# taz.de -- „Cassandra“ an der Berliner Staatsoper: Die scharfe Düsternis einer, die das Ende sieht
       
       > „Cassandra“ in der Staatsoper von Bernard Foccrolle soll die
       > Post-Greta-Klima-Trägheit als Musiktheater erfahrbar machen. Doch wohin
       > mit den Gefühlen?
       
 (IMG) Bild: Sandra (Jessica Niles), nicht Casandra, klagt vor dem Geist der Antike in „Cassandra“ an der Staatsoper
       
       Angenommen, es steht fest, dass Geschichte sich wiederholen muss – ist das
       dann eine gute Nachricht oder Grund zur Verzweiflung? Diese Idee steht am
       Anfang der zeitgenössischen Oper „Cassandra“, die zum ersten Mal in der
       Staatsoper gespielt wird. Zwei Frauen versuchen auf zwei Zeitebenen ein
       Unheil abzuwenden. Cassandra, die Prophetin im antiken Troja, wird
       ignoriert. Sandra, die Klima-Wissenschaftlerin, wird nicht ernst genommen.
       Der eine Ausgang ist bekannt – der andere: offen? Oder ist die Katastrophe
       längst da?
       
       Die Oper „Cassandra“ ist erst zwei Jahre alt. Uraufgeführt im Jahr 2023 im
       Théâtre Royal de la Monnaie in Brüssel, wurde die Inszenierung eingepackt
       und verschifft nach Berlin in die Staatsoper. Geschrieben hat die Oper
       Bernard Foccroulle, der ehemalige Intendant von genau jenem Théâtre in
       Brüssel sowie des bekannten [1][Opernfestivals in Aix-en-Provence].
       „Cassandra“ soll musikalisch, textlich, bildlich, emotional nicht weniger
       tun, als die gegenwärtige Post-Greta-Klima-Trägheit als Musiktheater
       erfahrbar machen. Dabei wird nicht nur das Schmelzen des arktischen Eises
       musikalisch umgesetzt, sondern auch das Bienensterben und – die Seelen von
       Kindern, die aus Klimaangst nicht geboren wurden? So oder so ähnlich.
       
       Motivisch ist die Oper also ein bisschen wild. Aber wie klingt die Musik?
       Sie flirrt, raunt, knirscht, schwillt. Weil es um bevorstehendes Unheil
       geht, arbeitet Foccroulle mit „Stuhlkanten“-Harmonien – diesen
       unaufgelösten Akkorden, die man aus Filmen kennt, wenn jemand mit der
       Taschenlampe in den Keller geht: gleich, gleich – gleich passierts…
       Besonders in der Orchestrierung sind außerdem: das Summen der Bienen, ein
       klagendes Saxophon und ein munteres Marimbaphon.
       
       In den Hauptrollen der beiden „unerhörten Frauen“ strahlen Katarina Bradić
       (Cassandra) und Jessica Niles (Sandra). Bradić, Mezzo, sonst bekannt für
       männliche „Hosenrollen“ in klassischen Opern, gibt der Prophetin stimmlich
       die scharfe Düsternis einer Person, die tagtäglich den Untergang ihrer Welt
       kommen sieht. Niles, Sopran, brilliert mit der schillernden Leichtigkeit
       einer ehrgeizigen Wissenschaftlerin, die neben ihrer Forschung noch als
       Klima-Comedienne auftritt.
       
       ## Gott Apollo: Souverän und hateable
       
       Ihre Gegenparte haben die Frauen in dem Gott Apollo (souverän und hateable:
       Bariton Joshua Hopkins) und Sandras Liebhaber Blake (sanft und vulnerable:
       Tenor Valdemar Villadsen).
       
       Inszeniert hat die Videokünstlerin Marie-Eve Signeyrole. Sie bebildert die
       Bühne auf drei Ebenen: Im Vordergrund spielen die Sänger*innen, dahinter
       steht ein Kubus, mit dem interagiert, auf den aber auch projiziert werden
       kann, und der so wechselnde Orte darstellt. Noch weiter im Hintergrund
       hängen weiße Stoffbahnen, auf denen die Hauptmotive der Oper sich als
       Videos abwechseln: Eis, Bienen, und Seelen.
       
       Anders als in manchen Inszenierungen, wo Bühnengeschehen und Video einander
       überlappen und sich heillos in die Quere kommen, sind sie hier räumlich
       getrennt und ergänzen sich. Auch achtet Signeyrole darauf, dass nie zwei
       Bildebenen auf einmal die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Das kluge
       Bilddesign macht „Cassandra“ optisch zu einer angenehmen Wucht.
       
       Wo die Oper ihre eindeutige Schwäche hat, ist beim Text. Das Libretto
       (Matthew Jocelyn) ist überladen mit Ideen, Konzepten und Theorien: über
       Zeit, Wiedergeburt, antike Mythen, Prophezeiung, Kinderkriegen ja/nein?,
       Tod, Liebe, und ob Comedy oder Anketten [2][der bessere Aktivismus] ist.
       
       ## Sehr viel Text
       
       Ständig wird verkopft geplaudert, was gleich mehrere Probleme macht.
       Erstens hat man vor lauter Übertitellesen schnell mal die Bühne vergessen.
       Zweitens wird so das Emotionale – die Stärke von Opern – vom
       Intellektuellen überschattet. Zeitweise möchte man sich fragen, warum
       dieser TED-Talk eigentlich so viel Musik braucht.
       
       Drittens machen es die ungewöhnlich textreichen Passagen den
       Sänger*innen schwer, durch das Flirren des Orchesters durchzudringen.
       Obwohl Dirigentin Anja Bihlmaier das Orchester zurücknimmt: Man hört den
       Gesang manchmal einfach nicht – besonders wenn Foccroulle die
       Instrumentierung an textreichen Stellen ausgerechnet anschwillen lässt,
       anstatt den Stimmen den Vorrang zu geben.
       
       Wenn die Geschichte sich wiederholen muss, so die Idee am Ende, dann könnte
       es doch sein, dass es beim zweiten Mal besser wird, oder etwa nicht? Im
       Gegensatz zur trojanischen Prophetin hat die heutige Wissenschaftlerin
       wenigstens ein Publikum. So spricht Cassandra schließlich Sandra Mut zu,
       als beide sich durch Zeit und Raum reisend begegnen. Eine schöne Message –
       die man vielleicht, anstatt sie zu hören, auch gerne gefühlt hätte.
       
       23 Jun 2025
       
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