# taz.de -- Huddersfield Contemporary Music Festival: Wenn sich Legenden bei Pizza Hut treffen
> Das wichtigste britische Festival für zeitgenössische Musik findet in
> Huddersfield statt. Allem Sparzwang zum Trotz ist es beim Publikum
> etabliert.
(IMG) Bild: Drones-Dudelsack wie noch nie: Brìghde Chaimbeul live beim Huddersfield-Festival
Der Dudelsack, schottisches Nationalsymbol: Kaum ein Instrument scheint
derart klischeebefrachtet: sein unverkennbarer Klang, das Fanfarenhafte.
Was Brìghde Chaimbeul, aufgewachsen auf der wildromantischen Isle of Skye,
ihrem Dudelsack entlockt, hat jedoch eine diametral entgegengesetzte,
psychedelische Wirkung.
Fast fühlt man sich in Trance versetzt. Wenn man der 27-Jährigen dabei
zuschaut, hat das darüber hinaus Schauwert – wirkt ihr Instrument doch wie
ein unbändiges Haustier, das rumkrabbelt und spielen will: der Luftsack,
den sie mit Armbewegungen bepumpt, die Pfeifen, die Drones und mäandernde
Melodien hervorbringen.
[1][Chaimbeul erzeugt ihren eigenwilligen Sound mit sogenannten
Smallpipes], dem kleineren Cousin der berühmten Highland Bagpipes. Ihr
Klang ist wärmer und weicher. Lange in Vergessenheit geraten, wurde diese
Tradition durch den Dudelsackbauer Hamish Moore erst in den letzten
Jahrzehnten wiederbelebt.
## Brummender Klangteppich
Doch wie Chaimbeul bei ihren folkloristisch verwurzelten Stücken – ihre
Grundlage sind meist Traditionals – Melodien über einen brummenden
Klangteppich langsam verschiebt und ihnen so eine
avantgardistisch-minimalistische Anmutung gib, macht ganz neue Hallräume
auf. Zu erlauschen war das in Nordengland beim Huddersfield Contemporary
Music Festival, kurz hcmf, das Ende November während zehn Tagen stattfand.
„Und doch wäre es heikel, beim hcmf von Folk Music zu sprechen“, bilanziert
Graham McKenzie, künstlerischer Leiter des Festivals, an nächsten Tag mit
einem leichten Schmunzeln „Also nennen wir es einfach ‚Musiktraditionen im
zeitgenössischen Kontext‘.“ Mit Gralshütern und ihren Erwartungen hatte er
schon öfter zu tun, seit er vor fast 20 Jahren diesen Job übernommen hat.
Schnell hatte sich das Huddersfield-Festival nach der Gründung 1978 zur
bedeutendsten Institution für neue Musik in Großbritannien entwickelt:
Karlheinz Stockhausen, John Cage, Terry Riley, Steve Reich – alle kamen sie
nach Huddersfield, eine mittelgroße Stadt in Yorkshire. Zu Wohlstand
gekommen war der inmitten stimmungsvoller Landschaften gelegene Ort durch
die Textilindustrie, doch der Strukturwandel der 1970er Jahre traf
Nordengland besonders hart.
Immerhin gab es dort eine Hochschule, an der der Komponist Richard Steinitz
unterrichtete. Als die staatliche Kulturförderung, der englische Arts
Council, die Idee hatte, dem „Festival für frühe Musik“ in York ein
zeitgenössisches Pendant gegenüberzustellen, stieß das in den Zentren der
Region, in York oder Leeds, auf wenig Interesse. Steinitz fand: „Warum
nicht Huddersfield?“
## Ahnungslose Fastfood-Entscheider
Der Rest ist Geschichte – und produzierte viele schöne Geschichten. Etwa
die, wie sich die Neue-Musik-Ikonen Pierre Boulez und John Cage nach
jahrzehntelangem Streit 1989 dort wieder begegneten, und zusammen mit dem
französischen Komponisten Olivier Messiaen bei Pizza Hut landeten – anders
als heute, hatte die Stadt damals kulinarisch wenig zu bieten. McKenzie
hatte die Idee, an dieses historische Treffen mit einer der in England weit
verbreiteten Gedenktafeln zu erinnern. Doch der Vorschlag wurde vom
[2][Headquarter der Fastfoodkette negativ] [3][beschieden] – keiner der
Entscheider in der Unternehmenszentrale wusste, wer die drei legendären
Komponisten überhaupt sind.
Als McKenzie übernahm, 30 Jahre nach Festivalgründung, war es Zeit für
Neues – auch mit Blick darauf, was „Neue“ Musik heute bedeutet: „Für mich
umfasst zeitgenössische Musikpraxis alles – vom Noise bis hin zur
Orchestermusik. Und all das dazwischen, was nicht Mainstream ist:
Improvisation, Elektronik, Soundinstallationen“, erklärte der umtriebige
Festivalchef.
## Von Kirche bis Textilfabrik
Schnell verjüngte und öffnete er das hcmf – auf Musiker:innen- wie auf
Publikumsseite. [4][An fußläufig erreichbaren Spielstätten von der
Stadthalle über Gemeindekirchen bis zur ehemaligen Textilfabrik findet das
breit gefächerte Programm an schönen Orten statt]. Allein die diesjährige
Ausgabe hielt gut 30 Welt- oder UK-Premieren bereit.
Darüber hinaus lässt man sich einiges einfallen, um den Einstieg in die
Avantgarde-Musik niedrigschwellig zu halten. Etliche Konzerte sind
kostenlos, der Festival-Montag ist traditionell von Mittag bis in die Nacht
vollgepackt mit Gratisevents – was beim städtischen Publikum offenbar
ankommt.
Die Luft ist jedenfalls noch nicht raus, als das Festival auf der
Zielgeraden ankommt. Die Konzerte sind gut besucht, Jung und Alt bunt
gemischt. Die Universität ist der Kooperationspartner des Festivals, unter
30-Jährige zahlen nur kleines Geld.
## Alle Register abdecken
Immer wieder erwartet das Publikum Überraschendes. Etwa beim finnischen
Quartett Saxtronauts. Die Frauen deckten alle Register von Sopran- bis
Baritonsaxofon ab und klingen ähnlich weit entfernt von klanglichen
Stereotypen wie Chaimbeul mit ihrem Dudelsack. Zarte, ambientartige Flächen
verbinden sie mit rhythmischer Präzision.
Als Highlight des finalen Wochenendes bleibt jedoch in Erinnerung, was das
Genfer Ensemble Contrechamps aufbietet. Mit der Aufführung des Stücks
„Signal-to-noise ratio“ (1986) von Olga Kokcharova gehen die
Musiker:Innen dem Verhältnis nach zwischen übermittelter Information
und den Geräuschen, die solche Transfers begleiten; eine ambienthafte, eher
tastende Erkundung.
Der zweite Teil des Abends gehörte mit „Sang d’Angle“ (2024) einer
Komposition von Wassim Halal. Der Franzose mit libanesischen Wurzeln
verbindet wilde Zauberei auf der Darbuka-Trommel mit experimentellen
Elementen. Das polyrhythmische Pingpong mit dem Ensemble ist frenetisch,
flirrend und von Humor getragen – ein Antidot zu Bedeutungsschwere, die mit
experimenteller Musik allzu oft verbunden wird.
## Harter Existenzkampf
Bei einem so kurzweilige Programm lässt sich fast vergessen, dass das
Festival finanziell zu kämpfen hatte – ein Existenzkampf, weit härter als
der von vergleichbaren Veranstaltungen auf dem europäischen Festland.
McKenzie betont, dass die Probleme im Vereinigten Königreich nicht erst mit
der Austeritätspolitik begannen.
„Seit ich auf der Welt bin, hatte Kulturförderung keinen hohen Stellenwert.
Das einzig Positive, was sich diesbezüglich über Großbritannien sagen
lässt: Selbst bei einer Veränderung der politischen Landschaft kann man bei
den Künsten kaum noch etwas wegnehmen. In anderen Ländern hingegen führen
Einschnitte gleich dazu, dass künstlerische Biotope kollabieren.“
Und natürlich hat das Festival auch mit den Folgen des Brexits zu kämpfen:
Allein in diesem Jahr sind dem Festival durch den Wegfall des
Förderprogramms „Creative Europe“ umgerechnet rund 137.000 Euro verloren
gegangen. Um dem entgegenzusteuern, wurden langjährige Partnerschaften
aufgebaut, aktuell mit den EU-Ländern Litauen, Estland, Finnland und
Irland. McKenzie betont, dass Auftragsarbeiten solcher Kooperationen nicht
nur einmal aufgeführt werden, um dann zu verstauben, sondern an
verschiedenen Orten ihr Publikum finden.
## Verlässliche Partnerschaften
Die Ausgabe 2025 wartete mit einer weiteren Neuerung auf: Für einen
Festivaltag übernahm Tim Isfort, Komponist, Musiker und künstlerische
Leiter des deutschen Moers-Festivals, in Huddersfield die Kuration – im
Gegenzug war das hcmf bei der letzten Moers-Ausgabe zu Gast. Die Reihe XN
(Experimental Encounters) ist ein Joint-Venture der deutschen Gesellschaft
zur Verwertung von Leistungsschutzrechten mbH (GVL) und der PPL, ihrem
britischen Pendant; unterstützt wird das vom Goethe-Institut.
Den Auftakt macht der Pianist und Soundtüftler Stefan Schultze. Gleich zwei
Klavieren entlockt er wilde Klangkaskaden und rhythmisch grundiertes
Pling-Pling und [5][lässt die Grenzen zwischen Komposition und Remix
verschwimmen] – einer der Flügel ist zum sich selbst spielenden Player
Piano umgerüstet. Gesteuert wird das, was Schultze vorab eingespeist hat,
durch MIDI-Komponenten und KI-Programmierung.
Die Berliner Vibrafonistin Evi Filippou und der deutsch-rumänische Bassist
Robert Lucaciu sorgen im Anschluss mit der vergnügten Chemie, die sie auf
die Bühne bringen, für beglückte Gesichter. Als passender Abschluss des
bunten Moers-Tages erweist sich die Präsentation dessen, was Carolin Pook,
Violinistin und Komponistin, und vier in UK lebende
Experimentalmusiker:innen, die sich für den Workshop beworben haben, in
drei gemeinsamen Tagen erarbeitet haben.
Adam Denton, Alexander Painter, Gloria Yehilevsky und Jui Ying Huang (ihre
musikalische Ausbildung hatte sie beim taiwanesischen Militär!)
durchstreifen unterschiedlichste Klangwelten, driften auseinander und
finden wieder zusammen, dass es eine Freude ist. Und präsentieren damit „in
a nutshell“ den Reiz dieses besonderen Festivals.
Weitere Infos: [6][hcmf.co.uk]
Transparenzhinweis: Die Recherche zu diesem Text wurde vom Festival
unterstützt.
5 Dec 2025
## LINKS
(DIR) [1] https://www.youtube.com/watch?v=4KImkTRY4iM
(DIR) [2] https://www.admresidential.co.uk/news/is-huddersfield-a-good-area-to-live-in-for-2025-a-comprehensive-guide-to-yorkshires-hidden-gem/
(DIR) [3] https://www.admresidential.co.uk/news/is-huddersfield-a-good-area-to-live-in-for-2025-a-comprehensive-guide-to-yorkshires-hidden-gem/
(DIR) [4] /Musikfestival-in-Marseille/!6078465
(DIR) [5] /Avantgarde-Musikfestival-in-Apulien/!6120579
(DIR) [6] http://hcmf.co.uk/
## AUTOREN
(DIR) Stephanie Grimm
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