# taz.de -- Die Künstlerin Shilpa Gupta in Lübeck: Vom Himmel, der nicht teilbar ist
> Sie spricht Gedichte in Flaschen, zeichnet hauchzart: Aber die Themen der
> indischen Künstlerin Shilpa Gupta, zu entdecken in Lübeck, sind
> politisch.
(IMG) Bild: Shilpa Gupta sammelt seit 2018 Poeme auf kleinen Flaschen: „Untitled (Spoken Poem in a Bottle)“
„I look at things“, Buchstabe für Buchstabe klappt leise ratternd auf der
Anzeigentafel um, „with eyes different from yours“. Das Buchstabenboard
erinnert an Bahnhofshallen oder Flughäfen, an Eile und Anspannung, Warten
und Unruhe. Die Schriftzeilen aber, die sich in der Installation „Still
They Know Not What I Dream“ (2021) von Shilpa Gupta in der [1][Kunsthalle
St. Annen] immer wieder verändern, manchmal nur durch das Verschieben eines
Buchstaben, dann den Austausch von Teilsätzen, laden ein, einzutauchen in
eine Szene voller Intimität und Theatralität.
Man kann sich dabei die Analyse einer Beziehung ebenso gut vorstellen wie
eine Selbstbefragung: „To feel – what I once felt“. „To your greed – to my
desires“, „uncontrollable desires – greed uncontrollable“. So nüchtern die
Anzeigentafel ist, das entfaltet poetische und dramatische Kraft.
Die ästhetischen Mittel, die die Künstlerin aus Mumbai einsetzt, sind
schlicht und einfach. Sie kommen aus dem Alltag. Damit in Installationen
und Performances arbeiten zu wollen, interessierte Shilpa Gupta, 1978
geboren, schon als junge Kunststudentin der Sir J. J. Art School in Mumbai
in den 1990er Jahren. Obwohl die Ausbildung dort sehr traditionell und
akademisch war und – wie sie im Interview Noura Dirani, der Leiterin der
Kunsthalle, für den Katalog erzählte – niemand die Begriffe
Installationskunst oder Konzeptkunst kannte.
## Der Erweckungsmoment
Sie erinnert sich an den Moment, als sie in einem Kunstbuch auf Arbeiten
[2][des US-amerikanischen Konzeptkünstlers Joseph Kosuth] stieß: die
Erleichterung, dass in der Welt auch andere so arbeiten, wie sie es möchte,
verbunden mit der Entäuschung, doch nicht die Erste in diesem Feld zu sein.
Auf internationalen Biennalen fand die indische Künstlerin früher
Anerkennung als im eigenen Land. Heute ist [3][Shilpa Gupta international
eine Größe], die schon in der Tate Modern in London, im Centre Pompidou in
Paris oder dem Mori Museum in Tokio zu sehen war. In Lübeck zeigt sie nun
ihre erste große Einzelausstellung in Deutschland in der
St.-Annen-Kunsthalle. Sie wurde dort mit dem Possehl-Preis für
Internationale Kunst 2025 ausgezeichnet.
Grenzen als Setzungen, die künstlich Landschaften, Täler, Dörfer und
Gemeinschaften zerschneiden, sind ein wichtiges Thema ihrer Kunst,
resultierend auch aus der Geschichte Indiens und der Kolonialzeit. Auf der
Grenzziehung zwischen Indien und Pakistan 1947 gehen bis heute
gesellschaftliche Traumata und politische Spannungen zurück, auf die sie
vielfach anspielt.
## Knäuel aus Garn gewickelt
Da gibt es ein Knäuel, in vielen Stunden gewickelt aus einem handgewebten
Garn, von einer Länge, 1.188,5 Meilen, die der Länge der befestigten
Grenzanlagen zwischen Indien und Pakistan entspricht. Hauchzarte
Zeichnungen zeigen Details von Uniformen und Sicherungsanlagen, getuscht
mit Pigmenten aus Marihuana Pflanzen, die in Bangladesch nahe der Grenze
angebaut werden, obwohl der Konsum in Indien streng verboten ist.
Eine Skulptur, die an aneinandergereihte Wirbel erinnert oder einen
fossilen Organismus, zeigt eine lange Kette von Objekten wie Schere,
Spachtel, Kelle oder Zange, eingenäht in weißen Stoff. Einerseits eine
übliche Verpackung, andererseits wirkt das wie ein Element der Tarnung im
Schmuggel und im illegalen Grenzverkehr. So finden die Widersprüche
zwischen staatlichen Setzungen und politischen Systemen und einer
Alltagsrealität, die sich daran den Kopf wund stößt, zu einer Form, die nie
laut und anklagend ist, aber viel Empathie transportiert.
## Bewusste Leerstellen
Über vier Etagen entfaltet sich die Ausstellung in großzügigen
Installationen. Ein Raum gilt der Zensur und der Einschränkung von
Freiheitsrechten. In Bilderrahmen, die von Stäben unterteilt sind, erkennt
man, aber erst aus großer Nähe, feine Zeichnungen mit Aussparungen anstelle
von Figuren. Etwas fehlt in diesen Bildern. Sie gelten Inhaftierten, von
denen Gupta auf einem Blatt daneben einen Satz notiert hat.
Gedichte von verhafteten Künstler:innen hat sie in Flaschen gesprochen
in einer Performance. Nun stehen sie, beschriftet mit kurzen Sätzen wie
„Laughter becomes a crime“, nebeneinander in einem großen Regal, Glühlampen
dazwischen. Das ist ein Monument des Trauerns und der Anteilnahme mit den
Stimmen, die nicht mehr gehört werden sollen. Sprache und Gesang als
Instrument des Widerstandes sind auch in einer sehr schönen
Klanginstallation präsent.
In einem großen Teil ihrer Arbeiten nutzt Shilpa Gupta die englische
Sprache, aber nicht nur an die internationale Kunstwelt adressiert. Die
Alltagsmaterialien und Situationen, mit denen sie arbeitet, sind ein
Element, um auch jenseits des etablierten Kunstkontextes die Kommunikation
zu suchen. Sie hat im öffentlichen Raum gearbeitet. Eine Lichtinstallation
war zuerst am Strand von Bandra, einem Vorort von Mumbai, aufgebaut. In
Englisch, Urdu und Hindi leuchtet der Satz „I live under your sky too“
jetzt in Lübeck auf, die Schriftzeichen verbinden und trennen sich wieder:
eine Beschwörung von Gemeinschaft.
5 Dec 2025
## LINKS
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## AUTOREN
(DIR) Katrin Bettina Müller
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