# taz.de -- Polizeischüsse in Bochum: Nachplappern statt nachfragen
> In der Nacht zu Montag wurde bei einem Polizeieinsatz eine Zwölfjährige
> schwer verletzt. Warum übernehmen Medien die Polizeierzählung des
> Geschehens?
(IMG) Bild: Der Job ist: keine Schnellschüsse
Erneut ist es passiert. Schüsse in der Nacht, eine verunsicherte
Nachbarschaft am nächsten Morgen trifft auf Kamerateams. Viel ist noch
nicht bekannt: In der Nacht zum Montag gab es einen Polizeieinsatz in
Bochum. Ein vermisst gemeldetes Mädchen wurde gesucht, nun liegt es schwer
verletzt im Krankenhaus. Ein oder mehrere Polizeischüsse trafen seinen
Bauch.
Schnell stellt sich die drängende Frage: Hätte es keine anderen Mittel
geben können? Waren das polizeiliche Schnellschüsse?
Die ersten Schüsse sind real. Die zweite Schusssalve, sie folgt
zuverlässig. Es sind die öffentlichen Mitteilungen der Polizei. [1][Am
Montagmorgen, 10.30 Uhr], verschickt sie ihre Version. Für
Journalist*innen ist es Berufsalltag, damit umzugehen. Rasant wird
diese Version zum einzigen Bezugspunkt für die Geschichte: eine Vermisste,
12 Jahre alt, deutsch-serbisch, gehörlos, erkrankt und auf lebenswichtige
Medikamente angewiesen. Eine Mutter, ebenfalls gehörlos, der das Sorgerecht
entzogen wurde. Eine Wohnung, in der das Mädchen „nicht hätte sein dürfen“.
Eine Tür, die sich zunächst nicht öffnet. Und dann: ein Mädchen „mit zwei
Messern in der Hand“, „geht auf die Polizisten zu“, Taser und Schusswaffe
wurden „zeitgleich“ eingesetzt. [2][In der Pressemitteilung der Polizei]
klingt das schlicht und sachlich.
Die wenigen Sätze reichen. Lokale Journalist*innen machen sich auf den
Weg zur veröffentlichten Adresse des Tatorts, überregionale Portale
kleistern unmittelbar plakative Überschriften. Oft wortgleich.
## Eine Zwölfjährige als Täterin
„12-Jährige greift Polizisten mit Messern an.“ „Mädchen (12) geht mit
Messern auf Polizisten los – Beamte eröffnen das Feuer!“
Verdachtsberichterstattung gibt es nicht für Opfer von Polizeigewalt.
[3][Die Zwölfjährige wird zur Täterin erklärt.]
Der Ton ist verräterisch: Dem Kind werden Tatsachen zugeschrieben, sie
„ging auf die Polizisten zu“, während gegenüber der Polizei „schwere
Vorwürfe im Raum stehen“. Das Opfer hat gehandelt, die Polizei „musste
reagieren“. Die Zwölfjährige liegt mit Schussverletzungen im Bauch auf der
Intensivstation, und über sie wird gesprochen, als habe sie eine
Entscheidung getroffen.
Erst später am Tag, nach der ersten Flut der Täter-Opfer-verkehrenden
Berichte, stoßen Kolleg*innen auf Schusswaffenregeln im Polizeigesetz
des Landes NRW: „Gegen Personen, die dem äußeren Eindruck nach noch nicht
14 Jahre alt sind, dürfen Schusswaffen nicht gebraucht werden“, heißt es in
Paragraf 63.
Die Polizei hingegen bleibt in ihrem narrativen Erzählen im Passiv: „Es kam
zum Schusswaffengebrauch.“
## Die Rollenverteilung ist klar
Das Narrativ hat System. Beim Tod von [4][Mouhamed Dramé] in Dortmund war
die erste Version: Dramé sei „ein „Angreifer“. Im Gerichtsverfahren Jahre
später zeigte sich: Glasklare Falschdarstellung.
Beim Tod von Lorenz A. in Oldenburg schreiben viele Medien, A. habe die
Polizei mit einem Messer angegriffen. Auch das war falsch. Bevor dies
öffentlich von der Staatsanwaltschaft gerade gerückt wurde, geisterte es
durch die Mehrzahl der Überschriften. In Bochum dasselbe: ein Messer, zwei
Messer, ein Angriff – und schon ist klar, wie die Rollen verteilt sind.
Es ist brutale Normalität, dass bei einem schwer verletzten Kind davon
gesprochen wird, einen „Messerangriff abgewehrt“ zu haben – und nicht von
einem Polizeieinsatz, der ein Kind fast getötet hätte.
Der Druck zur Schnelligkeit und die Konkurrenz zu anderen Medien sorgen
dafür, dass die Medien bei diesem Narrativ mitschießen. Wer schnell als
Erstes die Polizeimeldung mitnimmt, erspart sich eine unbequeme
Entscheidung: die Polizei als das zu behandeln, was sie in solchen Lagen
ist: eine Akteurin. Der Deutsche Journalistenverband schreibt seit Jahren,
dass die [5][Polizei keine bevorzugte Quelle] sein darf – erst recht nicht
in Fällen, in denen ihr Fehlverhalten vorgeworfen werden kann.
Außerdem sind in Bochum noch so viele Fragen offen: Wie haben die Beamten
mit der gehörlosen Zwölfjährigen und ihrer gehörlosen Mutter in der hoch
angespannten Lage kommuniziert? Warum wurde niemand hinzugezogen, der
Gebärdensprache beherrscht?
Wurden Gesten versucht, wurde Zeit gewonnen, Distanz hergestellt? Gab es
eine Option, sich zurückzuziehen, die Tür zu schließen, zu warten, anstatt
in einem engen Wohnraum Taser und Schusswaffe gleichzeitig einzusetzen?
Nichts davon findet sich in den ersten medialen Darstellungen. Die Polizei
gibt das Narrativ vor, die Agenturen übersetzen es, die Schlagzeilen
laufen. Der Job der Journalisten wäre aber nachzufragen und abzuwarten. In
der Praxis gilt weiter das Gegenteil: Die Polizei ist die Quelle und das
Opfer wird zum Verdachtsfall.
18 Nov 2025
## LINKS
(DIR) [1] https://www.presseportal.de/blaulicht/pm/11562/6159755
(DIR) [2] https://www.presseportal.de/blaulicht/pm/11562/6159755
(DIR) [3] /Akten-im-Fall-Lorenz-A/!6127725
(DIR) [4] /Todestag-von-Mouhamed-Drame/!6105662
(DIR) [5] https://netzpolitik.org/2022/fragwuerdige-pressearbeit-die-polizei-ist-keine-privilegierte-quelle/
## AUTOREN
(DIR) Friedrich Kraft
## TAGS
(DIR) Polizeigewalt
(DIR) Bochum
(DIR) Schwerpunkt Polizeigewalt und Rassismus
(DIR) Polizeigewalt
(DIR) GNS
(DIR) Polizeigewalt
(DIR) Tödliche Polizeischüsse
(DIR) Polizei NRW
(DIR) Schwerpunkt Polizeigewalt und Rassismus
(DIR) Polizeigewalt
## ARTIKEL ZUM THEMA
(DIR) Polizeigewalt in Berlin: Ein Tritt, zwei Schläge, keine Verurteilung
Ein Bundespolizist muss sich wegen Körperverletzung im Amt verantworten.
Das Gericht sieht von einer strafrechtlichen Verfolgung ab.
(DIR) Kriminologe über Bochumer Polizeischüsse: „Ein Fall, vor dem tatsächlich viele Polizisten Angst haben“
Die Schüsse auf ein 12-jähriges Mädchen sind das Worst-case-Szenario, sagt
Polizeiexperte Martin Thüne. Er fordert bessere Ausbildung und Bodycams.
(DIR) Polizei schießt auf Zwölfjährige: Viele offene Fragen
In Bochum haben Polizisten einer gehörlosen Zwölfjährigen in den Bauch
geschossen. Das Kind sei mit Messern auf sie zugegangen, erklärt die
Polizei.
(DIR) Polizeieinsatz in Bochum: Angeschossene Zwölfjährige übersteht OP
Eine Zwölfjährige ist in Bochum von der Polizei lebensgefährlich
angeschossen worden. Ärzte kämpften im OP um ihr Leben.
(DIR) Todestag von Mouhamed Dramé: Das Muster rassistischer Polizeigewalt
Am 8. August 2022 erschossen Polizisten den 16-jährigen Mouhamed Dramé in
Dortmund. Drei Jahre später fehlen unabhängige Kontrollen der Polizei
weiterhin.