# taz.de -- Halt in Salzwedel: Der Übergangsarsch macht nachdenklich
> Die Umleitung des ICE Hamburg–Berlin ist schuld, dass nun auch
> Großstädter Salzwedel kennen. Unser Autor hat sich in dem altmärkischen
> Ort umgeschaut.
(IMG) Bild: Das Autonome Zentrum Salzwedel wurde zuletzt immer wieder angegriffen
Es gibt keinen schnelleren Weg zu tiefer innerer Ruhe, als an einem
Sonntagmorgen mit dem Zug von einer Großstadt in eine deutsche Mittelstadt
zu fahren. Seit einigen Monaten kann in diese Gleichung anstelle der
Mittelstadt auch „Salzwedel“ eingesetzt werden – eine temporäre logistische
Besonderheit, die mit der [1][Generalsanierung der Schnellzugstrecke
Berlin–Hamburg] zu tun hat. Dadurch fahren die ICEs einen Umweg. Lüneburg,
Uelzen sowie Salzwedel verfügen nun über eine Direktverbindung in die
beiden größten deutschen Städte. Die Chance also auf viele Millionen neue
Tagestourist:innen. Sind sie darauf vorbereitet?
Widmen wir uns der unscheinbarsten dieser drei Mittelstädte: Salzwedel.
22.000 Einwohner, gelegen in der Altmark im nördlichen Sachsen-Anhalt und
bisher vor allem dafür bekannt, die am weitesten von einer Autobahnauffahrt
entfernte deutsche Stadt zu sein.
So steigt der Berliner an einem Sonntag um 8.38 Uhr in einen ausgesprochen
leeren ICE. Im Großraumabteil: ein letzter Moment
deutsch-passiv-aggressiver Befindlichkeiten. Fahrgast 1: „Darf ich vorbei?“
– Fahrgast 2: „Wenn’s sein muss!“ – Fahrgast 1: „Ja, ich muss.“ Haha! Das
war es aber schon mit zwischenmenschlicher Konversation in dieser
[2][Reisereportage], wir tauchen nun ein in absolute mittelstädtische Ruhe.
In Blumigkeit, Bächlein und Backstein.
Am Halt Salzwedel steigen fünf Passagiere aus, alle scheinen Einheimische
zu sein oder zu Besuch bei Einheimischen. Der Berliner folgt fortan den
zwei Konstanten Salzwedels: erstens den Mauerbeschriftungen der örtlichen
Antifa-Szene, die hier sehr stabil zu sein scheint. Und zweitens der
Reklame des Café Kruse, dessen Maskottchen ein Kind ist, das samt seiner
Schürze der Form des „Königlichen“ Baumkuchens gleicht, den es hoch
emporgehoben vor sich balanciert. Physikalisch ist das ein Ding der
Unmöglichkeit.
Das Baumkuchenkind führt auf mannigfaltigen, ja penetranten Wegweisungen
einmal quer durch die Altstadt und an beinahe allen Sehenswürdigkeiten
vorbei. Den Anfang macht dabei der Wasserturm am Bahnhof, natürlich aus
Backstein, genau wie die kurz darauf folgende Katharinenkirche,
salzwedel’sche Brutstätte der friedlichen Revolution von 1989, heute mit
geschlossener Tür. Der Pfarrer ist im Urlaub.
Vor der Kirche [3][steht eine Tauschbücherei] in einer roten Londoner
Telefonzelle. Wer bereits Heimweh nach Berlin hat: Hier werden auch
dreckige Spannbettlaken zum Tausch geboten. An der Ecke wartet das erste
kulinarische Highlight, das georgische Restaurant Aragwi. Doch heute nicht,
wir werden uns noch der lokaltypischen Küche zuwenden. Der Asia-Shop
(„Textilien und Geschenkartikel“) beweist, dass Salzwedel nicht bloß
Anschluss an den ICE, sondern durchaus auch an globale Trends der Popkultur
hat. Nebst Weckern und Baby-Buddhas aus Plaste bietet der Shop auch Labubus
an, die teuflisch entschieden dreinblickenden Kuschelmonster-Anhänger aus
China. Hier in Salzwedel sind sie der größte Gegensatz zur Idylle.
Wer wie der Berliner vorab die städtischen Infobroschüren liest, bekommt
den Eindruck, Salzwedels Beschaulichkeit baue auf Kopfstein, Backstein und
Fachwerk. Die entscheidende Zutat sind aber die Wassergassen, welche die
Altstadt umspielen, und zwar die Jeetze, die Dumme und dieser eine Kanal
dazwischen. Erst das – plus Fachwerk – eröffnet pittoreske Perspektiven,
die sich gewaschen haben. Warum da noch nach Straßburg streifen?
Freilich birgt diese altmärkische Hutzeligkeit auch einen gewissen Horror,
[4][wie in dem dieses Jahr in Cannes prämierten Film „In die Sonne schauen“
zu sehen ist]. Der spielt immerhin in der Altmark. Doch an diesem sonnigen
Vormittag ist davon nichts zu spüren, einzig ein Mann blickt grimmig drein.
Er lenkt seine kleine Tochter in einem riesigen, rosafarbenen,
ferngesteuerten Auto durch die ansonsten leer gefegte Breite Straße.
Der Berliner kommt nun am Salzwedeler Puparschbierbrunnen vorbei, geziert
durch die mahnende Losung „Allen wird bekannt gemacht, dass keiner in die
Jeetze kackt, denn morgen wird gebraut“. Womöglich, weil das erwähnte
Hinterteil hier in der Tat fehlt, ja Imagination der Betrachter*innen
bleibt, hat ein Unbekannter eines gebastelt und über den Brunnen gelegt.
„Übergangsarsch“ steht darunter nun geschrieben. Macht nachdenklich.
Weiter geht es, hinein in den Burggarten, dessen Burg nur noch aus einem
dicken roten Turm besteht, linker Hand führt ein Trampelpfad entlang, bis
der Berliner schließlich vor dem wohl unvermeidlichen Café Kruse steht.
Beziehungsweise: dahinter. Er blickt auf die Terrasse, die Tische sind
ungedeckt, das Tor verschlossen. Durch das Gitter ist kein Baumkuchen zu
erblicken, dafür immerhin eine menschenhohe, silberne Baumkuchenskulptur.
Für Kaffee und Kuchen wäre es aber ohnehin noch zu früh. Für den Berliner
soll es jetzt eine der herzhaften regionalen Spezialitäten sein. Das
lokaltypische Zungenragout findet er auf den hiesigen Speisekarten leider
nicht, es ließe sich nur online im Glas bestellen. Stattdessen soll eine
Altmärkische Hochzeitssuppe das Finale sein. Auch des inneren
Zur-Ruhe-Kommens.
Auf dem Weg zum Restaurant Kulti passiert der Berliner – befreit vom
Café-Kruse-Spam – das Geburtshaus von Jenny Marx, der Frau vom Karl, und
schreitet einmal quer durch die Lorenzkirche, unter einem imposanten hellen
Gewölbe mit Konturen aus, natürlich, Backstein. Ein Chor ertönt, nur woher?
Aus der Ferne dreht nun eine breite Gesellschaft ihre Köpfe nach links, in
Richtung des Berliners. Hier und heute wird geheiratet.
400 Meter weiter die Altperverstraße runter liegt das Autonome Zentrum
Salzwedel, rebellischerweise ohne Backsteinfassade. Bald stehen hier wieder
Bauwochen an („Pennplätze möglich“). In den vergangenen Jahren wurde das AZ
immer wieder angegriffen, [5][zuletzt im Februar mit Steinen beworfen].
Kurz vor der anvisierten Gaststätte erzählt schließlich eine Hauswand, was
Salzwedel überhaupt mit Salz zu schaffen hat: Die einstige Hansestadt liegt
an einem nach Süden ragenden Nebenarm der Alten Salzstraße zwischen Lübeck
und Lüneburg, über die im Mittelalter Salz gehandelt wurde. Gewedelt wurde
es hier leider nicht. Das „Wedel“ führt eher auf eine seichte Stelle in der
Jeetze zurück, an der Karren sie queren konnten.
Im Restaurant Kulti – drinnen Cocktailbar-Vibe, draußen Biergarten – ist
der Berliner heute der einzige Gast. Als Gruß aus der Küche gibt es zwei
Scheiben Zwiebelbrot mit Olivenöl, unmittelbar gefolgt von der
Altmärkischen Hochzeitssuppe, einer diesigen Brühe mit drei Einlagen:
Spargelstücke, Fleischklößchen, Eierstich. Mit viel Salz drin, vielleicht
ja aus Lüneburg.
Gut gesättigt und gesalzen steigt der Berliner wieder in den Zug. Zum
eigentlichen, touristischen Magnet der Stadt, dem „Märchenpark &
Duftgarten“ mit Elfencafé, Minigolfanlage, Go-Kart-Rundweg, Irrgarten und
Hunderten Märchenfiguren, hat er es nicht geschafft. Dafür bräuchte es eine
gute Stunde Fußweg über Landstraße. Ein Ziel für Eltern, Kinder – und ihre
Autos.
Aber es geht ja auch ohne. Die Züge fahren beinahe stündlich. Laut
Deutscher Bahn entfällt der ICE-Halt Salzwedel ab 1. Mai 2026.
2 Dec 2025
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