# taz.de -- Geschichte der Bioethik in Deutschland: Sie streiten über den Körper und das Leben an sich
       
       > Von der Abtreibung bis zur Sterbehilfe reicht das Feld der Bioethik.
       > Deren Geschichte in Deutschland hat die Philosophin Petra Gehring in
       > einem Buch aufgearbeitet.
       
 (IMG) Bild: Wo Dummys benutzt werden, kann sich die Bioethik entspannt zurücklehnen
       
       Berlin taz | Was waren das für Debatten – als Frauen mit dem Slogan „Mein
       Bauch gehört mir“ gegen den Abtreibungsparagrafen zu Felde zogen. Oder als
       Studierende einen derart lautstarken Protest gegen den [1][umstrittenen
       Peter Singer] betrieben, dass der Intellektuelle wegen seiner Erwägung,
       [2][Neugeborene mit Behinderungen zu töten], aus Veranstaltungen ausgeladen
       wurde. Warum diese Debatten nach 1945 so massive Resonanz erzeugten, liegt
       nicht zuletzt an ihrem Gegenstand: dem Körper, dem Leben an sich. Um
       seinetwegen haben sich nicht nur Berufspolitiker:innen gestritten,
       sondern im Laufe der Jahre immer mehr Vertreter:innen der sogenannten
       Bioethik.
       
       Bioethik ist eine Querschnittsdisziplin der Naturwissenschaft, Theologie
       und Philosophie, die in Deutschland seit dem „Ethikboom“ der 1980er auf
       eine eigene, wenn auch kurze Geschichte zurückblickt – mit explosiven
       Diskursen und neuralgischen Punkten. Sie aufzuarbeiten und darzustellen,
       hat sich die Philosophin Petra Gehring zur Aufgabe gemacht und eine Schrift
       von kanonischem Wert vorgelegt: „Biegsame Expertise. Geschichte der
       Bioethik in Deutschland“.
       
       Die heiklen Auseinandersetzungen schließen nahezu alle Fragen ein, die
       Anfang und Ende der Existenz betreffen – von der „Züchtung“ von Embryonen
       für die Forschung über den Schwangerschaftsabbruch bis zum Ringen mit dem
       kontrovers verhandelten Hirntodkonzept. Ein Befund, der sich früh
       abzeichnet: So richtig bioethisch hat man zu Beginn gar nicht diskutiert.
       Stattdessen schuf nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem das ärztliche
       Standesrecht Ordnung. Es war weder demokratisch legitimiert noch aus
       Pro-und-Contra-Argumentationen hervorgegangen. Geprägt wurde es
       insbesondere durch die Erfahrungen in der NS-Diktatur.
       
       Diese Erfahrungen sollten auch in den kommenden Dekaden zahlreiche
       bioethische Konflikte überschatten. Man denke an die sogenannte
       Präimplantationsdiagnostik. Mit ihr lassen sich beispielsweise bestimmte
       Krankheiten vorgeburtlich bestimmen. Was die einen als Möglichkeit
       verstehen, einem Kind ein „unwürdiges“ Dasein zu ersparen, betrachten die
       anderen als Vorstufe einer Eugenik, wie sie die Nazis ins Werk setzten.
       
       Ähnliches gilt für die Sterbehilfe. Die Vorstellung, die Würde eines
       Menschen zu wahren, indem man ihm maximale Freiheit für die assistierte
       Beendigung des eigenen Lebens gewährt, trifft auf die Bedenken, dass andere
       aus dem Tod ein Geschäftsmodell machen.
       
       ## Um Haltungen zu begründen, bedient man sich der Zuspitzung
       
       Nüchtern und kenntnisreich, wenn auch in einem – ganz dem deutschen
       wissenschaftlichen Schreibideal entsprechenden – verschachtelten,
       stellenweise schwer lesbaren Stil zeichnet Gehring die Positionen nach und
       stellt dabei die jeweils relevanten Akteur:innen in Wissenschaft,
       Politik und Medien vor. Denn Bioethik, so ein Ergebnis dieser monumentalen,
       über tausend Seiten umfassenden Studie, kann man nicht einfach umreißen.
       Sie setzt sich aus einer Vielzahl an gesellschaftlichen Dynamiken,
       Skandalbildungen und Handelnden zusammen, die über höchst unterschiedliche
       Hintergründe verfügen.
       
       Damit man Haltungen begründen kann, bedient man sich – und darin äußert
       sich das Fesselnde dieses Abrisses – der Zuspitzung, wie etwa beim
       [3][Abtreibungsparagrafen]. „Menschliche Zellen seien nun einmal“, so
       meinte etwa ein von der Autorin zitierter Kritiker, „nicht identisch mit
       menschlichen Wesen.“ Peter Singers Ausführungen stehen dem in nichts nach.
       Wie können wir intelligente Tiere anscheinend bedenkenlos töten, aber einen
       Aufruhr bei der Beseitigung von Zellhaufen anzetteln, der überdies noch die
       Autonomie der Frau beschneide? So könnte man seine provokativen
       Stellungnahmen zusammenfassen.
       
       Als nicht minder spannend erweist sich Gehrings Behandlung brisanter
       Einzelfälle. Wer weiß noch, dass ein Autokonzern vor wenigen Jahren bei
       Unfallsimulationen Dummies durch Leichen ersetzte, ohne über
       Einverständniserklärungen der Verstorbenen zu verfügen? Oder wer erinnert
       sich noch an einen Fall aus Erlangen, in dem eine hirntote Mutter weiter
       durch Maschinen am Leben gehalten wurde, damit ihr Kind auf die Welt kommen
       konnte? Wird dabei noch deren Würde gewahrt, wenn sie nur noch als Gefäß
       dient? Oder war dieses Verfahren geradezu zwingend, um dem Lebensrecht des
       Ungeborenen Geltung zu verschaffen?
       
       Diese Überlegungen veranschaulichen die Bedeutung der Bioethik, die aus
       Sicht der Autorin für die Gesellschaft Sinn produziert. „Neben dem
       Orientierung gebenden, vielleicht moralische Konfrontationen einhegenden
       Vermögen“ wirkt sie ferner als „Morallieferantin“. Sie zeigt somit einen
       für alle transparenten Weg zu begründeten Wertvorstellungen auf. Inwiefern
       die Bioethik dabei vor allem reaktiv auf den rasanten Fortschritt tätig
       wird oder eigenmächtig Themen setzt und vorantreibt – darüber lässt sich
       reichlich sinnieren. Genauso übrigens wie über ihre exakte Definition,
       haben wir es doch bei all den Teilaspekten der Bioethik mit einer
       „Unschärfe des Begriffs“ zu tun.
       
       Fakt ist jedoch, dass sie uns etwas durchaus Erhellendes für unsere
       demokratischen Verfahren lehrt und vorführt, nämlich eine von Respekt
       getragene Dialogkultur. Allen voran hat sie sich im Bundestag entwickelt,
       wo mitunter Belange der Gentechnik, des Klonens oder des Embryonenschutzes
       zumeist jenseits klassischer Fraktionsgrenzen besprochen werden. Man sucht
       nach Lösungen, hört zu, wägt ab und nimmt Abstand von der Parteipolitik. In
       Zeiten rasch erhitzter Gemüter dient sie zweifelsohne als gutes Vorbild.
       
       12 Aug 2025
       
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