# taz.de -- Mit Behinderung – beidseits der Mauer: Begehren, Barrieren, Befreiung
       
       > Leben mit Behinderung. Ein Gespräch mit Steven Solbrig und Martin Theben
       > auf der Fachtagung „Umgang mit Behinderung nach 1945 in Ost und West“.
       
       Welche Erfahrungen machen Menschen mit Behinderung in Ost und West? Darüber
       spricht Dennis Chiponda mit Martin Theben und Steven Solbrig in der
       sechzehnten Folge von „Mauerecho“. Aufgenommen wurde die Folge auf der
       Fachtagung [1][„Umgang mit Behinderung nach 1945 in Ost und West“], die von
       der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur am 22. und 23. Mai
       organisiert wurde. Theben, 1969 in West-Berlin geboren, ist Fachanwalt für
       Arbeitsrecht sowie Chronist und Historiker der Behindertenrechtsbewegung.
       Solbrig, 1984 in der DDR geboren, ist Künstler und setzt sich in einer
       künstlerisch-kulturwissenschaftlichen Recherche mit Behindertenkultur in
       der DDR auseinander.
       
       Sowohl Theben als auch Solbrig leben mit einer Behinderung. Welche
       Unterschiede gab es im Umgang mit Behinderung in den zwei verschiedenen
       Systemen? Wie prägen Erfahrungen aus Kindheit und Jugend den Blick auf das
       eigene Selbst? Was hat sich durch die Errungenschaften der
       Behindertenrechtsbewegung verändert?
       
       Im Austausch über ihre Schulzeit finden Solbrig und Theben Gemeinsamkeiten,
       aber auch Unterschiede. Solbrig beschreibt seine Kindheit in der DDR als
       ein Leben des Kaschierens und Normalisierens. In der DDR sei es darum
       gegangen, behinderte Menschen arbeitsfähig zu machen und sie auszusondern,
       wenn das nicht gelang. Außerdem habe es gerade in der DDR kaum Sichtbarkeit
       von Menschen mit Behinderung gegeben. Weil Solbrigs Mutter sich dafür
       einsetzte, dass ihr Sohn trotz des sogenannten Schwerbeschädigtenausweises
       keine Sonderschule, sondern eine Regelschule besuchte, hatte er kaum
       Kontakt zu anderen Kindern mit Behinderung. „Deswegen fehlten mir auch
       Vorbilder gelebter Behinderung in Ostdeutschland“, erzählt Solbrig. Theben
       hingegen besuchte eine Sonderschule in West-Berlin, die in einer
       Grundschule untergebracht war, in der Kinder ohne Behinderung zur Schule
       gingen. Er sei von seiner Mutter immer bestärkt worden, zu seiner
       Behinderung zu stehen, und konnte später als einer der ersten in
       West-Berlin ein Regelgymnasium besuchen. „Sei immer da, wo die Leute dich
       nicht erwarten!“, mit diesem Motto sei er aufgewachsen.
       
       ## Debatte über Sexarbeit
       
       Ein zentrales Thema des Gesprächs ist der gesellschaftliche Umgang mit der
       Sexualität von behinderten Menschen. Sexualität und Geschlechtlichkeit
       werden Menschen mit Behinderung oft abgesprochen, obwohl das Bedürfnis nach
       körperlicher Nähe und Intimität genauso groß ist wie bei Menschen ohne
       Behinderung. „Gerade auch in Bezug auf die – in linken Kreisen kontrovers
       geführte – Debatte über Sexarbeit fehlt oft die Perspektive von Menschen
       mit Behinderung“, wirft Chiponda ein.
       
       Fehlt linken Diskursräumen die Sensibilisierung für das Thema Behinderung?
       Grundsätzlich fehlt Solbrig der intersektionale Blick auf die Diskussion,
       die sehr männlich geprägt sei und in der er als non-binäre Person
       weibliche, non-binäre und Perspektiven von Transpersonen vermisst. Theben
       ergänzt, dass selbst in der Behindertenrechtsbewegung der 70er- und
       80er-Jahre, der sogenannten „Krüppelbewegung“, Sexualität ein Tabuthema
       war. Sein persönlicher Umgang mit dem Thema ist folglich von
       Widerstandskraft geprägt: Er habe sich nicht anpassen wollen.
       
       Doch wie viel Anpassung ist erforderlich, um politische Forderungen als
       Gruppe formulieren zu können? Teil der Behindertenbewegung, so Theben, sei
       immer auch die Frage gewesen: Arbeitet man mit Menschen ohne Behinderung
       zusammen oder sind diese der Feind? Gerade weil aber auch viele Menschen
       ohne Behinderung von Marginalisierungen wie Sexismus, Rassismus oder
       Queerfeindlichkeit betroffen sind, hat sich laut Theben die erste Linie
       durchgesetzt.
       
       Trotzdem hat Solbrig es manchmal satt, Menschen ohne Behinderung den
       Begriff Ableismus zu erklären. Theben widerspricht ihm: „Eine ausführliche
       Auseinandersetzung mit Ableismus ist wichtig, gerade weil er viel
       treffender die gesellschaftliche Situation von Menschen mit Behinderung
       beschreibt, als es der Diskurs um Inklusion sonst zulässt“. Also erklärt
       Solbrig doch, dass es sich bei Ableismus um die Ab- oder Aufwertung von
       Menschen auf Basis ihrer Fähigkeiten handelt. Im Fokus stehen also die
       Leistungsfähigkeit und Nützlichkeit bestimmter Menschen. „Die gesamte
       Gesetzgebung ist bis heute – trotz aller Bundesteilhabegesetze – von
       Ableismus geprägt. Es geht um Verwertbarkeit!“, unterstreicht Theben.
       
       ## „Von selber passiert nichts“
       
       Beide sind sich allerdings einig: In der Behindertenrechtsbewegung habe
       sich in den letzten Jahren einiges getan. Während in den 80er-Jahren vor
       allem körperbehinderte Menschen sichtbar wurden, wird heute auch die
       Perspektive von Menschen mit geistigen Behinderungen mehr beleuchtet.
       Außerdem geht es intersektionaler zu. Trotzdem müsse betont werden, so
       Theben, dass sich ohne den Einsatz von Menschen mit Behinderung nichts an
       der ableistischen Gesellschaft ändere: „Ohne uns ist eben auch nichts los.
       Von selber passiert nichts.“ Ein Problem sei dabei auch die eigene
       Selbstgerechtigkeit, die auch politisch engagierte Leute davon abhalte,
       über den Tellerrand hinauszublicken, ergänzt Solbrig. Ableistische
       Ansichten müssten aber in allen politischen Haltungen hinterfragt werden.
       
       „Mauerecho – Ost trifft West“ ist ein Podcast der [2][taz Panter Stiftung].
       Er erscheint jede Woche Sonntag auf [3][taz.de/mauerecho] sowie überall, wo
       es Podcasts gibt. Besonderen Dank gilt unserem Tonmeister Daniel Fromm.
       
       25 May 2025
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.bundesstiftung-aufarbeitung.de/de/stiftung/aktuelles/fachtagung-erfurt-untersucht-umgang-mit-behinderung-nach-1945-ost-und-west
 (DIR) [2] /stiftung
 (DIR) [3] /Podcast-Mauerecho/!t6064118
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Dennis Chiponda
       
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