# taz.de -- Weltmeisterschaft der Geoguessr: Es ist Chile!
       
       > Geoguessr können anhand eines einzigen Bildes von Google Street View
       > erkennen, wo es aufgenommen wurde. Nun war Weltmeisterschaft in
       > Kopenhagen.
       
 (IMG) Bild: Bei der auf dem Screen gezeigten Location in Chile bekamen beide Spieler die volle Punktzahl, Geoguessr-WM-Finale, 30. 8., Kopenhagen
       
       KOPENHAGEN taz | Braune, karge Berge erheben sich am Horizont. Eine felsige
       Klippe zur Rechten, ein Fluss zur Linken. Parallel dazu eine Landstraße,
       neben der Bahngleise laufen. Das könnte überall auf der Welt sein. In 35
       Sekunden kann ein Profi den auf den Meter genauen Standort dieses Bildes
       ausmachen.
       
       Es wirkt wie Magie. Die Zauberer sind eSport-Profis. Der Trick: ein
       zufälliger Google-Street-View-Standort, maximal 60 Sekunden Bedenkzeit, und
       dann ihr Tipp, wo auf der Welt sie sich befinden. Manchmal schaffen die
       Spieler_innen, wie bei der obigen Location, das größte Kunststück, das, was
       man im Jargon 5K nennt: Der Tipp liegt nur wenige Meter vom tatsächlichen
       Standort entfernt und bringt ihnen 5.000 Punkte. Bloß, dass keine Magie
       dahintersteckt, sondern knallhartes Training.
       
       „Geoguessr“ nennt sich dieses auf [1][Google Street View] basierende Spiel,
       aus dem sich über die Jahre ein internationaler Wettkampf entwickelt hat.
       Ende August treten die besten Spieler bei der Weltmeisterschaft in
       [2][Kopenhagen] an. Mehrere Tausend Fans sind dabei und sehen zu, wie
       Spieler wie Leero aus Australien, Strefan aus Polen, Radu C aus den USA
       oder Blinky aus Frankreich um den Pokal kämpfen. Die Fans bringen
       Straßenpoller mit – im Spiel wichtige Marker, da sie je nach Land
       unterschiedlich aussehen – und lassen sie signieren. Vor dem Eingang machen
       Leute Bilder mit dem Street-View-Auto von Event-Partner Google, ohne das
       der Sport gar nicht existieren würde. Zwischen den Matches geoguessen nicht
       wenige Zuschauer_innen selbst am Handy.
       
       „Ich fühle mich immer sehr wohl bei den Geoguessr-Events“, sagt Lennli der
       taz. Der Profispieler aus [3][Heidelberg] heißt eigentlich Lennard Kothe
       und ist 25 Jahre alt. „Die Community ist nerdig, aber auf eine sehr
       charmante Art und Weise.“ Lennli ist wie die meisten Spieler_innen, die
       heute Profis sind, während der Pandemie zu dem eSport gekommen. „Ich hatte
       Lust, einer der Besten zu werden.“ Das ist ihm gelungen. Er ist der
       erfolgreichste Spieler Deutschlands. Mit 15 weiteren Spielern tritt er nun
       bei der Weltmeisterschaft an. Sie alle sind Männer – überraschend divers
       hingegen sind die Fans in der Arena.
       
       Ein Duell, oder auch Match, besteht aus bis zu fünf seperaten Spielen. Wer
       als erster drei Spiele gewonnen hat, gewinnt auch das Match. Ein Spiel
       wiederum besteht aus bis zu zehn unterschiedlichen Runden, also Orten.
       Dabei haben die Spiele auch unterschiedliche Modi.Spiel eins und drei sind
       immer im „Moving“-Modus. Die Spieler_innen können sich durch Street View
       klicken, die Straßen entlangfahren, sich umsehen, zoomen.
       
       Dabei können sie verschiedene Informationen sammeln, finden mit etwas Glück
       ein Schild, das einen Dorfnamen oder eine Autobahnnummerierung enthält,
       einen landestypischen Poller, oder eine Telefonvorwahl auf einem
       Werbeplakat. Spiel zwei und vier dagegen ist „No Move“: Man ist an einen
       Fleck gefesselt, kann sich lediglich umsehen (Pan), und an Dinge
       heranzoomen (Zoom). Sollte das Match dann noch nicht entschieden sein,
       kommt das berüchtigte Spiel Fünf: NMPZ – No Move, Pan or Zoom. Hier
       bekommen die Spieler_innen nur ein einziges Bild und müssen davon ausgehend
       ihren Guess machen. In jedem Spiel bekommen die Spieler_innen bis zu zehn
       verschiedene Standorte.
       
       ## Wie sind die Telefonmasten geformt?
       
       Das erfordert enormes Wissen. Profi-Geoguessr müssen Bäume bestimmen und
       Landschaften einordnen können, diverse Alphabete beherrschen. Sie kennen
       die Telefonvorwahlen Tausender Regionen weltweit und ihre Postleitzahlen.
       Sie wissen, wie genau die Rückseiten kolumbianischer Straßenschilder
       aussehen, welche Eigenarten Fahrbahnmarkierungen in verschiedenen Ländern
       haben und wie dort die Telefonmasten geformt sind. Und sie haben gelernt,
       in welchen Ländern das Google-Street-View-Auto eine besonders lange Antenne
       hat – auch das ist in vielen Aufnahmen zu sehen und kann bei der
       Standortbestimmung helfen.
       
       Vor der letzten Europameisterschaft im Juni habe er täglich acht Stunden
       gelernt, sagt Lennli. „Etwa vier Stunden davon waren einfach Spielen, mal
       Duelle gegen andere Spieler, mal einfach für mich alleine. Jedes Mal, wenn
       ich mit meinem Tipp weit danebenliege, gehe ich danach in die Analyse.“ Die
       anderen vier Stunden bestünden daraus, Sachen auswendig zu lernen. „Ich
       habe zum Beispiel gelernt, wie man Bengalisch, Hindi, Thai oder Kyrillisch
       liest, und sogar ein paar japanische Kanji gelernt, um die Provinzen dort
       lesen zu können.“
       
       Im Viertelfinale verliert er trotzdem gegen den Ungarn Debre. Der wird
       später das Finale erreichen. „Ich wusste vorher schon, dass es ein sehr
       schwieriges Match wird“, sagt Lennli. „Debre ist einer meiner besten
       Freunde. Wir trainieren viel vor Events wie der EM oder der WM. Aber
       diesmal hatte ich kaum Zeit.“ Lennli studiert nebenbei in Köln und schreibt
       derzeit seine Masterarbeit in Data Analytics – ein Grund für die
       0:3-Niederlage gegen Debre. „Ich hätte gerne ein bisschen mehr gezeigt und
       dem Publikum mehr gegeben.“ Lennli ist ein Liebling im Saal. Anders als
       viele seiner zurückhaltenden Kontrahenten sucht er den Kontakt, macht
       Selfies mit Dutzenden Fans und gibt ihnen seine Unterschrift.
       
       Trotz der Niederlage: Lennli sagt, er habe seine Ziele bei der WM
       übertroffen. Denn im Achtelfinale konnte er einen Favoriten, Consus aus den
       Niederlanden, den Weltmeister von 2023, besiegen. Auch der
       Titelverteidiger, der französische Geoguessr Blinky, scheidet überraschend
       schon im Viertelfinale gegen einen Underdog aus. Im Finale treffen dann
       Debre und der US-Amerikaner Radu C aufeinander. „Ich sehe Radu leicht
       vorne“, schätzt Lennli.
       
       Es ist das Duell zweier Giganten – beide mit ihrem eigenen Arsenal an
       Stärken: Radu C brilliert mit Wissen über peruanische Schotterpisten,
       ukrainische Antennen und darüber, zu welchen Jahreszeiten
       Street-View-Aufnahmen in Bangladesch gemacht wurden. Debre dagegen punktet
       mit Sicherheit bei Postleitzahlen und Telefonvorwahlen, enormer
       Ortskenntnis und nicht zuletzt: Nerven aus Stahl.
       
       Die beiden sitzen sich an Schreibtischen auf der Bühne gegenüber. Damit sie
       das Publikum und die Kommentatoren nicht hören, tragen alle Spieler
       Kopfhörer – meist mit einer Playlist, die sie sich kurz vor dem Match
       auswählen. Beide Spieler bekommen dieselben Aufgaben auf ihre Bildschirme,
       die auf einem großen Videowürfel über der Bühne übertragen werden. In den
       Ecken kleine Live-Bilder, die jede ihrer Reaktionen zeigen. Was in ihren
       Köpfen wirklich passiert, erkennt man jedoch nur, wenn man verfolgt, welche
       Regionen sie auf der Karte öffnen und untersuchen.
       
       ## Spiel ohne Drehen oder Zoomen
       
       Das erste Spiel, Moving, kann sich der Ungar sichern, womit Radu C sein
       erstes Spiel im gesamten Turnier abgibt. Spiel zwei, „No Move“, schnappt
       sich der US-Amerikaner dann aber wieder. Das nächste Spiel, wieder eine
       Moving-Runde, beginnt nicht mit einem 5K, sondern sogar einem 10K: Beide
       Spieler können die exakte Kreuzung in [4][Chile] auf der Karte ausfindig
       machen. Die Arena bebt. Nach einer fast perfekten Indien-Runde von Debre
       macht der Ungar ausgerechnet bei einer USA-Location auch in Spiel drei
       eiskalt den Sack zu. Zwei zu eins für ihn.
       
       Radu C muss das nächste Spiel, wieder ein No-Move-Spiel, gewinnen, sonst
       ist der Titel verloren. Kurz vorm Finale haben die bereits ausgeschiedenen
       Spieler in der Toilettenschlange des VIP-Bereichs über den möglichen Sieger
       gesprochen. „Debre wird gewinnen. Radu hat nicht die mentale Stärke“, hat
       einer gesagt. Schon in Runde zwei des Spiels kann der US-Amerikaner auf
       einer äußerst ländlichen Straße im Norden Namibias das Gegenteil beweisen.
       In der nächsten Runde sichert er sich dann die klare Führung mit einem
       präzisen Guess im dörflichen [5][Alberta in Kanada]. Als dann Debre in der
       vierten Runde – man sieht einen schmalen alphaltierten Weg, einige
       Holzhäuser, tiefgrüne Wiesen und hohe Laubbäume – anders als sein
       Kontrahent fälschlicherweise Estland statt Schweden tippt, gelingt Radu C
       der Ausgleich. Es steht zwei zu zwei.
       
       Heißt: Es braucht Spiel fünf – ohne Drehen oder Zoomen, NMPZ. Ein Waldstück
       ist zu sehen, nach einem Bruchteil einer Sekunde loggt Debre bereits seinen
       Guess im Norden Serbiens ein. Unglaubliche 7 Kilometer ist er von dem Ort
       entfernt – er zeigt keine Reaktion, bleibt cool. Aber kurz darauf dominiert
       Radu C bei einem Standort, der lediglich einen Schotterweg und einen
       Briefkasten in der Distanz zeigt – in der Umgebung Torontos.
       
       Damit liegt Radu C vorne, doch auch Debre kann sich den Sieg noch holen.
       Dann kommt Runde sechs des finalen Spiels: eine unbefestigte Straße, Gras
       an den Seiten, ein paar Bäume, Berge in der Distanz. Nach bereits 15
       Sekunden loggt Debre seinen Guess ein, Mexiko. Und schlägt schon einen
       Augenblick später die Hände über dem Kopf zusammen. Während Radu C noch
       überlegt, sieht man dem sonst coolen Debre die Panik plötzlich an. Radu
       zoomt an Chile ran, die Menge tobt, denn jetzt ist klar: Die Distanz
       zwischen ihnen wird so groß sein, dass diese Runde alles entscheidet. Wie
       in Zeitlupe vergehen die nächsten Momente: Radu C klickt sich durch ein
       Gebirge nördlich von [6][Santiago], logt seinen Guess ein, der Timer läuft
       ab, die Karte wird sichtbar. Es ist Chile! Die Menge ist außer sich.
       
       5 Sep 2025
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Google-Street-View-in-Deutschland/!5931087
 (DIR) [2] /Kopenhagen/!t5008963
 (DIR) [3] /Heidelberg/!t5201510
 (DIR) [4] /Chile/!t5009219
 (DIR) [5] /Klimakrise-in-Kanada/!5614509
 (DIR) [6] /Santiago-de-Chile/!t5033663
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Valérie Catil
       
       ## TAGS
       
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