# taz.de -- Christlicher Nationalismus: Die Lieblingswaffe der Rechtspopulisten
       
       > Während Demokratien bröckeln, wird das Christentum von Rechten entdeckt.
       > In den USA, Ungarn oder BRD: Der Glaube dient einer Politik der
       > Ausgrenzung.
       
 (IMG) Bild: Feiern Charlie Kirk als christlichen Märtyrer: Besucher*innen der Trauerfeier in Glendale am 21. September
       
       Viktor Orbán spricht gern vom „christlichen Europa“ – und meint damit
       [1][ein Ungarn], das Migranten draußen hält und die liberale Demokratie
       gleich mit. Symbolkräftig ließ er die Krone von Stephanus dem Heiligen, der
       als erster König von Ungarn die heidnischen Magyaren christianisierte, aus
       dem Nationalmuseum ins Parlament überführen. [2][Giorgia Meloni beschwört]
       in Rom „Gott, Familie und Vaterland“ – eine Dreifaltigkeit gegen
       Feminismus, Gleichberechtigung und Vielfalt.
       
       In Frankreich berufen sich Marine Le Pen und Éric Zemmour auf das
       „[3][jüdisch-christliche Erbe]“ – eine Formel, die nichts anderes bedeutet
       als: Muslime gehören nicht zu Frankreich. Und in den Niederlanden? Da mimt
       Geert Wilders den Hüter christlicher Werte, obwohl sein Lebensstil mit
       christlicher Moral wenig zu tun hat.
       
       Deutschland steht dieser Entwicklung in nichts nach. Im AfD-Wahlprogramm
       ist das Christentum nicht etwa Religion, sondern der Zement der „deutschen
       Identität“ und mit „unserer“ Kultur „eng verbunden“. Somit ist die
       muslimische Zuwanderung die größte Gefahr für die
       „christlich-abendländische Kultur in Deutschland“, wobei auch vor einer
       „Islamisierung“ Deutschlands gewarnt wird. Die christliche Religion wird
       zur Grenzmarkierung aufgerüstet.
       
       In den USA hat sich diese Allianz von Politik und Christentum längst
       etabliert. Evangelikale Pastoren segnen Präsidentschaftskandidaten,
       Wahlkämpfe verlaufen wie Erweckungsgottesdienste. Donald Trump verkauft
       Bibeln wie andere Politiker Basecaps und inszeniert sich [4][als
       „nichtkonfessioneller“ Messias], während J. D. Vance seine Konversion zum
       [5][Katholiken erfolgreich vermarktet] und sich so den Rückhalt der
       erzkonservativen Republikaner sichern will.
       
       Eindrucksvoll wurde die enge Verbindung bei der [6][Trauerfeier für den
       ermordeten Charlie Kirk] in Arizona beschworen. Die höchsten Ebenen der
       US-Regierung und der evangelikalen Kirche verschmolzen bei dem Gottesdienst
       zu einer sakralen Einheit, um Kirk als modernen christlichen Märtyrer zu
       feiern.
       
       ## Scharfe Waffe im Kulturkampf
       
       Die Botschaft der Rechtspopulisten ist überall dieselbe: „Wir“ sind die
       Hüter der Tradition, „die anderen“ – Muslime, Liberale, Feministinnen,
       Homosexuelle – bedrohen die göttliche Ordnung. Religion wird zur scharfen
       Waffe in einem Kulturkampf, der Gesellschaften spaltet und Demokratien
       zermürbt.
       
       Das Christentum wird nicht als Glaubenspraxis verstanden, sondern als
       Abgrenzungsmarker. Es geht nicht um Nächstenliebe, sondern um Grenzziehung
       und Ausgrenzung. Wer dazugehört, darf sich sicher fühlen, wer draußen
       steht, wird zur Gefahr erklärt. Statt integrativer Kraft wird Religion zum
       Ausweis nationaler Identität – sie ist Machtwerkzeug und Passierschein
       zugleich.
       
       Diese Strategie hat einen Vorteil: Sie immunisiert gegen Kritik. Wer Orbán
       widerspricht, widerspricht Gott. Wer Melonis Familienpolitik kritisiert,
       stellt sich gegen die „Schöpfungsordnung“. Politik wird so von der
       sachlichen Ebene mit notwendiger Diskussion und Auseinandersetzung
       entbunden und mit moralischer Absolutheit gepanzert.
       
       Marine Le Pen ließ ihre Anhänger bei einem Besuch der Kathedrale von Reims
       wissen: „Frankreich muss sich an die Versprechen seiner Taufe erinnern. Es
       gibt Menschen, die glauben an den Himmel, und solche, die daran nicht
       glauben. Aber ich glaube!“ Und die AfD träumt offen von einer
       „Rückabwicklung“ liberaler Errungenschaften – im Namen des „christlichen
       Abendlands“.
       
       Tragisch ist das auch, weil die Sprache des Christentums einmal eine andere
       war. Nächstenliebe, Barmherzigkeit, Solidarität – all das, was einst den
       Schwachen Hoffnung versprach, wird heute zur Maske einer harten Agenda.
       
       ## Nicht nur politische Rhetorik
       
       Doch es geht nicht nur um politische Rhetorik, Minderheiten verlieren ihre
       Rechte. Frauen, die selbstbestimmt über ihren Körper entscheiden wollen,
       Homosexuelle, die heiraten möchten, Migranten, die Teil der Gesellschaft
       sein wollen – sie alle werden zu Zielscheiben. Seit Jahren schränkt Orbán
       unter dem Vorwand des Kinderschutzes die Rechte von LGBTQ+-Menschen ein und
       verbietet Aufklärungsbücher in Schulen und Bibliotheken.
       
       Meloni will „die Familie stärken“, indem sie alle Lebensformen jenseits der
       traditionellen Kleinfamilie abwertet. Und die AfD möchte die christliche
       Identität retten, indem sie Migranten dämonisiert und Flüchtlinge
       entrechtet. Christus soll gepredigt haben, Fremde aufzunehmen – doch die
       neuen Kreuzritter sehen in jedem Fremden einen Feind. Hier zeigt sich die
       eigentliche Perversion: Die Religion, die einst den Unterdrückten Stimme
       gab, wird zur Ideologie der Herrschaft und Abgrenzung umfunktioniert.
       
       Diese Einstellung könnte auf den ersten Blick fast lächerlich wirken, wenn
       sie nicht so gefährlich wäre. Die sakrale Rüstung, mit der Rechtspopulisten
       ihre Politik verkleiden, ist effektiv. Sie macht aus knallharter
       Machtpolitik eine quasi-heilige Mission. Wer sich dagegen stellt, gilt
       nicht mehr als politischer Gegner, sondern als Feind Gottes. So wird
       Demokratie zur Nebensache, Diskussion zur Blasphemie, Opposition zum
       Frevel.
       
       Die Kirchen selbst verheddern sich in Widersprüchen: Einerseits wollen sie
       sich als Bollwerk gegen den Rechtspopulismus verstehen, andererseits
       profitieren sie seit Jahrhunderten von derselben Logik der kulturellen
       Deutungshoheit. Wenn die Bischöfe heute erschrocken den Schulterschluss von
       Kreuz und Nationalismus beklagen, dann übersehen sie, wie tief beide schon
       immer ineinandergegriffen haben.
       
       Gerade hierzulande müsste man genauer hinsehen: Ist das Gerede vom
       „christlichen Abendland“ der Versuch eines letzten Abwehrzaubers gegen die
       Moderne – oder nicht vielmehr der Beweis, dass Religion, wenn sie politisch
       instrumentalisiert wird, stets dazu neigt, Freiheit und Vielfalt zu
       ersticken und zur Waffe im Arsenal der Populisten verkommt.
       
       Leider lassen sich die Kirchen in Deutschland und anderen Ländern von den
       Rechtspopulisten vereinnahmen, statt lautstark ihre Stimme zu erheben und
       sich von nationalistischem Irrsinn abzugrenzen.
       
       2 Oct 2025
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ralf Nestmeyer
       
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