# taz.de -- NRW-Kommunalwahlen in Münster: Ist die Welt hier noch in Ordnung?
       
       > Nein. Aber nirgendwo ist die AfD so schwach, sind die Grünen so stark wie
       > in Münster. Lässt sich hier etwas lernen für den Rest der Republik?
       
 (IMG) Bild: Oberbürgermeisterkandidat Tilman Fuchs (Grüne) verteilt Flyer auf dem Domplatz in Münster
       
       Münster taz | Sogar der Mann von der AfD kommt hier mit dem Fahrrad. Es ist
       Mittwoch nach der Wahl, und Helmut Birke, der erfolgloseste
       Rechtsextreme des Landes, fährt über das Kopfsteinpflaster von Münster.
       Er muss später noch zum Bioladen, vorher will er der taz erklären, warum
       ihn kaum jemand gewählt hat.
       
       4,5 Prozent hat die Partei bei der Wahl für den Stadtrat geholt, [1][so
       wenig wie nirgendwo sonst]. „Wir tragen das mit Fassung“, sagt Birke, der
       Kreisvorsitzende, und lächelt gequält.
       
       Es ist ein Volkssport geworden, sich nach jeder Wahl mit sorgenvoller Miene
       über die Landkarte mit den Ergebnissen zu beugen und den blauesten Punkt zu
       suchen. Die AfD hat sich bei den Kommunalwahlen in NRW landesweit
       verdreifacht, am stärksten wurde sie mit fast [2][30 Prozent in
       Gelsenkirchen]. Warum sind die da so, was fehlt dem Patienten? Die Frage
       ist berechtigt, aber vielleicht versuchen wir es mal andersrum. In Münster.
       
       Bei der Wahl für den Stadtrat holten die Grünen über 30 Prozent, mehr als
       irgendwo sonst. Ihr Kandidat für den Posten des Oberbürgermeisters erhielt
       über 40 Prozent. [3][Tilman Fuchs muss in die Stichwahl gegen den
       Kandidaten der CDU]. Er wäre der erste grüne OB in der Geschichte der
       Stadt.
       
       ## Lässt sich aus Münster etwas lernen für den Rest der Republik?
       
       Es gibt die einfache Antwort, sie lautet: Nein. 60.000 Studierende leben
       hier, das ist jeder Fünfte. Münster ist wohlhabend, Gerichte,
       Versicherungen und Behörden haben ihren Sitz in der Stadt. Mehr Frauen als
       Männer leben hier, und die [4][wählen seltener rechts.] Und selbst im
       Döner-Imbiss im vermeintlichen Problemviertel sagt der Verkäufer zu einer
       Kundin den schönen Satz: „Welche Sauce? Entschuldigung, das habe ich
       akustisch nicht verstanden.“
       
       Es gibt einfach zu wenig Probleme. Helmut Birke, der AfD-Mann mit dem
       Fahrrad, muss schieben, das Kopfsteinpflaster sei holprig, beschwert er
       sich. Klingt nicht nach einem Wahlkampfschlager. Birke sagt über seine
       Stadt, er sei umzingelt von Beamten, die sich fragten: „Was mache ich mit
       meinem Geld?“ Er gönne es denen ja, beteuert Birke. Und dass er auch nicht
       gern in einer Stadt leben würde, in der seine Partei schon erfolgreich ist.
       
       Geld haben gegen rechts, damit könnte diese Geschichte schon vorbei sein.
       
       Aber es gibt Städte mit ähnlichen Voraussetzungen. Auch Aachen hat eine
       große Uni, auch Bonn hat viele Beamte. Trotzdem sind die AfD-Ergebnisse
       dort höher. Und es gibt Studien, die zeigen: Viele AfD-Wähler sind
       wohlhabend, haben ein Eigenheim, zwei Autos und viele Ängste. Gibt es doch
       etwas in Münster, das anders ist?
       
       Darüber muss man mit [5][Ruprecht Polenz] sprechen, dem Elder Statesman der
       liberalen Union. Man hat sich noch nicht zu ihm an den Tisch der Bäckerei
       gesetzt, schon fängt er an, zu erzählen.
       
       Polenz, der eine Jacke in Rentnerbeige trägt und Cola light trinkt, war
       lange in der Kommunalpolitik. Er hat einen Moment in der Stadtgeschichte
       identifiziert, der bis heute prägend sei. Anfang der 1990er Jahre war das,
       Jugoslawien zerfiel, und viele Menschen flohen, auch nach Münster. Manchmal
       kam am Freitagabend noch der Anruf: Es kommen noch zwei Busse. Polenz sagt,
       damals habe man sich mit allen Parteien zusammengesetzt und geschworen:
       Keine Politik auf dem Rücken von Minderheiten. In Köln gab es in diesem
       Jahr ein ähnliches Abkommen. Es war erfolgreich, auch wenn rechte Medien
       dagegen Sturm liefen.
       
       In Münster hält die Abmachung zum Antikulturkampf bis heute. Zwar wird hier
       auch gestritten, vor allem über den Verkehr. „Aber die Stimmen, die Grünen
       würden das Auto komplett verbieten wollen, werden leiser.“
       
       ## Die Grünen meistern hier den Spagat
       
       So erzählt es der grüne Spitzenkandidat Tilman Fuchs, während er auf dem
       Wochenmarkt steht und die obligatorischen Sonnenblumen verteilt. Bis zur
       Stichwahl geht der Wahlkampf weiter. Aber immer wieder lehnen Passanten
       seinen Flyer ab. „Meine Stimme haben Sie schon“, sagt eine Passantin, „Wir
       schaffen das!“, eine andere. Wer vergangene Wahlkämpfe grüner Kandidaten
       vor Augen hat, denkt unweigerlich: Hier werden sie mit High Five
       abgeklatscht und nicht geboxt.
       
       Dann bleibt eine ältere Dame stehen, teurer Steppmantel, in der ersten
       Runde hat sie den Kandidaten der SPD gewählt. Mehr „Law and Order“, wünscht
       sie sich, gegen rasende Radfahrer und herumstehende E-Roller. „Das werd’
       ich gleich mit dem Ordnungsamt angehen“, sagt Fuchs.
       
       Auch das ist etwas, das Linke aus der Zivilgesellschaft erzählen. Die
       Polizeipräsenz ist hoch in der Stadt, was daran liegen mag, dass hier
       Polizisten fürs ganze Land ausgebildet werden. Auch zur Befriedung im
       Bahnhofsviertel haben Masten mit Videokameras beigetragen. In der liberalen
       Hochburg ist die Polizei nie weit weg.
       
       Ob sich die Grünen im Rest des Landes etwas vom Erfolg in Münster abschauen
       können? Tilman Fuchs, der jetzt neben dem Stand mit Räucherfisch an einem
       Stehtisch lehnt, windet sich bei der Antwort wie ein Aal. Klar, er will
       niemandem ans Bein pinkeln. Aber später erzählt er, wie er im Wahlkampf
       „Ich bin Pro Asyl“ postete und dafür nur Zustimmung bekam. Auch aus der
       grünen Bundesspitze heißt es, für den Erfolg in Köln und Münster sei der
       klare Kurs vor Ort verantwortlich. Bei der Bundestagswahl war der nicht
       immer erkennbar, vor allem beim Thema Asyl. Tatsächlich meistern die Grünen
       hier den Spagat, an dem sie im Bund scheiterten – linke und konservative
       Bürger zu erreichen. Die Linkspartei schnitt jedenfalls schlechter ab als
       bei der Bundestagswahl.
       
       Der Glaubwürdigkeit helfe zudem, dass die Grünen seit über zehn Jahren im
       Stadtrat an der Koalition beteiligt seien. „Wir sind kein Schreckgespenst“,
       sagt Fuchs. Die Grünen könnten kommunal zeigen, was sie bewegten, das sei
       in der Landesregierung und der Ampel nicht immer gelungen.
       
       ## Jeder Zehnte spendet Blut
       
       Auch Ruprecht Polenz hofft, dass seine CDU sich das Ergebnis der
       Kommunalwahl genau anschaut. Für ihn ist klar: Wo die Union liberal
       auftritt, ist sie erfolgreich. In Münster wirbt ihr Kandidat mit „Vielfalt
       und Zusammenhalt“. Er bekam dafür 37, seine Partei 31 Prozent. In ganz NRW
       liegt die Union über dem Bundesschnitt.
       
       Um zu verstehen, was in Münster anders läuft, hilft es, gedanklich einmal
       herauszuzoomen aus der Innenstadt. Von oben betrachtet ist Münster ein
       bisschen wie Berlin: Ein innerer Ring, in dem linksgrün gewählt wird. Und
       ein äußerer, in dem schwarz dominiert. Doch auch hier kriegt die AfD keinen
       Fuß auf den Boden.
       
       Es ist auch der Katholizismus, der Münster so liberal macht, davon ist
       nicht nur Polenz überzeugt. Schon die Nazis taten sich im Münsterland
       anfangs schwer. Eine „Immunitätsreserve“ gegen die Verlockungen des
       Rechtsextremismus, so nennt ein Politikwissenschaftler der Uni Münster den
       Glauben.
       
       Heute geht man zwar nicht mehr jeden Sonntag in die Kirche, dafür in den
       Schützenverein und zur Feuerwehr. Der Politikwissenschaftler nennt Studien,
       die zeigen, wie anderswo der Rückgang von Engagement mit dem Aufstieg der
       Rechten einhergehe. Er zitiert eine Erhebung des Roten Kreuzes, nach der im
       Ruhrgebiet kaum noch jemand Blut spende, während es im Münsterland jeder
       Zehnte sei.
       
       ## „Antifaschistische Schnitzeljagd“
       
       Und dann gibt es noch ein Ereignis in der Stadtgeschichte, bis heute werden
       die Münsteraner jeden Tag daran erinnert. 1533 übernahm eine religiöse
       Sekte kurzzeitig die Macht in der Stadt. Sie gründete das sogenannte
       Täuferreich. Doch der Bischof und seine Truppen schlugen zurück und machten
       mit den Anführern der Sekte kurzen Prozess. Noch heute hängen an der
       St.-Lamberti-Kirche die Käfige, in denen ihre Leichen zur Abschreckung
       ausgestellt wurden.
       
       Leg dich nicht mit der Kirche an, das erzählt diese Geschichte.
       
       In einen Käfig sperren sie ihn nicht, aber auch Helmut Birke fühlt sich
       verfolgt. Ständig muss er ein neues Lokal finden, wenn er sich mit
       Parteifreunden treffen will. Bei zwei chinesischen Restaurants hatten sie
       ihren Stammtisch, bis die Antifa kam und die Wirte merkten, dass die AfD
       schlecht fürs Geschäft ist.
       
       Auch im Stadtbild ist die Partei unsichtbar, nirgendwo hängt ein
       Wahlplakat. Es gibt eine Website, auf der kann man eintragen, wenn man
       eines an der Laterne hängen sieht. „Antifaschistische Schnitzeljagd“, nennt
       das ein Gesprächspartner. Man hat sich eben noch nicht gewöhnt an die AfD.
       
       Ist hier also die Welt noch in Ordnung? Man kann die Geschichte auch anders
       erzählen. Denn die Partei hat sich bei der Wahl auf niedrigem Niveau
       verdoppelt und sitzt zum ersten Mal als Fraktion im Stadtrat, das bringt
       Geld.
       
       Und dann ist da noch das Vorfeld. Die Partei mag schwach sein, doch die
       Stadt spielt für die Vernetzung der Rechten eine Rolle. Hört man sich unter
       Experten um, zählen diese auf: Drei Nazidemos gab es allein in den letzten
       Wochen. Der Hayek-Club sei für den Rechtslibertarismus wichtig, hier wurde
       die [6][Influencerin Naomi Seibt] sozialisiert, die von Elon Musk hofiert
       wird. Und Jahr für Jahr ziehen Abtreibungsgegner durch die Stadt.
       
       ## Katja Usunov hat sich extra frei genommen
       
       Auch Helmut Birke ist nur auf den ersten Blick ein harmloser Rentner mit
       Fahrrad. Er war schon bei Götz Kubitschek in Schnellroda und beim
       Kyffhäuser Treffen des Flügels, erzählt er freimütig. Seinen Parteifreund
       Höcke verteidigt er, es komme doch darauf an, was mit Remigration gemeint
       sei.
       
       In Münster wird sich zeigen, ob sich der Stadtrat durch die AfD-Fraktion
       verändern wird. Ob die Strategie, mit der die Partei bundesweit erfolgreich
       die CDU spaltet, auch hier funktioniert. Mit einem Ratsmitglied der Union
       spielt er schon Doppelkopf, verrät Birke noch.
       
       Zurück auf dem Wochenmarkt setzt der Spitzenkandidat Tilman Fuchs jetzt
       seinen grünen Fahrradhelm auf und radelt los. Sein nächster Termin führt
       ihn in ein runtergerocktes Bootshaus am Kanal. Bis vor ein paar Jahren
       wurde hier gerudert, dann übernahm ein Tangoverein, renovierte die Räume
       und öffnete sie für einen bunten Strauß von Vereinen. Heute wird hier Tango
       getanzt, spielen Menschen mit Parkinson Tischtennis, lernen andere
       Ukrainisch und Flamenco. Das bunte Leben, auf das Münster stolz ist.
       
       Doch wie lange noch? Das Gebäude gehört der Stadt, der spottbillige
       Mietvertrag läuft aus. Seit Jahren sollen hier Wohnungen mit Wasserblick
       entstehen, 12.000 Euro der Quadratmeter, so das Gerücht.
       
       Katja Usunov vom Verein Tango Pasión hat sich extra frei genommen, um den
       möglichen neuen OB zu überzeugen: Wir müssen hier bleiben. Sie hat eine
       Powerpoint-Präsentation mit etwas zu vielen Fotos vorbereitet und zählt die
       Vereine auf, die sich in dem Haus treffen. „Ehrenamt ist ein harter Job“,
       sagt sie, es klingt nicht, als wollte sie sich beklagen. Aber: „Es braucht
       einen Ort, an dem man ohne den Druck des Marktes sein kann.“
       
       Usunov und ihr italienischer Mann haben einige Jahre auf Sizilien gewohnt.
       Als die Kinder kamen, mussten sie sich entscheiden: Palermo oder Münster?
       „Klar, wir haben uns für Münster entschieden.“ Die Lebensqualität sei hoch,
       schwärmen sie. Und das Wetter, naja, der Klimawandel mache es erträglich,
       haha. Da kann der grüne Kandidat nur müde lächeln.
       
       ## Keine falschen Versprechen
       
       Es ist ein Konflikt, der einem öfter begegnet in Münster und der bedroht,
       was die Stadt ausmacht. Was geht vor – günstige Räume für Kultur oder Platz
       für neue Wohnungen? Auch Münsters Kassen sind nicht mehr prall gefüllt. Das
       Geld aus dem Verkauf des Grundstücks könnte man gut gebrauchen.
       
       Fuchs weiß, dass er der Zivilgesellschaft viel zu verdanken hat. Dass es
       Menschen wie Usunov sind, die die Stadtgesellschaft tragen. Er hört sich
       den Power-Point-Vortrag mit verschränkten Armen an. Fuchs hat sich
       vorgenommen, im Wahlkampf keine Versprechen zu machen, die er nicht halten
       kann. Über die Zukunft dieses Ortes entscheidet nicht er, sondern der
       Stadtrat.
       
       Als die Tangotänzerin fertig ist mit ihrem Vortrag und ihn erwartungsvoll
       anschaut, kratzt sich Fuchs am Hals. Von einem „Zielkonflikt“ spricht er
       etwas umständlich, dann rät er: „Ihr müsst ganz klar und deutlich machen,
       was ihr hier für tolle Arbeit macht“.
       
       Das muss auch Fuchs in den nächsten Tagen, bis zur Stichwahl am 28.
       September. Die Verhältnisse wird er nicht zum Tanzen bringen, aber ein
       bisschen Tango tanzen kann er schon.
       
       20 Sep 2025
       
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