# taz.de -- Polizei schießt auf Zwölfjährige: Viele offene Fragen
> In Bochum haben Polizisten einer gehörlosen Zwölfjährigen in den Bauch
> geschossen. Das Kind sei mit Messern auf sie zugegangen, erklärt die
> Polizei.
(IMG) Bild: Der Tatort in Bochum: Hier wurde ein Kind durch den Schuss aus einer Dienstwaffe der Polizei lebensgefährlich verletzt
Eigentlich sollte die Bochumer Polizei dem 12-jährigen Mädchen helfen. Sie
war weggelaufen und benötigte Medikamente. Am Ende schießt ein Beamter und
verletzt das gehörlose Kind lebensgefährlich. Wie konnte es dazu kommen?
Am Sonntag verschwindet das Mädchen aus ihrer Wohngruppe in Münster, wo sie
lebt. Gegen Mittag ist sie nicht mehr auffindbar. Ihre Betreuer melden sie
noch am selben Tag als vermisst, auch weil sie auf lebenswichtige
Medikamente angewiesen sein soll. Diese hatte sie „möglicherweise über
einen längeren Zeitraum nicht eingenommen“, so die Polizei. Laut
[1][Medienberichten soll es sich um Insulin handeln].
Nach mehrstündiger Suche erhält die Polizei den Hinweis, dass sich das
Mädchen bei ihrer Mutter in Bochum aufhalten soll. Sie ist ebenfalls
gehörlos. Ihr wurden vor einiger Zeit Sorgerecht und
Aufenthaltsbestimmungsrecht für ihre Tochter entzogen, weshalb sich das
Mädchen nicht bei ihr aufhalten darf.
Am Montag, mitten in der Nacht gegen 0.30 h, stehen deshalb vier Polizisten
vor der Wohnung im Bochumer Stadtteil Hamme. „Da die Wohnungstür zunächst
nicht geöffnet wurde, aber Geräusche aus der Wohnung zu hören waren,
forderten die Einsatzkräfte einen Schlüsseldienst an“, heißt es von der
Polizei. Noch bevor dieser eintraf, öffnete die Mutter jedoch selbst die
Tür. Was genau dann passierte, ist noch unklar.
## Einsatz ohne Gebärdendolmetscher
„Die Kollegen haben mit der Mutter kommuniziert, zeitgleich haben sie in
der Wohnung das Mädchen gesehen“, erklärt ein Polizeisprecher. Ob und wie
eine Kommunikation mit der gehörlosen Mutter und Tochter überhaupt möglich
war, müsse noch ermittelt werden, erklärte ein Polizeisprecher. Ein
Gebärdendolmetscher, der mit den beiden hätte kommunzieren können, war beim
Einsatz nicht dabei.
Man könne sich mit Gehörlosen aber eigentlich gut verständigen, so der
Sprecher: „mit Hand und Fuß, mit Zettel und Stift oder einer App“. Wegen
der fehlenden Medikamente habe die Polizei den Einsatz nicht verschieben
wollen.
Hinter der Mutter hätten die vier Beamten durch die geöffnete Tür das
Mädchen und ihren Bruder gesehen. „Die Mutter versperrte den Einsatzkräften
den Zutritt zur Wohnung. Um zu dem Mädchen zu gelangen, zogen die
Einsatzkräfte die Mutter in den Hausflur und fixierten sie“, heißt es in
einer Pressemitteilung. Dieses vielleicht ausschlaggebende Detail erwähnte
die Polizei in einer ersten Mitteilung nicht.
Anschließend hätten die Polizisten die Wohnung betreten, woraufhin das
Mädchen mit zwei Messern in der Hand auf sie zugegangen sein soll. „Um
einen drohenden Angriff mit den Messern abzuwehren“, sollen daraufhin
zeitgleich zwei Polizisten auf das Mädchen geschossen haben, schildert die
Polizei ihre Version des Vorfalls. Der eine mit seinem [2][Taser], der
andere mit seiner Schusswaffe. Polizei und Staatsanwaltschaft geben an, die
Schüsse seien erst gefallen, als sich das Kind unmittelbar vor ihnen
befunden habe.
## Polizeieinsätze bei psychischen Ausnahmesitutationen
Er soll das Kind lebensgefährlich in den Bauch getroffen haben. Wie häufig,
erklärte die Polizei nicht. [3][Die WAZ berichtet von einem einzelnen
Schuss.] Das Mädchen wurde in ein Krankenhaus gebracht und dort operiert.
Ihr Zustand ist laut einem Sprecher der Polizei „kritisch, aber stabil“.
Sie werde intensivmedizinisch betreut. Weitere Angaben, beispielsweise ob
Bodycams im Einsatz waren, wollten Polizei und Staatsanwaltschaft gegenüber
der taz nicht machen.
Inzwischen hat sich die Mutter des Mädchens geäußert. Gegenüber RTL
erklärte sie, dass ihre Tochter aus der Wohngruppe weggelaufen war, weil es
Streit in der Schule gab: „Sie sagte, ‚ich kann das nicht mehr ertragen‘.“
Wahrscheinlich aus Angst sei das Mädchen zu ihr gekommen. Ihre Tochter habe
mehrmals nach ihr gerufen, bevor der Polizist vor ihren Augen auf sie
schoss. Sie vermutet, dass ihr Kind ihr helfen wollte. Weder die
Darstellung der Polizei noch die Aussagen der Mutter lassen sich unabhängig
überprüfen.
Dass die Polizei ein [4][Problem im Umgang] [5][mit Personen] [6][in
psychischen] [7][Ausnahmesituationen hat], [8][ist unter Expert:innen]
[9][aber schon länger bekannt]. So kritisiert beispielsweise der
Polizeiforscher [10][Thomas Feltes „mangelnde Deeskalationsfähigkeiten“]
und fordert, häufiger sozialpsychiatrische Dienste einzusetzen. Knapp 30
Prozent der von der Polizei getöteten Personen in Deutschland befanden sich
in einer psychsichen Ausnahmesituationen, [11][wie Daten des Fachmagazins
CILIP zeigen.]
## Mordkommission Essen ermittelt
Dass die Polizei auf ein 12-jähriges Mädchen, noch dazu gehörlos, schießt,
ist dennoch außergewöhnlich. Für den Schusswaffengebrauch gegen Kinder
gelten noch strengere Regeln als gegen Erwachsene. Das
nordrhein-westfälische Polizeigesetz verbietet grundsätzlich den
Schusswaffeneinsatz gegen Kinder, „die dem äußeren Eindruck nach noch nicht
14 Jahre alt sind“. Nur wenn die Waffe das „einzige Mittel zur Abwehr einer
gegenwärtigen Gefahr für Leib oder Leben“ sind, ist der Gebrauch zulässig.
Ob das der Fall war, sollen nun die Ermittlungen zeigen. Zuständig ist eine
Mordkommission der benachbarten Polizei Essen – „aus Neutralitätsgründen“,
wie es in solchen Fällen heißt. [12][Dieses Vorgehen ist üblich, steht
jedoch in der Kritik,] da die Polizei gegen sich selbst ermittelt.
Vorerst bleiben viele Fragen offen. Warum konnten vier Polizeibeamte das
12-jährige Kind nicht mit anderen Mitteln stoppen? Und sollten solche Fälle
überhaupt Aufgabe bewaffneter Polizisten sein? Sozialarbeiter*innen
oder andere Personen mit Erfahrung im Kontakt mit Kindern waren nach
jetzigem Stand nicht vor Ort.
18 Nov 2025
## LINKS
(DIR) [1] https://www.bild.de/regional/nordrhein-westfalen/bei-einsatz-in-bochum-polizei-schiesst-maedchen-12-nieder-691aecbc5be12c0b0e0c29d0
(DIR) [2] /-Dobrindts-Taser-Vorstoss/!6090052
(DIR) [3] https://www.waz.de/lokales/bochum/article410477782/zwoelfjaehrige-in-bochum-nach-schuessen-aus-polizeiwaffe-in-lebensgefahr.html
(DIR) [4] /Polizeischuesse-in-Berlin-Wedding/!6095956
(DIR) [5] /Polizeiexperte-ueber-Umgang-mit-psychisch-Kranken/!5880681
(DIR) [6] /Tod-nach-Polizeieinsatz/!5896276
(DIR) [7] /Die-Polizei-hat-2024-so-viele-Menschen-erschossen-wie-seit-1999-nicht-mehr/!6042771
(DIR) [8] /Kriminologe-ueber-verfehlte-Polizeigewalt/!5925970
(DIR) [9] /Psychologe-ueber-toedliche-Polizeischuesse/!5408530
(DIR) [10] https://www.thomasfeltes.de/images/Feltes_Polizeilicher_Umgang_mit_psychisch_beeintr%C3%A4chtigte_Personen_2023.pdf
(DIR) [11] https://polizeischuesse.cilip.de/?p=1#chronik
(DIR) [12] https://verfassungsblog.de/unabhangige-ermittlungsstellen-fur-straftaten-der-polizei/
## AUTOREN
(DIR) Aljoscha Hoepfner
## TAGS
(DIR) Polizei NRW
(DIR) Psychische Erkrankungen
(DIR) Schusswaffen
(DIR) Taser
(DIR) Schwerpunkt Polizeigewalt und Rassismus
(DIR) GNS
(DIR) Reden wir darüber
(DIR) Polizeigewalt
(DIR) Bochum
(DIR) GNS
(DIR) Reden wir darüber
(DIR) Polizeigewalt
(DIR) Tödliche Polizeischüsse
(DIR) Polizeigewalt
(DIR) Polizei Berlin
(DIR) Lesestück Interview
## ARTIKEL ZUM THEMA
(DIR) Polizeischüsse in Bochum: Nachplappern statt nachfragen
In der Nacht zu Montag wurde bei einem Polizeieinsatz eine Zwölfjährige
schwer verletzt. Warum übernehmen Medien die Polizeierzählung des
Geschehens?
(DIR) Kriminologe über Bochumer Polizeischüsse: „Ein Fall, vor dem tatsächlich viele Polizisten Angst haben“
Die Schüsse auf ein 12-jähriges Mädchen sind das Worst-case-Szenario, sagt
Polizeiexperte Martin Thüne. Er fordert bessere Ausbildung und Bodycams.
(DIR) Anstieg tödlicher Schüsse durch Polizei: Nicht eure Zielscheibe
Die Polizei hat 2024 so viele Menschen erschossen wie seit 1999 nicht mehr.
Viele dieser Menschen waren psychisch krank. Beamt*innen werden zur
Gefahr.
(DIR) Tod nach Polizeieinsatz: Koste es, was es wolle
Medard Mutombo soll von der Berliner Polizei in die Psychiatrie gebracht
werden. Der Einsatz endet tödlich. Sein Bruder fordert Konsequenzen.
(DIR) Psychologe über tödliche Polizeischüsse: „Fast alle Fälle sind vermeidbar“
Seit 1990 starben in Deutschland 269 Menschen durch Polizeischüsse. Viele
Opfer haben eine psychische Erkrankung. Thomas Feltes über Deeskalation.