# taz.de -- Fotoarbeit „Encyclopaedia“: Traue nicht deinen Augen
> Fakes gibt es schon viel länger als das Internet, etwa in Lexika. Was ist
> wahr und was ist falsch? Damit spielt die Künstlerin Weronika Gęsicka.
(IMG) Bild: Bessa Vugo (1919–1991), eine deutsche Biologin mit Spezialisierung auf die fünf Sinne. Bessa bot Versuchspersonen zu geometrischen Formen (Würfel, Pyramiden, Hörnchen) gepresstes Essen an und maß das Verhalten als Reaktion auf unterschiedliche Nahrungsmittel
Der Jungftak muss ein schräger Vogel gewesen sein. In [1][„Webster]’s
Universal Dictionary of the English Language“ von 1937 wird er
folgendermaßen beschrieben: jungftak (jŭngf′ täk), n. ein sagenumwobener
persischer Vogel, das Männchen hatte nur einen Flügel auf der rechten
Seite, das Weibchen nur einen Flügel auf der linken Seite; statt des
fehlenden Flügels hatte das Männchen einen Knochenhaken und das Weibchen
eine Knochenöse, und durch die Verbindung von Haken und Öse konnten sie
fliegen – jeder für sich musste auf dem Boden bleiben. Nur wenn sich beide
Tiere zusammentaten, kamen sie also vorwärts. Was für eine rührende
Geschichte.
Zu schön, um wahr zu sein? Tatsächlich handelt es sich beim Jungftak um
einen sogenannten Nihileintrag, einen gefälschten Lexikonartikel. Fake News
mögen im Zeitalter von Social Media ungeahnte Verbreitung finden. Doch es
gibt sie auch schon lange genau da, wo man sie nicht vermuten würde: in
Lexika und Nachschlagewerken. Manche Wissenschaftler*innen machen sich
einen Spaß daraus, erfundene Dinge oder fingierte Biografien einzufügen.
Nihileinträge haben jedoch auch einen ernsten Hintergrund: Sie dienten als
Kopierschutz. Anhand der ausgedachten Artikel ließ sich leicht nachweisen,
wenn jemand abgeschrieben hatte.
Wenn aber selbst Lexika, diese Sammlungen vermeintlich verlässlicher
Informationen, fingierte Einträge enthalten, woher soll man noch wissen,
was wahr ist und was falsch? Mit dieser Frage spielt die polnische
Fotografin und Künstlerin Weronika Gęsicka in ihrer aktuellen Arbeit
„Encyclopaedia“. Als sie das erste Mal von ausgedachten Einträgen in Lexika
hörte, war sie sofort fasziniert. Zwei Jahre recherchierte sie zu der
Thematik, las wissenschaftliche Artikel, stieß auf gefälschte
Begrifflichkeiten, teils mit Abbildungen. Bei Online-Auktionen versuchte
sie, Werke mit Nihilartikeln zu ersteigern. „Das war nicht leicht, weil
manche Einträge nur in einer bestimmten Ausgabe eines bestimmten Jahres
erschienen sind.“
Ab 2022 begann Gęsicka, die fingierten Artikel zu illustrieren. Als
visuelle Künstlerin arbeitet sie viel mit Fotos aus Datenbanken und fertigt
daraus Collagen. So entstand auch das Bild zu „Bessa Vugo“, einer Biologin,
die in einer [2][Online-Enzyklopädie] aufgeführt ist, obwohl es sie laut
Gęsicka nie gegeben hat. Bessa Vugo war dem Eintrag zufolge auch eine
Theoretikerin der fünf Sinne, die mit Essen in verschiedenen geometrischen
Formen experimentierte. Ob Kinder bei pyramidenartigen Zitronen eher auf
den Geschmack kommen?
Weronika Gęsicka stieß beim Collagieren bald an Grenzen. Besonders für die
Lexikoneinträge vom Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts habe ihr
passendes Archivmaterial gefehlt, erzählt sie. Gęsicka beschloss
kurzerhand, mithilfe von künstlicher Intelligenz ihr eigenes
„Archivmaterial“ zu erstellen. Inhaltlich ist das konsequent: Sie übertrug
das Konzept der Fakes auf die bildliche Ebene und verwischte weiter, was
wahr ist und was falsch.
Mithilfe von künstlicher Intelligenz fand auch der Jungftak 2023 zu seiner
Form, und das gleich in neunfacher Ausführung. Die Bildgeneratoren steckten
zu der Zeit allerdings noch in den Kinderschuhen, sagt Gęsicka. Das sehe
man den Bildern an. „Die KI war noch nicht in der Lage, mit abstrakten
Konzepten umzugehen.“
Heute sind gefälschte Bilder auf den ersten Blick nur mehr schwer von
echten zu unterscheiden – was Fake News auf Social Media noch mehr Macht
verleiht. Desinformation wird genutzt, um Menschen zu verunsichern und
Gesellschaften zu destabilisieren. Gęsickas Arbeit wirkt im Vergleich dazu
erfreulich harmlos. Im wörtlichen Sinne: Ihre Bilder tun niemandem weh. Im
Gegenteil, ihre Fakes sind nicht bedrohlich, sondern heiter. Sie muten
teils historisch an, ihre Botschaft aber ist hochaktuell. Man sollte dem,
was man vor Augen hat, nicht trauen. Zweifel sind angebracht.
Etwa an Loriots berühmter Steinlaus. Das fantastische Tier tauchte erstmals
[3][in einem von Loriots Sketchen] in den 70er Jahren auf, es fand dann
seinen Weg in das [4][medizinische Wörterbuch Pschyrembel]. Dort steht:
Kleinstes einheimisches Nagetier mit einer Größe von 0,3–3 mm aus der
Familie der Lapivora (Erstbeschreibung 1983). Bei der Steinlaus handelt es
sich um einen ubiquitär vorkommenden [also sehr verbreiteten], in der Regel
apathogenen [nicht krankmachenden] und stimmungsaufhellenden Endoparasiten.
Sie machen eben gute Laune, diese Steinläuse. Weronika Gęsicka orientierte
sich an den Zeichnungen des Tieres. Mithilfe von Fotos und KI generierte
sie dann ihre eigene Laus, die auf einem ausgestreckten Zeigefinger sitzt.
Lügen haben kurze Beine, heißt es. Dafür hat es die Steinlaus in all den
Jahren ziemlich weit gebracht.
Weronika Gęsicka, geboren 1984, ist Fotografin und visuelle Künstlerin. Mit
ihrer Arbeit „Encyclopaedia“ wurde Gęsicka gerade für den Deutsche Börse
Photography Foundation Prize 2026 nominiert. Das Fotobuch wurde 2024
verlegt von Blow Up Press und Jednostka Gallery.
25 Oct 2025
## LINKS
(DIR) [1] https://archive.org/details/webstersuniversa0001jose/page/n44/mode/1up
(DIR) [2] https://everybodywiki.com/Bessa_Vugo
(DIR) [3] https://www.youtube.com/watch?v=6ehcytFUV38
(DIR) [4] https://www.pschyrembel.de/Steinlaus/K0LHT
## AUTOREN
(DIR) Antje Lang-Lendorff
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