen Ehrenamts einplanen würde?
Wenn Frank-Walter Steinmeier und Friedrich Merz am Jahresende in einer
feierlichen gemeinsamen Fernsehansprache uns Bundesbürger bitten würden,
entsprechend für die Finanzierung des Wehretats oder für die
Verkehrsinfrastruktur zu spenden? Es steht außer Frage, dass die
persönliche Solidarität mit den Schwächeren und Nächstenliebe zu den
höchsten moralischen Werten gehören, die es in einer solidarischen
Gesellschaft geben kann. Und es ist richtig und gut, wenn sich jeder von
uns entsprechend einbringen würde.
## Neue Prioritäten setzen
Doch hier geht es gesellschaftspolitisch um etwas anderes. Denn es sind ja
gerade unsere Wirtschafts- und Sozialsysteme, es sind die Konsequenzen
unserer eben auch so gewollten Wettbewerbs- und profitorientierten
Leistungsgesellschaft, es ist der allgegenwärtige Materialismus und
Individualismus, welche eben diese Missstände hervorbringen, welche
verantwortlich sind für finanzielle Not, soziale Ausgrenzung, körperliches
und seelisches Leid vieler Menschen – ja, eben auch in einer Demokratie,
wie der unsrigen.
Ist es da moralisch akzeptabel, dass wir, dass sich der von uns gewählte
und finanzierte Staat beziehungsweise die Regierung aus der Verantwortung
stiehlt; dass man nicht die nötigen finanziellen Mittel zur Verfügung
stellt, nicht zur Verfügung stellen will, um eben auch diesen
„unproduktiven“ Menschen ein würdiges Leben als anerkannte Mitglieder
unserer Gesellschaft zu garantieren?
Nicht anders verhält es sich mit den Aufrufen zum Spenden im Falle von
Katastrophen und Missständen weltweit, wenn Klimaextreme, Kriege, Gewalt
Menschen ins Elend katapultieren. In Deutschland wurden 2024 insgesamt
[7][12,5 Mrd. Euro für gemeinnützige Zwecke] gespendet. Etwa ein Viertel
davon ging an die [8][Sofort- und Nothilfe in Kriegs- und
Katastrophengebieten]. Der Staat dagegen brachte für Letzteres mit 1,6
Milliarden Euro im vergangenen Jahr gerade einmal die Hälfte auf den Weg.
Auch hier sollte es eine Selbstverständlichkeit sein, dass ein moderner
reicher Staat, ein Staat, der zweifelsohne auf der Gewinnerseite der
Geschichte dieses Planeten steht, unmittelbar Verantwortung übernimmt und
handelt anstatt mithilfe pathetischer Spendenaufrufe die Verantwortung
teilweise an die Bürger abzuschieben. Geld hat der deutsche Staat genug, um
sich auch in diesem Bereich entsprechend seines wirtschaftlichen Gewichtes
international solidarisch einzubringen.
Der persönliche Einsatz als Ehrenamtliche lindert zwar bis zu einem
gewissen Punkt die Negativsymptome unseres kapitalistischen
Gesellschaftsmodells, doch begünstigt und subventioniert er damit auch ein
System, das auf Einkommensdisparitäten und Ungleichverteilung beruht. Ziel
muss es hingegen sein, unsere Gesellschaftsstrukturen so zu verändern,
unsere moralischen Prioritäten dahingehend neu aufzustellen, dass der Staat
– den in einer funktionierenden Demokratie wir, die Bürger repräsentieren –
selbst entsprechend ausreichende Ressourcen zur Verfügung stellt.
Damit wir jeden Mitmenschen bedingungslos mitnehmen und stützen können. Es
muss darauf hingearbeitet werden, dass sich materielle Notlagen und prekäre
soziale Missstände in einer zukünftigen Gesellschaft gar nicht erst
entwickeln können. Das ist möglich und keine Utopie – man muss nur die
Prioritäten ändern. Aber wollen wir das?
24 Dec 2025
## LINKS
(DIR) [1] https://www.stern.de/gesellschaft/ehrenamt/ehrenamt--so-wertvoll-ist-der-einsatz-von-millionen-freiwilligen-30973746.html
(DIR) [2] /Onlineplattform-nebenande-/!6082421
(DIR) [3] /Waldbraende-in-Ostdeutschland/!6098415
(DIR) [4] https://www.boeckler.de/de/auf-einen-blick-17945-20845.htm#:~:text=Der%20Anteil%20der%20Bev%C3%B6lkerung,%20der,%C3%BCber%20alle%20untersuchten%20Jahre%20hinweg.
(DIR) [5] /Armut-in-Deutschland/!6074781
(DIR) [6] /Verkehrshaushalt/!6129152
(DIR) [7] https://www.dzi.de/aktuelles/spenden-2024-grosszuegigkeit-bleibt-ungebrochen/?utm_source=chatgpt.com
(DIR) [8] https://www.dfrv.de/wp-content/uploads/2023/11/Pressecharts-DSM23-gen.pdf?utm_source=chatgpt.com
## AUTOREN
(DIR) Albert T. Lieberg
## TAGS
(DIR) Haushalt
(DIR) Ehrenamt
(DIR) Wohlfahrt
(DIR) Freiwillige
(DIR) GNS
(DIR) Ehrenamt
(DIR) Lesestück Interview
## ARTIKEL ZUM THEMA
(DIR) Freiwilliges Engagement: Weniger Ehrenamtliche arbeiten mehr für umsonst
Am Freitag stellte die Bundesregierung ihren aktuellen Ehrenamt-Bericht
vor. Knapp ein Drittel engagiert sich freiwillig, etwas weniger als 2019.
(DIR) Zehn Jahre Welcome Dinner in Hamburg: Zusammen isst man weniger allein
Seit 2015 bringt der Verein Welcome Dinner Menschen mit und ohne
Fluchterfahrung an Esstischen zusammen – trotz der ablehnenden
Migrationsdebatte.
(DIR) 97-Jährige über Arbeit mit Obdachlosen: „Mir ist der Respekt wichtig“
Annemarie Streit kümmert sich in Hannover seit über 40 Jahren ehrenamtlich
um Obdachlose. Die 97-Jährige denkt gar nicht daran, damit aufzuhören.