# taz.de -- Kriminologe über Bochumer Polizeischüsse: „Ein Fall, vor dem tatsächlich viele Polizisten Angst haben“
       
       > Die Schüsse auf ein 12-jähriges Mädchen sind das Worst-case-Szenario,
       > sagt Polizeiexperte Martin Thüne. Er fordert bessere Ausbildung und
       > Bodycams.
       
 (IMG) Bild: Die Polizei muss mit Bodycams ausgestattet werden, fordert Martin Thüne
       
       taz: In Bochum haben [1][Polizisten ein Mädchen angeschossen], das mit zwei
       Messern auf die Beamten zugegangen sein soll. Wie bewerten Sie den Fall? 
       
       Martin Thüne: Das ist schwer zu sagen ohne Einblick in die Fallakten.
       Insofern möchte ich das konkrete taktische Vorgehen zum aktuellen Zeitpunkt
       nicht bewerten. Was man aber zu den Rahmenbedingungen ganz grundsätzlich
       sagen kann, ist, dass das schon ein spezieller, eher atypischer Fall ist.
       Ich würde es als worst-case-Szenario für alle Beteiligten beschreiben.
       Natürlich vor allem für die unmittelbar Betroffenen, für das Kind, dessen
       Angehörige, aber auch für die eingesetzten Polizeibeamten. Das ist so ein
       Fall, vor dem meiner Erfahrung nach tatsächlich viele Angst haben. Und wo
       sich viele Beamte wünschen, dass sie sowas nie erleben müssen: Ein
       Schusswaffeneinsatz gegen Menschen, dann noch gegen Kinder, und
       möglicherweise gegen Kinder, die erkrankt sind in unterschiedlicher Art und
       Weise. Das ist mit Sicherheit für alle belastend und wird viel Aufarbeitung
       bedeuten: juristisch, einsatztaktisch, aber auch seelisch.
       
       taz: Wie kann das überhaupt sein, dass die Polizei auf ein zwölfjähriges
       gehörloses Mädchen schießt? 
       
       Thüne: Das kann ich im Einzelnen nicht bewerten, weil ich den Fall nicht
       genau kenne. Auf den ersten Blick wirkt das auf viele natürlich mit
       Sicherheit befremdlich. Das kann ich auch sehr gut verstehen. Auch ich
       stelle mir die Frage, wie es dazu kommen kann, ob man hätte anders handeln
       können. Dazu kommt die Schwierigkeit der Kommunikation bei Gehörlosen. Da
       stellen sich rechtliche Fragen: Normalerweise muss ein Schusswaffeneinsatz
       angekündigt werden, wenn die Möglichkeit besteht. Aber auch hier gibt es
       wieder Ausnahmen. Das kommt sehr auf die Details an, die ich nicht bewerten
       kann.
       
       taz: Was lernt denn die Polizei, wie sie sich in Situationen mit Messern
       verhalten soll? 
       
       Thüne: Das kann man seriös tatsächlich nicht für ganz Deutschland
       beantworten. Es gibt ungefähr zwanzig ganz verschiedene
       Polizeiorganisationen. Die heißen zwar alle Polizei, haben aber eigene Aus-
       und Fortbildungseinrichtungen, eigene Studiengänge. Die sind in Teilen
       harmonisiert, aber nicht in Gänze. Speziell beim Umgang mit Menschen in
       psychischen Krisen sind die Aus- und Fortbildungspläne extrem
       unterschiedlich. Manche machen dazu wenig bis gar nichts, andere
       Bundesländer bearbeiten das Thema schon seit einigen Jahren aktiv. Und
       manche beschreiten einen Mittelweg. Aber diese Unterschiedlichkeit darf im
       Grunde nicht sein, denn dass Polizeibeamte auf Menschen in psychischen
       Krisen treffen, ist eher die Regel als die Ausnahme. Und insofern muss
       dieses Thema überall prominent behandelt werden.
       
       taz: Und wie ist die Ausbildungslage in Nordrhein-Westfalen, wo der Einsatz
       stattfand? 
       
       Thüne: Dort gab es ja mehrere ähnliche Fälle, die zu Recht öffentlich
       wurden, [2][etwa in Dortmund]. Und angetrieben durch den öffentlichen Druck
       hat NRW Fortbildungsmaßnahmen angekündigt und in Teilen auch umgesetzt. Ich
       weiß aber von Polizeibeamten vor Ort, dass die Ressourcen teilweise nicht
       ausreichen, um das schnell und vor allem regelmäßig zu machen.
       
       taz: Haben sich die Polizisten in Bochum denn nun so verhalten, wie sie
       sich verhalten haben, weil sie es so gelernt haben? Oder war ihr Verhalten
       ein Verstoß dagegen? 
       
       Thüne: Das kann man seriös nicht beantworten. Die Frage ist jetzt, was wir
       an objektiven Beweismitteln haben. Gibt es zum Beispiel Videoaufnahmen?
       Nötig wäre ein flächendeckender Einsatz von [3][Bodycams], die, wie in den
       USA schon seit Jahren praktiziert, automatisch aufzeichnen, sobald
       Schusswaffen oder Taser auch nur aus dem Holster gezogen werden. Nur dann
       hätten wir überhaupt Material, das wir bewerten und aus dem wir lernen
       können.
       
       taz: Und dann? 
       
       Thüne: Dann kommt es sehr darauf an: Was wussten die Beamten im Vorhinein?
       Haben sie die richtige Einsatztaktik gewählt? Wie waren die Abstände in der
       konkreten Situation? Gab es eine Ankündigung oder die Möglichkeit dazu? Wie
       groß war das Gefahrenpotenzial wirklich? Das wissen wir alles noch nicht.
       
       taz: Das Mädchen soll mit Messern auf die Beamten zugegangen sein, heißt
       es. 
       
       Thüne: Die Frage ist, was das konkret bedeutet: In welchem Abstand, in
       welchem räumlichem Umfeld, wie aggressiv war das objektiv betrachtet? Was
       ich in vielen Fallanalysen immer wieder feststelle, ist, dass das
       Festhalten an Messern von Polizeibeamten sofort interpretiert wird als
       unmittelbare Angriffshandlung. Das rührt daher, dass es viele
       Einsatztrainings gibt, in denen genau das durchgespielt wird. Da geht es
       darum, die potenziellen Täter möglichst schnell zu entwaffnen. Wenn wir
       aber über Menschen in psychischen Krisen sprechen, dann ist teilweise so,
       dass diese Menschen sich bedroht fühlen und Angst haben, zum Beispiel fest-
       und mitgenommen zu werden. Sie klammern sich quasi an ein Messer als
       Schutz. In diesem Fall wäre es sinnvoller für die Polizei, Distanz
       aufzubauen und den Schutzraum für die Person zu vergrößern, damit diese
       sich beruhigen kann. Andererseits ist das eben nicht immer und überall
       möglich, soviel gehört zur Wahrheit dazu.
       
       taz: Muss die Polizei einen Unterschied machen zwischen Erwachsenen und
       Kindern? 
       
       Thüne: Natürlich. Grundsätzlich ist das so. Die Hürden sind extrem hoch,
       wenn es um Zwangsanwendungen gegen Kinder geht, erst recht bei
       Schusswaffen. Aber gleichwohl: Nehmen wir in einem fiktiven Fall an, ein
       Kind rennt mit Messern oder Schusswaffen in einer Wohnung auf die Beamten
       zu: Dann sind wir im Bereich von Notwehr, wie sie jedem von uns zusteht.
       Dann kann Schusswaffeneinsatz auch gerechtfertigt sein.
       
       taz: Verbietet das Polizeigesetz eigentlich den Einsatz von Schusswaffen
       gegen Kinder? 
       
       Thüne: Das kommt auch wieder auf das Bundesland an. Die Polizeigesetze
       verbieten häufig den Schusswaffeneinsatz gegen Kinder. Dieses Verbot wird
       allerdings teils wieder eingeschränkt, nämlich dann, wenn eine gegenwärtige
       Gefahr für Leib und Leben besteht, die sich in diesem Moment nicht anders
       effektiv abwehren lässt. So ist es auch explizit im Polizeigesetz NRW
       geregelt. Aber rechtlich ist es eben noch komplizierter, denn es gibt nicht
       nur die Polizeigesetze, sondern auch das Strafgesetzbuch mit seinen
       Vorschriften zu Notwehr und Notstand. Die Rechtslage ist in solchen Fällen
       tatsächlich komplex und es überlagern sich mitunter verschiedene Normen.
       Also kommt es letztlich sehr auf den konkreten Fall an. Es ist jedenfalls
       nicht per se ausgeschlossen, dass so eine Maßnahme letztlich als rechtmäßig
       bewertet wird.
       
       taz: Hat die Polizei keine Alternativen zum Schusswaffeneinsatz?
       Elektroschocker, Schilde oder was immer? 
       
       Thüne: Ja, das kommt aber darauf an, was man vorher weiß. Nicht jede
       Streifenbesatzung hat zum Beispiel für jeden Einsatz einen Schild dabei.
       Aber wenn man entsprechende Anhaltspunkte hat, könnte man technische Mittel
       mitnehmen. Oder andere Einheiten, die besser auf solche Einsätze
       vorbereitet sind. Verhandlungsgruppen etwa oder auch ein
       Spezialeinsatzkommando, das eine sehr viel höhere Trainingsdichte hat, um
       Menschen festzunehmen, ohne dass jemand zu Schaden kommt. Aber wir wissen
       momentan eben nicht, was vorher bekannt war.
       
       taz: Die [4][erste Darstellung der Polizei in so einem Fall muss sich ja
       nicht bewahrheiten.] Wer untersucht den Fall jetzt? 
       
       Thüne: Deshalb plädieren viele und auch ich für Bodycams mit automatischer
       Auslösung. Dann hätten wir eine völlig andere Ausgangslage. Für die
       Untersuchung müsste es außerdem Einrichtungen geben, die unabhängiger sind
       als es gegenwärtig bei uns der Fall ist. Heute ermitteln andere
       Dienststellen, aber aus dem eigenen Bundesland. Ob die benachbarte
       Dienststelle oder das LKA objektiv genug sind, daran gibt es immer wieder
       Zweifel. Am Ende ist das eben faktisch eine Firma, die da intern ermittelt.
       In anderen Ländern in Europa, wie Dänemark oder Großbritannien, gibt es
       längst solche unabhängigen Stellen. Aber das sind am Ende politische
       Entscheidungen, für die es hierzulande bisher leider keine Mehrheiten gibt.
       Meines Erachtens wären solche Stellen auch für die Polizei selbst besser,
       weil ein solches System das Vertrauen in die Unabhängigkeit der
       Ermittlungen und damit letztlich in die Professionalität der
       Vollzugsbehörden steigern kann.
       
       18 Nov 2025
       
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