# taz.de -- Nachruf auf Tilman P. Fichter: Widerständig bis zum Schluss
       
       > Tilman Fichter war SDS-Aktivist, Freund von Rudi Dutschke und später
       > Leiter der SPD-Parteischule. Nun ist er im Alter von 87 Jahren in Berlin
       > verstorben.
       
 (IMG) Bild: Der Politikwissenschaftler und frühere Studentenaktivist Tilman Fichter ist im Alter von 87 Jahren in Berlin gestorben
       
       Eigentlich wollte Tilman Fichter noch seine Autobiografie schreiben.
       „Widerständig“ sollte sie heißen. Widerständig war schon als Kind: Als der
       Siebenjährige von dem Attentatsversuch auf Hitler hörte, verweigerte er dem
       „Führer“ seine Ehrerbietung. Widerständig blieb er bis zum Schluss auch
       privat: Obwohl er kaum mehr sehen, hören und gehen konnte, wollte er in
       keinem Heim gepflegt werden, sondern allein in seiner Wohnung in
       Berlin-Charlottenburg sterben.
       
       Fichter wurde am 1. August 1937 in Berlin geboren und wuchs bis 1943 in
       einem Haus unweit seiner letzten Wohnung am Klausener Platz auf. Seine
       Eltern waren ein praktizierendes Arzt-Ehepaar. Der Vater pinselte nachts
       eine Widerstandsparole an eine Kirchenfassade, wurde festgenommen, konnte
       sich aber entziehen, indem er sich als Arzt freiwillig zur Wehrmacht
       meldete. Vor den Bombenangriffen der Alliierten flüchtete die Familie mit
       insgesamt fünf Kindern zunächst nach Niederschlesien, dann nach Stuttgart.
       
       In den miefigen 1950er Jahren zog der abenteuerlustige junge Tilman mit den
       Pfadfindern durch die Gegend und las mit ihnen Bertolt Brecht und Wolfgang
       Borchert. Er machte kein Abitur, sondern besuchte die Hamburger
       Seemannsschule und heuerte 1955 als Decksjunge auf einem Schiff an und fuhr
       nach Südamerika und zurück. Eine Versicherungslehre brach er ab,
       stattdessen arbeitete er bis 1961 in London bei einer Rückversicherung. Er
       lernte dort berühmte Mitglieder des New Left wie Isaak Deutscher oder
       [1][Eric Hobsbawm] kennenlernte.
       
       Ein [2][Massaker 1960 in Sharpeville] im rassistischen Südafrika trug
       zusätzlich zu seiner Politisierung bei. 1962 kehrte Fichter nach Berlin
       zurück, wurde Mitgründer eines Arbeitskreises gegen die Apartheid und kam
       mit dem SDS in Kontakt, dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund.
       Wiewohl ohne Abitur, wurde er 1963 in die Hochschulgruppe des SDS
       aufgenommen – auch weil er gerade über den zweiten Bildungsweg das Abi
       nachholte.
       
       ## Der SDS-Aktivist
       
       1964 begann Fichter ein Studium der Politikwissenschaften und der
       Soziologie an der Freien Universität. Er wurde einer der [3][Freunde von
       Rudi Dutschke]. Doch der Anfang der Freundschaft war keineswegs harmonisch.
       Er warf den „Dutschkisten“ im SDS vor, die Schriften der Frankfurter Schule
       falsch zu interpretieren und so zu tun, als ob das Deutschland vor dem
       Zweiten Weltkrieg und das Westdeutschland in den 1960er Jahren identisch
       seien.
       
       Das führte über Umwege auch zur Fehleinschätzung der RAF, dass man
       bewaffnet gegen die Wiederkehr des Nazi-Staates kämpfen müsse. Mit großer
       Klarsicht warnte Fichter immer wieder vor dem Irrweg des bewaffneten
       Kampfes. Die RAF-Mitglieder seien irregeleitete Genossen, denen man zwar
       helfen müsse, aber politisch auf keinen Fall folgen dürfe.
       
       1965 wurde Fichter zum Landesvorsitzenden des SDS gewählt. Am 2. Juni 1967
       erlebte er, wie [4][Benno Ohnesorg bei einer Protestaktion] gegen den Schah
       von Persien vor der Deutschen Oper [5][von dem Polizisten Kurras
       erschossen] wurde – absichtlich, wie sich später herausstellte. Am 11.
       April 1968 folgte das [6][Attentat eines von der Bild-Zeitung aufgehetzten
       Rechtsradikalen auf Rudi Dutschke]. Beide Gewalterlebnisse waren absolut
       [7][prägend für die sogenannte 68er-Generation] und auch für ihn.
       
       ## Die Linke und die Gewalt
       
       Als später am Tatort eine Stele zum Gedenken an Ohnesorg errichtet wurde,
       legte Fichter dort jährlich am 2. Juni Blumen ab. Einmal fand er die Stele
       verhüllt vor und zerrte das Tuch herunter. Der „Verhüller“ war ein
       bekannter Berliner Rechter. Die Polizei beobachtete das Geschehen, nahm
       Fichters Personalien auf und leitete ein Strafverfahren gegen den rüstigen
       Rentner mit dem fuchtelnden Krückstock ein. Es wurde später eingestellt.
       
       Gegenüber Geheimdiensten war Fichter sehr misstrauisch, nachdem er 1969
       miterlebt hatte, wie der [8][Agent Provocateur Peter Urbach] bei einer
       Anti-Springer-Demonstration Molotow-Cocktails unter den Protestierenden
       verteilte und wohl auch ihn selbst animieren wollte, einen Brandsatz ins
       Gebäude des Alliierten Kontrollrats zu werfen.
       
       Eine von Urbachs Brandbomben fand die Polizei am [9][9. November 1969 im
       Jüdischen Gemeindehaus] von Berlin, exakt am Jahrestag der Pogromnacht. Zum
       Glück ging sie nicht hoch. Bei der anschließenden Fahndung geriet auch sein
       Bruder Albert ins Visier der Polizei. Er verhalf ihm zur Flucht nach
       Schweden, [10][damals noch nicht wissend, dass Albert der Bombenleger
       gewesen war].
       
       Ab 1969 arbeitete Tilman Fichter eine Weile bei der legendären linken
       Zeitschrift 883 mit, 1972 gehörte er zu den Mitbegründern des Langen
       Marsches und war in der Roten Hilfe aktiv. Zehn Jahre lang, von 1971 bis
       1981, war er wissenschaftlicher Mitarbeiter im Zentralinstitut für
       sozialwissenschaftliche Forschung an der FU und erarbeitete dort zusammen
       mit seinem Kollegen Siegward Lönnendonker eine siebenteilige Dokumentation
       der Geschichte der Freien Universität. 1986 promovierte er dort zum Thema
       „SDS und SPD: Parteilichkeit jenseits der Partei“. Sein Lebensthema.
       
       ## Der Weg in die SPD
       
       Zu Beginn der 1980er Jahre stand Fichter ohne berufliche Perspektive da.
       1982 in die SPD eingetreten, konnte ihn dann aber der damalige
       SPD-Bundesgeschäftsführer Peter Glotz als Referent für Schulung und Bildung
       im Parteivorstand durchsetzen. Von 1986 bis 2001, also 15 lange Jahre,
       leitete Fichter die sozialdemokratische Parteischule. In dieser Funktion
       lernte er in Bonn Willy Brandt und viele andere Parteigrößen kennen; mit
       Brandts Sohn Peter war er bis zuletzt befreundet.
       
       Fichter war ein fleißiger Autor. Unzählige Aufsätze hat er verfasst. „Der
       erzwungene Kapitalismus“ lautete der Titel des ersten Buches, das er 1971
       zusammen mit seiner früheren SDS-Genossin Ute Schmidt geschrieben hat. 1977
       folgte sein bekanntestes Werk: „Kleine Geschichte des SDS“, gemeinsam
       verfasst mit Siegward Lönnendonker. Das Buch erlebte insgesamt sechs
       [11][überarbeitete und aktualisierte Auflagen], die letzte erschien 2021
       unter dem Titel „Genossen! Wir haben Fehler gemacht“.
       
       Mit Lönnendonker verfasste er auch 2011 „Dutschkes Deutschland“, in dem es
       um den SDS, die nationale Frage und die DDR-Kritik von links ging. Bereits
       1993 erschien „Die SPD und die Nation“. Darin warf Fichter seiner Partei
       nach dem Erlebnis des Mauerfalls ein gespaltenes Verhältnis zur Nation vor.
       Das brachte ihm den – ungerechtfertigten – Ruf ein, er trommele zum
       „Abmarsch nach rechtsaußen“.
       
       Sein langjährigen Mitstreiter Siegward Lönnendonker verstarb 2022. In
       seinen letzten Lebensmonaten plante Fichter noch die Autobiografie unter
       dem Titel „Widerständig“. Doch das Augenlicht ließ immer mehr nach, er
       konnte nicht mehr schreiben. Im Sommer 2024 stürzte er in der eigenen
       Wohnung und musste wegen eines mehrfachen Hüftbruches stundenlang operiert
       werden. Danach kam er sprichwörtlich nicht mehr auf die Beine.
       
       Anfang Februar stand er noch einmal unter einem [12][Wahlaufruf von
       Wissenschaftlern und Publizisten] für die SPD. „Jeder Mensch muss
       bereit sein, den Beitrag für die Gesellschaft zu erbringen, den er zu
       leisten imstande ist“, heißt darin. Am 5. März starb Tilman Fichter
       schmerzfrei und friedlich in einer Berliner Klinik.
       
       Transparenzhinweis: Die biografischen Daten stammen zum Teil aus einem
       Aufsatz aus „1968 – wer war wer?“ von Wolfgang Kraushaar.
       
       6 Mar 2025
       
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