# taz.de -- Raubdruck: Hehlerware als Kulturgut: Als das bürgerliche Copyright noch zerschlagen werden sollte
       
       > Eine Tagung in Leipzig befasste sich mit der westdeutschen Kultur der
       > Raubdrucke. In linken Buchläden waren diese Werke zwischen 1960 und 1980
       > weit verbreitet.
       
 (IMG) Bild: Raubdruck (1969) von Karl Korschs Schrift „Die materialistische Geschichtsauffassung“ (1929)
       
       Die Drohung ist hart, ihr Ironiegrad etwas unklar: „Verbindlicher
       Richtpreis: 4 DM. Wer mehr nimmt, wird nach der Revolution erschossen!“ Die
       dies schreiben, sind Raubdrucker*innen und die, die hier gemeint sind,
       sind Buchhändler*innen.
       
       Zu finden ist das Statement in einem Raubdruck – dem ursprünglichen Text
       hinzugefügt wurde es als Positionierung im Klassenkampf. Bücher haben
       Gebrauchswert, nicht Warenwert, und wer sie zum Zweck der Profitmaximierung
       herstellt oder verkauft (bürgerliche Verlage, Buchhändler*innen), kann
       nicht Teil der sich als antiautoritär verstehenden Bewegung sein:
       „Zerschlagt das bürgerliche Copyright!“
       
       Wir befinden uns im West-Berlin und der Bundesrepublik der Jahre um 1968.
       Die Neue Linke sucht nach revolutionären Texten und findet sie oft in nicht
       zuletzt als Folge des Nationalsozialismus verlorenen Büchern linker
       Autor*innen der Zwischenkriegszeit.
       
       ## Grundlagen der proletarischen Erziehung
       
       Mit Texten, die nach dem Krieg in der Bundesrepublik nicht oder zumindest
       für das Gros der sich zunehmend [1][im Sozialistischen Deutschen
       Studentenbund (SDS)] Organisierenden kaum erhältlich sind, greift man auf
       das Archiv der Bewegungsgeschichte zurück. Der Titel „Die Grundfragen der
       proletarischen Erziehung“ des marxistischen Theoretikers und Politikers
       Edwin Hörnle aus dem Jahr 1929 gehört hierzu; aus dem um 1970
       veröffentlichten Raubdruck dieses Buches stammt die Drohung.
       
       Wie dieser Titel wurden viele andere seinerzeit von sich in den Büchern
       nicht zu erkennen gebenden, aber sich oft durch derlei Anmerkungen
       einmischenden Personen oder Kollektiven mit einfachen Mitteln auf damals
       erschwinglichen Druckmaschinen und unter Umgehung des Urheberrechts – also
       meist auch ohne Wissen und Erlaubnis der Autoren – unautorisiert
       vervielfältigt. „Sozialisierte Drucke“ und „proletarische Reprints“ waren
       zwei Schlagwörter dieser Zeit, die das Thema Raubdruck den
       Begründungszusammenhängen des Kapitals entziehen wollten.
       
       Die Praxis des Raubdrucks war um 1968 natürlich nicht neu, ihre Geschichte
       reicht weit zurück in die Frühe Neuzeit und die Zeit der Entstehung des
       Urheberrechts. Für die Geschichte der Bundesrepublik im Allgemeinen und der
       Neuen Linken im Besonderen lässt sich am Thema Raubdruck ablesen, wie
       sowohl auf Grundlage der seinerzeit rezipierten Texte, als auch über deren
       materielle (Re-)Produktions- und Verbreitungsgeschichte, die
       Wiederentdeckung der Kritischen Theorie durch die Studentenbewegung zur
       Zeitgeschichte wurde. Am Raubdruck ist auch ersichtlich, wie sich
       diskursive Themen veränderten.
       
       ## Von Wilhelm Reich bis Michael Ende
       
       Als „alternative“ Form der Literatur- und Buchproduktion brachte der
       Raubdruck in der Bundesrepublik von den 1960er bis zu den 1980er Jahren so
       durch etwa „verbilligte Volksausgaben“ genannte Reprints hunderte
       verschiedener Titel „hervor“. Anfangs waren das etwa (freudo-)marxistische
       Klassiker von Wilhelm Reich, Karl Korsch, Walter Benjamin und [2][Max
       Horkheimer], in der Spätphase dann eher Michael Endes „Unendliche
       Geschichte“, Peter S. Beagles „Das letzte Einhorn“, oder auch mal ein
       [3][David-Bowie-Songbook.]
       
       Wenn nun an der Deutschen Nationalbibliothek (dnb) in Leipzig eine Tagung
       stattfand, die vorhandene Forschungsansätze unter dem Titel „Schwarzer
       Markt für rote Bücher. Zur Raubdruckbewegung der 1960er bis 1980er Jahre in
       der Bundesrepublik Deutschland“ bündelte, dann aus aktuellem Grund: Im Jahr
       2023 erwarb die Nationalbibliothek – auf Vermittlung der in Erlangen
       lehrenden Literaturwissenschaftlerin Annette Gilbert, die auch die Tagung
       organisierte – die Raubdrucksammlung von Albrecht Götz von Olenhusen
       (1935–2022).
       
       [4][Götz von Olenhusen war über Jahrzehnte als Anwalt im Urheber-, Verlags-
       und Medienrecht] in Freiburg tätig, saß dort auch lange Jahre für die SPD
       im Stadtrat, zuletzt wohnte er in Düsseldorf. Seine in Vollständigkeit und
       Umfang als einzigartig geltende Sammlung umfasst mit ihren rund 4.000
       Raubdruckexemplaren viele Regalmeter im Speicher der Nationalbibliothek.
       
       ## Sammlung Götz von Olenhusen
       
       Die Sammlung Götz von Olenhusens, der bereits 1973 (gemeinsam mit Christa
       Gnirß) ein „Handbuch der Raubdrucke“ herausgab, schließt für die
       Nationalbibliothek somit eine wichtige Lücke, deren Existenz ihr zuvor gar
       nicht bewusst war. Die Erschließung der Sammlung in Leipzig bietet aber
       auch für die Forschung einen einmaligen Zugang zu Materialien für die
       Theoriegeschichte der Neuen Linken in der Bundesrepublik.
       
       Wie die Tagung zeigte, stellen sich durch den Sammlungszugang neue Fragen,
       nicht nur für die Wissenschaft, sondern auch für die Nationalbibliothek
       selbst: Raubdrucke haben aufgrund ihrer Kriminalisierung in Deutschland
       bisher kaum Eingang in die Sammelinstitutionen gefunden, zudem gibt es
       raubgedruckte Bücher im Sinne des herkömmlichen Sammelauftrags der dnb
       offiziell eigentlich gar nicht.
       
       Juristische Fragen schließen sich an: Handelt es sich bei raubgedruckten
       Büchern um Hehlerware? Falls ja, kann Hehlerware Kulturgut sein?
       Juristische Fragen sind es aber auch, die in vielfacher Weise Teil der
       wissenschaftlichen Forschung sind. Der Historiker Uwe Sonnenberg beschrieb,
       wie die Konjunktur der Raubdrucke als ungenehmigte Nachdrucke den
       Börsenverein des Deutschen Buchhandels auf den Plan rief.
       
       ## Das BKA hatte keine Daten da
       
       Mitte der 1970er-Jahre sprach dieser von „Wirtschaftskriminalität eigener
       Art in größtem Umfang“, sensibilisierte das Bundeskriminalamt (BKA) für die
       Angelegenheit und setzte schließlich einen Detektiv auf die Raubdruckszene
       an. Selbst das BKA konnte damals jedoch für das vermutete Ausmaß der
       Wirtschaftskriminalität keine Anhaltspunkte finden, auch ein Zusammenhang
       zwischen Raubdruckszene und politischer Gewaltkriminalität konnte der
       Fahnder weder bestätigen noch verneinen.
       
       Beide Punkte ließen sich aber auch von anderer Seite erzählen: Der
       ehemalige SDSler Gerd Schnepel, der Anfang der 1970er als Mitbegründer
       eines linken Buchladens in Erlangen auch Raubdrucke anfertigte, sprach als
       Zeitzeuge von verkauften Auflagen von bis zu 20.000 Exemplaren. Buchhändler
       Schnepel, der später auch zu den Revolutionären Zellen stieß, berichtete
       aber auch davon, wie mit dem Anwachsen der K-Gruppen das breite Interesse
       an der zuvor raubgedruckten Theorie so nachließ, dass der Buchladen 1975
       pleite ging.
       
       Dass die Raubdrucke in seinem wie in anderen Buchläden einschlägiger Städte
       der Szene wie West-Berlin, München, Frankfurt am Main, Marburg oder
       Göttingen neben offiziellen Publikationen über Jahre ganz offen gehandelt
       wurden, erstaunte die Tagungsteilnehmer*innen durchaus.
       
       ## Zweites Standbein
       
       Ökonomische Aspekte des Raubdruckens waren auch in der Kinderladenbewegung
       wesentlich: So trugen Raubdrucke nicht nur zur Theoriebildung in Sachen
       linker Pädagogik bei, das Herstellen und Vertreiben von Schriften durch die
       Kinderläden selbst war auch nicht selten eines ihrer ökonomischen
       Standbeine, wie die Sozialpädagogikforscherinnen Karin Bock und Nina
       Göddertz berichteten.
       
       Einen Blick auf die gestalterischen Eigenheiten der Raubdrucke warf die
       Designerin Franziska Morlok (UdK Berlin), die in einigen ökonomisch
       bedingten Stilmerkmalen von damals (schlechter Druck, farbiges Papier,
       schräger Satzspiegel) heutige gewollte Charakteristika trendbewussten
       Grafikdesigns wiederfand.
       
       Darauf, dass Kulturgeschichte auch immer Mediengeschichte ist, kam man in
       der Tagung auch immer wieder zu sprechen: nicht nur waren es zuletzt die
       Kopiermaschinen an den Unis, die die Raubdrucke auch für deren
       Produzent*innen zu teuer werden ließen, auch ließe sich eine –
       ideologisch kaum gewollte – medienhistorische Linie von den Raubdrucken zu
       heutigen digitalen „Raubdruckern“ wie Google Books ziehen.
       
       Dass als eines der jüngsten Werke in Götz von Olenhusens Sammlung Douglas
       R. Hofstadters Buch „Künstliche Intelligenz“ von 1986 zu finden ist, wirkt
       da fast wie eine Flaschenpost.
       
       30 Nov 2025
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Verleger-KD-Wolff-ueber-seine-Memoiren/!6109781
 (DIR) [2] /Buch-ueber-die-Kritische-Theorie/!6004758
 (DIR) [3] /Nachlass-von-David-Bowie-nun-zugaenglich/!6114038
 (DIR) [4] /Die-Kunst-des-Kopierens/!5273246&s=G%C3%B6tz+von+Olenhusen/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Martin Conrads
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Deutscher Buchhandel
 (DIR) Buchladen
 (DIR) Schwerpunkt 1968
 (DIR) BRD
 (DIR) Studentenbewegung
 (DIR) Copyright
 (DIR) Piraterie
 (DIR) Revolution
 (DIR) Studentenbewegung
 (DIR) Literatur
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Verleger KD Wolff über seine Memoiren: „Der Vorwurf war, wir verraten die Revolution“
       
       Revolte, Dutschke, Adorno: KD Wolff stand im Zentrum der 68er-Bewegung.
       Später verlegte er Theweleit und Hölderlin. Ein Gespräch über seine
       Memoiren.
       
 (DIR) Nachruf auf Tilman P. Fichter: Widerständig bis zum Schluss
       
       Tilman Fichter war SDS-Aktivist, Freund von Rudi Dutschke und später Leiter
       der SPD-Parteischule. Nun ist er im Alter von 87 Jahren in Berlin
       verstorben.
       
 (DIR) Bommi Baumanns Buch „Wie alles anfing“: Das gehört in den Lesekanon
       
       Der Erfahrungsbericht des Ex-Terroristen Bommi Baumann von 1979 ist ein
       lausig geschriebenes Buch. Trotzdem bleibt es bis heute hochinteressant.