# taz.de -- Überlebender des 7. Oktober im Gespräch: „Wir müssen diesen Albtraum beenden“
       
       > Amir Tibon überlebte den Angriff der Hamas auf seinen Kibbuz nur knapp.
       > Welche Fehler Israel damals machte und warum er hofft, dass der Krieg
       > endet.
       
 (IMG) Bild: Aufnahme eines von der Hamas durchbrochenen Zauns nahe Nahal Oz. Im Hintergrund Rauchsäulen im Gazastreifen. 30. Januar 2024
       
       taz: Herr Tibon, 2014 zogen sie mit ihrer jetzigen Frau nach Nahal Oz,
       einem israelischen Kibbuz nahe dem Gazastreifen. In [1][Ihrem Buch „Die
       Tore von Gaza“] schreiben Sie, dass sie am Morgen des 7. Oktobers 2023
       Mörserfeuer hörten und sofort zu ihren Kindern eilten, die im
       Sicherheitsraum schliefen – eine „hektische, aber vertraute Routine“, wie
       Sie es nennen. Wann spürten Sie, dass dieser Tag anders war als die
       Angriffe, die man in den Kibbuzim nahe Gaza gewohnt ist? 
       
       Amir Tibon: Als wir Maschinengewehrfeuer hörten, wussten wir, dass etwas
       anders ist. In der Geschichte von Nahal Oz – seit mehr als 70 Jahren an der
       Grenze – gab es immer wieder Mörserangriffe, Hinterhalte auf den Feldern
       und Ähnliches. Doch bewaffnete Terroristen, die in die Gemeinde eindringen
       – das war für uns unvorstellbar.
       
       taz: Und für solche Angriffe waren die Kibbuzim nicht gerüstet? 
       
       Tibon: Diese Routine war für Raketen- und Mörserangriffe gedacht. Die
       Sicherheitsräume sind aus dickem Beton und sollen Einschlägen aus der Luft
       standhalten. Aber an diesem Tag wurden sie für viele Menschen in den
       Kibbuzim zur Falle. Die Räume sind nicht gut verschlossen, das sollen sie
       auch gar nicht sein. Also fanden sich viele Leute eingeschlossen darin
       wieder, als sie bemerkten, dass sie vor dem, was gerade passiert, nicht
       geschützt sein werden.
       
       taz: Sie verbrachten Stunden mit ihrer Familie im Dunkeln, während draußen
       die Terroristen von Tür zu Tür gingen und versuchten, die Sicherheitsräume
       aufzubrechen. Dann, so schreiben Sie, kam ihr Vater, ein pensionierter
       General, zur Hilfe. Er fuhr von Tel Aviv nach Nahal Oz, das sind etwa 80
       Minuten Autofahrt. 
       
       Tibon: Er fuhr allein, traf auf dem Weg einen anderen Soldaten, der ihn
       dann begleitete. Am Eingang des Kibbuz traf er auf weitere Soldaten. Dann
       kamen sie, um uns zu befreien.
       
       taz: Wieso musste erst ein Pensionär kommen, um Ihnen zu helfen? Sind die
       Kibbuzim nicht durch das israelische Militär ausreichend geschützt gewesen? 
       
       Tibon: Das berührt drei verschiedene Probleme. Erstens: Die israelischen
       Streitkräfte hatten einfach nicht genug Soldaten für alle Missionen, die
       sie sich vorgenommen hatten. Das bleibt bis heute ein Problem, weil wir in
       diesem Krieg Tausende Soldaten verloren haben. Zweitens: Ein großer Teil
       der militärischen Kräften war im Westjordanland stationiert. Im Buch
       zitiere ich einen hochrangigen Hamas-Funktionär, der in einem
       Fernsehinterview vom August 2023 sagt, dass Israel 30 Bataillone in der
       West Bank stationiert hat. Sie wussten, dass wir zu wenig Soldaten nahe
       Gaza hatten. Drittens: Der 7. Oktober 2023 war in Israel ein Feiertag
       (Simchat Torah, Amn. d. I.), und die Geheimdienste versagten, weil sie
       nicht erkannten, dass an diesem Tag etwas passieren könnte. Alle drei
       Punkte zusammen erzeugten dieses Desaster.
       
       taz: In Ron Leshems Buch „Feuer“ über den Angriff vom 7. Oktober lese ich,
       dass es durchaus Indizien für einen unmittelbar bevorstehenden Großangriff
       aus Gaza gab. So sollen wenige Tage zuvor Übungen von Hamas-Kämpfern nahe
       dem Grenzzaun stattgefunden haben. 
       
       Tibon: Lassen Sie uns einen Blick auf Russland und die Ukraine werfen: Wie
       oft hat es vor dem Februar 2022, als Putin die Ukraine überfiel, Zeichen
       dafür gegeben, dass er einen Krieg beginnen könnte? Es gab unterschiedliche
       Prognosen darüber, wann er einen Krieg beginnen könnte oder wie lange die
       russischen Streitkräfte bis nach Kyjiw brauchen. Geheimdienstarbeit ist
       keine exakte Wissenschaft. Die Ergebnisse können unterschiedlich bewertet
       werden. Auch in Israel gab es über zwei Jahre vor dem 7. Oktober hinweg
       immer wieder Befürchtungen, Hamas plane einen grenzübergreifenden Angriff –
       aber das nahm nie konkrete Form an. Demzufolge glaubten einige der Leute,
       die Geheimdienstinformationen analysieren, dass der 7. Oktober wieder so
       ein Fehlalarm sein wird. All das muss untersucht werden.
       
       taz: Was fordern Sie? 
       
       Tibon: Wir brauchen eine Untersuchungskommission nach israelischem Recht,
       die all diese Fälle aufnimmt und klärt, wo Fehler gemacht wurden und warum.
       Ein Problem dabei ist, dass alles schon zwei Jahre her ist, und Netanjahu
       sich weigert, eine solche Kommission aufzusetzen.
       
       taz: Warum? 
       
       Tibon: Weil er weiß, dass er für schuldig befunden werden wird. Und in der
       Zwischenzeit verlieren wir Dokumente und Zeugenberichte. Und es gibt
       Sabotage am Originalmaterial. Das ist sehr übel.
       
       taz: Welche Sabotage? 
       
       Tibon: Man kann Dokumente vernichten, man kann Zeugenaussagen koordinieren.
       Wenn zwei Leute gemeinsam Schuld tragen, können sie beschließen,
       füreinander Sorge zu tragen. Wenn man nicht schnell untersucht, bleibt man
       ohne glaubwürdige Antworten – und das passiert gerade.
       
       taz: Dieser vernichtende Krieg in Gaza dauert nun schon zwei Jahre an, mit
       geschätzten Zehntausenden – manche sprechen von Hunderttausenden –
       Todesopfern auf der palästinensischen Seite und etwa 2.000 Todesopfern auf
       der israelischen Seite. Noch immer sind 48 Geiseln im Gazastreifen, eine
       Person sogar aus Nahal Oz … 
       
       Tibon: Ja, mein Freund Omri.
       
       taz: … und noch immer behauptet der israelische Premierminister Benjamin
       Netanjahu, die primären Kriegsziele seien die Entmachtung der Hamas und die
       Befreiung der Geiseln. Wie bewerten Sie seinen Erfolg darin? 
       
       Tibon: Dass der Krieg seit zwei Jahren andauert, ist ein Versagen für sich.
       Die ursprüngliche nationale Sicherheitsstrategie Israels von David
       Ben-Gurion, dem Staatsgründer, war: kurze und entscheidende Kriege. Er
       glaubte daran, weil er verstand, dass die Welt Israel nicht bei zwei Jahre
       langen Kriegen auf dem Niveau unterstützen wird, das Israel braucht.
       Netanjahu zieht den Krieg aus politischen Gründen in die Länge. Zurzeit
       sehen wir aber nach vorne und nicht zurück: Es gibt einen guten Plan von
       US-Präsident Trump. Es könnte noch einige Änderungen geben, Hamas wird
       Teile davon verhandeln wollen. Aber insgesamt ist es ein guter Plan. Er
       sieht vor, den Krieg zu beenden, die Geiseln zurückzubringen, Nahrung sowie
       medizinische Versorgung zu den Menschen in Gaza zu bringen und den
       Wiederaufbau zu beginnen. Ich hoffe, dass alle die Gunst der Stunde nutzen
       und mitziehen. Wir müssen diesen Albtraum beenden, es kann so nicht
       weitergehen.
       
       taz: Wie wird der [2][Trump-Plan] von Israelis bewertet, falls man das so
       verallgemeinern kann? 
       
       Tibon: Vor wenigen Tagen gab es eine Umfrage: 72 Prozent unterstützen ihn,
       8 Prozent lehnen ihn ab. Doch diese 8 Prozent sind stark in der Regierung
       vertreten.
       
       taz: Welche Leute sind das? 
       
       Tibon: Smotrich, Ben Gvir …
       
       taz: [3][Die Hardliner.]
       
       Tibon: Sie müssen auch bedenken: Umfragen zeigen gleichbleibend, dass 60
       Prozent der Israelis Netanjahus Rücktritt wollen.
       
       taz: Das erklärte Ziel von Hamas war vielleicht kein endlos langer Krieg,
       aber ein Krieg von solchem Ausmaß, dass Israel international isoliert wird. 
       
       Tibon: In dieser Hinsicht hatten sie Erfolg.
       
       taz: Inwiefern? 
       
       Tibon: Aus Sicht der Bevölkerung von Gaza hat die Hamas ihnen eine totale
       Katastrophe beschert. Doch das Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung
       kümmert die Hamas nicht. Sie sehen es so, dass sie den bislang größten und
       tödlichsten Akt des Terrorismus gegenüber Israel verübt haben. Und sie
       haben es geschafft, dass Israel im Laufe dieses Krieges international
       isoliert und geächtet wird. Aber sie haben überlebt. Sie haben viele ihrer
       Führungspersonen verloren und sind heute wesentlich geschwächt, aber sie
       werden überleben, um an einem anderen Tag weiterzukämpfen. Das interessiert
       sie am meisten.
       
       taz: Also hat Hamas auf eine Art gewonnen? 
       
       Tibon: Es ist lächerlich, wenn sie das nun als Sieg bezeichnen. Sprechen
       Sie mit den einfachen Leuten in Gaza, die so viel in den vergangenen zwei
       Jahren verloren haben – das ist kein Sieg, das ist ein Desaster.
       
       taz: Infolge der Zerstörung Gazas haben mehrere weitere Staaten – darunter
       Frankreich, Großbritannien, Kanada und Australien – sich bereit erklärt,
       einen palästinensischen Staat anzuerkennen. Hat der Angriff vom 7. Oktober
       Hamas diesem Ziel näher gebracht, wenn es überhaupt ein Ziel war? 
       
       Tibon: Nein, und Hamas will auch keinen palästinensischen Staat.
       
       taz: Nein? 
       
       Tibon: Hamas will eine Ein-Staaten-Realität. Das Problem der
       palästinensischen Eigenstaatlichkeit ist kompliziert. Die internationale
       Anerkennung eines palästinensischen Staats ist sehr symbolisch. Sie
       bedeutet nicht viel für Palästinenser, die in Ramallah oder Hebron (zwei
       größere Städte unter Verwaltung der palästinensischen Autonomiebehörde im
       Westjordanland, Anm. d. I.) leben.
       
       taz: Inwiefern hat der Krieg in Gaza der israelischen Gesellschaft
       geschadet? Es gibt Berichte über hohe Suizidraten unter IDF-Soldaten … 
       
       Tibon: Es gibt einen riesigen Anstieg von posttraumatischen
       Belastungsstörungen, von Extremismus und allgemein einem sehr ungesunden
       Dialog im Land. Und das Problem der Geiseln bleibt. All das ist nicht gut,
       und noch mal: Dieses Land ist nicht dafür gemacht, lange Kriege zu führen.
       Das dauert jetzt zwei Jahre und ist schlecht für die israelische
       Wirtschaft, die israelische Gesellschaft und lenkt ab von einer Menge
       Problemen, die gelöst werden müssen. Deswegen hoffe ich, dass es endet.
       
       taz: Wird Netanjahus Regierung mit dem Krieg enden? 
       
       Tibon: Ich hoffe es, denn er ist verantwortlich für das, was passiert ist,
       und er ist nicht der Richtige, um die Genesung anzuführen.
       
       taz: Wenn ich heute nach Nahal Oz fahren würde, was würde ich da sehen? 
       
       Tibon: Sie würden sehen, dass 35 Prozent der Bevölkerung bereits
       zurückgekehrt sind und rund 70 Prozent der Gebäude wieder aufgebaut wurden.
       
       taz: Werden Sie nach Nahal Oz zurückkehren? 
       
       Tibon: Um dort zu leben? Aktuell nicht. Wir warten, bis es vorbei ist.
       
       6 Oct 2025
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Konstantin Nowotny
       
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