# taz.de -- Forscherin über Vogelzug: „Ich danke dem Mauersegler“
       
       > Imke Müller-Hellmann ist einem Mauersegler von Niedersachsen bis Sansibar
       > gefolgt: Sie untersucht Parallelen von menschlicher und aviärer
       > Migration.
       
 (IMG) Bild: Auf weiter Reise: Mauersegler
       
       taz: Frau Müller-Hellmann, in „Der Zug der Mauersegler“ verknüpfen Sie
       Vogelzugrouten mit Migrationswegen von Menschen zwischen Europa und Afrika.
       Wie sind Sie darauf gekommen? 
       
       Imke Müller-Hellmann: Zuerst war da einfach die Bewunderung für diese
       besonderen Vögel, die Freude, wenn sie Anfang Mai auftauchen und die
       Traurigkeit, wenn sie im Hochsommer wieder aufbrechen. Das Thema Vogelzug
       und die Leistungen der Vögel sind so faszinierend! An kalten Wintertagen
       habe ich mich gefragt, wo jetzt die Mauersegler sind, die jedes Jahr unter
       der Dachrinne des Nachbarhauses in der Helgolander Straße brüten, wo ich
       wohne. Ob es dort Menschen gibt, die sie bemerken? Mit dieser Frage war das
       Thema plötzlich weiter gefasst. Wie leben die Menschen dort? Was
       beschäftigt sie? Was weiß ich über die Lebensbedingungen in afrikanischen
       Ländern? Was sind meine Vorurteile, mein erlernter Rassismus? Außerdem
       überqueren Mauersegler zweimal im Jahr die vielleicht größte ökologische
       Barriere der Welt, die Sahara. Aber auch Menschen auf der Flucht tun dies.
       Will ich tatsächlich „nur“ über die Vögel schreiben und die Menschen
       beiseitelassen, die die Wüste unter brutalen Bedingungen ebenso überwinden
       müssen?
       
       taz: In einer Mauerseglerkolonie im niedersächsischen Dorf Gehrde begleiten
       Sie Forschende. Wie haben Sie dort „Ihren“ Mauersegler gefunden? 
       
       Müller-Hellmann: In dem Jahr waren drei Mauersegler unterwegs, die mit
       neuester Technik ausgestattet waren. Ich habe mich tagelang auf dem
       Kirchendachboden des Dorfes auf die Lauer gelegt. Dort sind 31 Kästen so
       angebracht, dass man sie von innen öffnen kann. Ich habe also alle Vögel,
       die in ihrem Kasten anlandeten, eingefangen und gefühlt, ob sie einen
       Helldunkelgeolokator auf dem Rücken tragen. Das ist ein kleines Gerät, das
       die Lichtstärke im zeitlichen Verlauf aufzeichnet. So kann man später
       Koordinaten und Route berechnen. Von diesen drei Vögeln ist nur einer
       zurückgekommen. Das war natürlich ein großer Moment, als wir endlich diesen
       Vogel in der Hand hielten. Der Beringer Axel Degen hielt den Geolokator in
       die Luft und sagte: „Und hier ist deine Reiseroute!“ Ich habe mich bei dem
       Mauersegler bedankt und mich verneigt vor seiner Leistung und dem Tragen
       des Geolokators. Später habe ich ihm den Namen „Jabari“ gegeben. Das ist
       Swahili und heißt „mächtig“. Weil ich es unfassbar mächtig finde, so eine
       Reise in der Luft vollführen zu können. Wenn die Mauersegler ihr Brutgebiet
       verlassen, bleiben sie neun Monate in der Luft, ohne ein einziges Mal zu
       landen!
       
       taz: Sie schreiben: „Wäre der Vogel nicht diese Route geflogen, klänge es
       wie für das Buch erdacht“. Wieso? 
       
       Müller-Hellmann: Der Ausgangspunkt meines Projektes waren die Mauersegler
       in der Helgolander Straße in Bremen-Walle. Die Insel Helgoland gehörte von
       1807 bis 1890 zu Großbritannien und wurde im kolonialen Geschacher der
       Großmächte eingetauscht gegen das Fallenlassen von Ansprüchen auf die Insel
       Sansibar, die zu Tansania gehört. Deutschland war damals Kolonialmacht in
       Tansania, Großbritannien auf Sansibar. Kurz: Helgoland wurde gegen Sansibar
       eingetauscht. Da in Walle auch Straßen nach Akteuren der Kolonialgeschichte
       benannt sind, sollte die Kolonialgeschichte Deutschlands Teil des Buches
       werden. Die Daten des Geolokators haben schließlich ergeben, dass Jabari
       nach Sansibar flog, also genau in den Teil des Landes Tansania, mit dem es
       den Helgoland-Vertrag gab!
       
       taz: Wie hängen Naturforschung und koloniale Gewalt zusammen? 
       
       Müller-Hellmann: Oft waren es die fast ausschließlich männlichen
       Naturforscher, die zuerst in ein Land reisten und den Boden bereiteten für
       eine koloniale Übernahme. Diese vom Entdeckerturm getriebenen Forscher
       waren total scharf darauf, sich mit ihren eigenen Kategorisierungen oder
       auch Artnamen zu verewigen. Sie haben riesige Sammlungen ausgestopfter
       Tiere erstellt und dafür alles abgeschossen, was ihnen vor die Flinte kam.
       [1][In den Naturkundemuseen europäischer Städte] stapeln sich [2][Millionen
       toter Tiere]. Und hier knüpfen grundlegende Fragen an Naturforschung und
       Naturbeobachtung heute an: Wer maßt sich was gegenüber der Natur an? Geht
       es auch um Macht? Um Ausbeutung? Ums Profilieren? Ums Sammeln?
       
       taz: Sie haben für das Buch mit vielen Menschen gesprochen und deren
       Geschichten aufgeschrieben. Welche Begegnung hat Sie besonders bewegt? 
       
       Müller-Hellmann: Die Geschichte des Russlanddeutschen aus Gehrde hat mich
       lange nachdenklich sein lassen. Und die Begegnung mit dem Ranger Mihayo
       Ususu Kihemela auf der entlegenen Insel Pemba ist mir auch lange
       nachgegangen. Der Kontakt mit einem schwulen jungen Mann aus Sansibar
       besteht bis heute, und das Erzählen unserer Zimmerwirtin Julie in der
       ehemaligen „Hauptstadt“ von [3][„Deutsch-Ostafrika]“, in Bagamoyo, über die
       tradierten familiären Geschichten aus der Kolonialzeit war auch sehr
       eindrücklich. Ich hoffe, das kommt auch rüber im Buch.
       
       28 Jun 2025
       
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