# taz.de -- Kulturfestival in Wien: Die Kunst der Dauermobilisierung
       
       > Bei den Wiener Festwochen sammelt Milo Rau die Widersprüche der Zeit ums
       > Lagerfeuer. Einige Produktionen versuchen Klassiker im Theater neu zu
       > erfinden.
       
 (IMG) Bild: Natürlich mit nacktem Oberkörper: Carolina Bianchi widmet sich in „Cadela Forca Trilogy Chapter II The Brotherhood“ Männerbünden
       
       Berlin taz | Wien hat fünf Jahreszeiten, die bekannten und die Wiener
       Festwochen. Zumindest seit Milo Rau sie leitet, sind sie nicht nur ein
       international renommiertes Theaterfestival, sondern für fünf Wochen die
       „andere“ Saison, in der sich die Welt auch jenseits der Bühne im barocken
       Schein verdoppelt. [1][Im ersten Jahr] rief Rau die „Freie Republik“ im
       Geist von 1848 aus, samt Räten, Hymne und Manifest, zivilgesellschaftlichen
       Tribunalen und bunten Fahnen.
       
       Raus Institutionskritik endet nicht im Kunstsystem. Deliberative Prozesse
       in der politischen Öffentlichkeit und den Gremien demokratischer
       Repräsentation scheinen ebenso defizitär und bedürfen verdoppelt im Theater
       des korrigierenden Eingriffs durch einen imaginierten Volkswillen. Die Moot
       Courts der Wiener Prozesse wurden damit zum beliebtesten Festivalformat.
       Als Wiener Kongresse verhandeln sie in der neuen Auflage bei unveränderter
       Geschäftsordnung weiter.
       
       Die „Republik der Liebe“ wechselt ihre Bilder, recycelt Motive der
       Hippieära und tauscht Jakobinermützen gegen Buntes und Selbstgebasteltes
       für den Summer of Love. Über dem alten Wiener Funkhaus, einem einzigartigen
       Monument österreichischer Mediengeschichte, dessen Stilllegung Proteste des
       versammelten österreichischen Kulturlebens auf den Plan rief, schwebt nun
       der Geist von Haight-Ashbury des Jahres 1967. Im Garten eint am Campfire,
       so verspricht es jedenfalls die Ankündigung, Theorieikonen, ehemalige
       RAF-Mitglieder, Weltstars und Sexarbeiter:innen zumindest mittelbar in
       kirchenfreier Agape.
       
       Radikale linke Positionen in der Kultur 
       
       Mit der Rede vom Widerstand schon [2][zu seinem Beginn in Wien hat Rau] ein
       verwaistes Terrain radikaler linker Positionen im kulturellen Feld besetzt.
       Als vor den Wahlen im Herbst eine von der rechtspopulistischen FPÖ
       dominierte Regierung unter einem „Volkskanzler“ Herbert Kickl drohte,
       stellte Rau sich mit dem Momentum der Festwochen an die Spitze einer
       Mobilisierung „gegen rechts“.
       
       Die Auseinandersetzungen von österreichischen Künstler:innen mit der FPÖ
       und ihren Gefahren nicht nur für den Kulturbetrieb ist seit Jahrzehnten gut
       dokumentiert. Mit dem Antagonisten Kickl aber war klar, was einen erwartet:
       zusammengestrichene Budgets und die Besetzung dessen, was übrig bleibt, mit
       jasagenden Gefolgsleuten wie in den Nachbarländern Ungarn und Slowakei.
       
       Dabei kann die FPÖ im Gegensatz zu früheren Kulturkämpfen nicht wirklich
       benennen, was sie am Kulturbetrieb stört. Ihr Zyklopenauge erblickt den
       European Song Contest, nicht gerade kulturpolitische Kernkompetenz, und die
       Festwochen, eine Angelegenheit der Stadt Wien, weil da und dort Queeres in
       Erscheinung tritt.
       
       Eine List der Geschichte hat in Österreich, wo es die Brandmauer gegen
       rechts nie gab, eine rechtspopulistisch geführte Regierung auf absehbare
       Zeit unwahrscheinlich gemacht. Die FPÖ hatte sich im Machtrausch verzockt
       und mögliche Steigbügelhalter verprellt.
       
       Sparzwänge beim Film und in der freien Szene 
       
       Es regiert eine erstaunlich stabile Koalition aus christlichsozialer ÖVP,
       Sozialdemokraten und den liberalen Neos. Nach einem Moment von Deeskalation
       droht dem österreichischen Kulturbetrieb neues Ungemach. Die Exekution von
       Sparzwängen zur Budgetsanierung beim Film und künftig auch in der freien
       Szene fällt ausgerechnet dem Hoffnungsträger der Sozialdemokraten,
       SPÖ-Vizekanzler Andreas Babler, zu. Förderungen in Wien betrifft das
       bislang nicht. Aber die Aussicht, dass steigende Budgets als Ausweis einer
       sozialdemokratischen Fortschrittserzählung vermutlich der Vergangenheit
       angehören, erschüttert gerade hier.
       
       Der Kulturbetrieb erreicht die „Mitte der Gesellschaft“ immer weniger, weil
       sie in der Zwischenzeit möglicherweise nach rechts gerückt ist. Im Gegenzug
       erteilt diese ihm, was den Konsens über seine unverminderte staatliche
       Finanzierung betrifft, zunehmend den Laufpass.
       
       Milo Rau hält an einem Widerstandsbegriff fest, der in der liberalen
       Demokratie eigentlich überschießend ist. Die Gründe sind weniger politisch
       als Teil des ästhetischen Verfahrens. Eine Textsammlung im Verbrecher
       Verlag zu seiner „Resistance Now!“-Vortragstour durch die europäischen
       Hauptstädte gibt mit dem Titel „Widerstand hat keine Form, Widerstand ist
       die Form“ Auskunft darüber.
       
       Rau negiert die Differenz von ästhetischer Erfahrung und politischem
       Handeln. Er tut dies zur Beschleunigung von Arbeitsprozessen auf Kosten
       jener Momente, die an der Kunst nur über den Umweg der Form lesbar sind.
       Ist ihre Eigengesetzlichkeit doch das, was die Widersetzlichkeit von Kunst
       ausmacht, das das Einvernehmen mit dem Bestehenden erschüttert. Das
       allerdings ist für Rau gerade Ausweis einer identitär gebliebenen
       bürgerlichen Kunst und als solches lässlich, steht sie dringenderen
       Inhalten scheinbar im Weg. So aber läuft sie Gefahr zur ästhetisch
       wohlgesetzten Affirmation der bloßen Meinung, zum Postulat aus der Welt des
       Sollens zu erkalten.
       
       Neue Produktion „Die Seherin“ 
       
       Die aktionistische Dauermobilisierung entfacht stetigen Hunger nach neuen
       Inhalten, der das Konzept eines „Globalen Realismus“ antreibt. In „Die
       Seherin“ seiner kommenden Premiere mit Ursina Lardi entfaltet Rau in zwei
       zwischen Präsenz und medialer Absenz verflochtenen Dialogen das Überleben
       eines Lehrers im Irak, dem der Terror des „Islamischen Staats“ eine Hand
       abtrennte, und die Geschichte einer Kriegsfotografin, die im Arabischen
       Frühling in einer Menschenmenge mitten auf dem Tahrirplatz Opfer der
       sexuellen Gewalt einer Männerhorde wurde.
       
       Rau hat den Kanon dessen, was Theater verhandeln kann, erweitert wie kaum
       ein/e Autor:in, kaum ein/e Regisseur:in vor ihm. Auch wenn Inklusion auf
       der Ebene der Repräsentation tatsächlich gelingt, bleibt unter
       [3][Landlosen am Amazonas] oder auf den Trümmern von Mossul ein Gefälle der
       Ökonomie und der Freizügigkeit für Passinhaber:innen, das kaum auflösbar
       scheint. Die Europäer:innen kehren von den Schauplätzen wieder zurück
       und sind als bürgerliche Künstler:innen nun in der Lage
       Distinktionsgewinne zu realisieren.
       
       Ein autobiografischer Text im Stil von Brechts Herrn Keuner fragt nach dem
       Gebrauchswert literarischer Texte. Es bleibt zu befürchten, dass diese
       Frage nicht wie bei Brecht dialektisch, sondern instrumentell gestellt
       wird. Erinnerungen an kaderpolitische Überlegungen zur „Vermittelbarkeit“
       sind nicht ganz zu vermeiden.
       
       [4][Elfriede Jelinek hat mit der Erstaufführung ihres Stücks „Burgtheater“]
       am Wiener Burgtheater Erfahrungen damit gemacht. Im Grunde drei szenische
       Kostproben, Filminserts und eine Fülle von Textergänzungen einfacher
       Sprache schaffen eine Aufführung, die über alle Zweifel erhaben ist,
       möglicherweise auch jene, die produktiv sein könnten.
       
       Reaktivierung vom Klassikern 
       
       Die Reihe „Brand New Classics“ reaktiviert Stoffe aus dem Kanon und
       leuchtet sie unter aktuellen Leitfragen aus. Die Produktion „Richard III.“
       des Burgschauspielers Itay Tiran am Gescher Theatre (Tel Aviv) gibt über
       Shakespeare hinweg Einblick in eine Binnenreflexion der [5][politischen
       Gegenwart Israels.] Die belgische Regisseurin Lisaboa Houbrechts befragt in
       der vielsprachigen Aufführung „Moeder Courage“ aus der Perspektive heutiger
       Kriege.
       
       Darüber hinaus sind die Festwochen noch immer ein Theaterfestival, das auch
       ohne pädagogisches Leitsystem kleine und große Entdeckungen, Erfahrungen
       und Verwirrungen erlaubt. [6][Christopher Rüping] kommt mit „All About
       Earthquakes“, einer Koproduktion mit dem Schauspiel Bochum, mit der feinen
       Präsenz von Elsie de Brauw im Zentrum eines diversen wie inspirierenden
       Ensembles dem Liebesgebot des Festivals vielleicht am nächsten. Er
       schneidet Kleists Novelle „Das Erdbeben in Chili“ und belle hooks „All
       About Love“ präzise gegeneinander. Thiago Rodriguez’ „No Yoghurt for the
       Dead“ erzählt im Wechselspiel dreier Schauspielerinnen auf Portugiesisch
       und Flämisch vom Sterben seines Vaters sensibel wie unsentimental, wo
       Pathos überhandnehmen würde, hilft der Fado.
       
       „Second Woman“ ist eine szenische Miniatur, die 24 Stunden dauert. Eine
       Frau im Gena-Rowlands-Kostüm aus dem Film „Opening Night“ macht 100 Mal zum
       selben Text mit 100 verschiedenen Männern Schluss.
       
       [7][Die brasilianische Autorin und Regisseurin Carolina Bianchi] liefert
       mit „The Brotherhood“ ein dreieinhalbstündiges Opus Magnum über 2.500 Jahre
       patriarchale Gewaltkultur aus der Perspektive des Überlebens ihrer eigenen
       Vergewaltigung.
       
       3 Jun 2025
       
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