# taz.de -- Malcom X. 100. Geburtstag: Mit allen notwendigen Mitteln
       
       > Malcolm X verkörperte die radikale Seite des Kampfes gegen Rassismus. Was
       > hätte er erreichen können, wäre er nicht jung ermordet worden?
       
 (IMG) Bild: Bis heute bietet die Ikone des Schwarzen Widerstands viel Projektionsfläche
       
       Wenn sich am 19. Mai zum 100. Mal der Geburtstag des Schwarzen
       Bürgerrechtlers jährt, drängt sich die Frage auf: Welche Rolle würde
       Malcolm X wohl in unseren heutigen Zeiten spielen? Man ist geneigt zu
       glauben, dass er in der Kritik an Trump kein Blatt vor den Mund nehmen
       würde, dass er die Rolle des furchtlosen außerparlamentarischen
       Oppositionsanführers einnehmen würde, die bisher in den USA so schmerzlich
       vakant ist.
       
       Denn wie sonst kaum jemand im 20. Jahrhundert war X unbequem, hat dem
       weißen und dem Schwarzen Establishment die Tiefe und Brutalität der weißen
       Suprematie vor Augen geführt. Dabei hat er sich nicht gescheut, sich in
       seiner Radikalität und seinem Pessimismus nach beinahe allen Seiten hin
       Feinde zu machen. Am Ende ließ [1][Malcolm X bei dem Attentat] im Audubon
       Ballroom in Harlem am 21. Februar 1965 sein Leben, um seiner Wahrheit treu
       zu bleiben.
       
       Andererseits wäre es auch nicht vollkommen ausgeschlossen, dass er wie
       Kanye West und viele junge Schwarze Männer im heutigen Amerika Donald Trump
       etwas abgewinnen könnte. Den rebellischen Gestus des zornigen Schwarzen
       Mannes, der sich nicht zuletzt im Gangster-Rap und in Teilen der
       Black-Lives-Matter-Bewegung wiedergefunden hat, hat X praktisch erfunden.
       Ein Gestus, der in Trumps Ikonoklasmus einen Widerhall findet.
       
       Die Banalität linksliberaler Gutmenschen war X darüber hinaus beinahe
       ebenso suspekt wie der offene Rassismus in großen Teilen der amerikanischen
       Gesellschaft. Als Amerika um den Tod von John F. Kennedy trauerte, sagte X,
       „the chickens are coming home to roost“ – jeder bekommt das, was er
       verdient. Kennedy war für den Malcolm X jener Zeit genauso ein Vertreter
       des rassistischen Amerika wie Bull Connor, der als Polizeichef von Alabama
       die Bürgerrechtsproteste der 1960er Jahre niederschlug.
       
       ## Man könnte sich ihn heute auf beiden Seiten vorstellen
       
       Die Tatsache, dass man sich Malcolm X heute in beiden Rollen vorstellen
       kann, zeigt, wie schwer sich Amerika damit tut, ihn und seine Botschaft
       einzuordnen. Es zeigt aber auch, dass das Ringen um den richtigen Weg im
       Kampf gegen systemischen Rassismus in den USA so unabgeschlossen bleibt wie
       vor 60 Jahren, als Malcolm X in Harlem starb.
       
       Klassischerweise wird in der Historiografie der 1960er die [2][Militanz
       von] Malcolm X dem Weg des gewaltfreien Widerstandes von Martin Luther King
       gegenübergestellt. Beide bleiben Vorbilder widerstreitender Fraktionen im
       Kampf um Bürgerrechte in den USA: eines militanten Afropessimismus
       einerseits und eines Ansatzes andererseits, der durchaus die Fortschritte
       der vergangenen 60 Jahre anerkennt.
       
       So ist Spike Lees Film „Do the Right Thing“ von 1989, einer Zeit erneut
       eskalierender Spannungen in den USA, eine Meditation darüber, welcher der
       beiden Wege der richtige ist. Ein geistig behinderter Straßenverkäufer
       verkauft gemalte Porträts von X und King, der italienische Pizzeriabesitzer
       in Lees Schwarzer Nachbarschaft in Brooklyn hängt zähneknirschend Porträts
       beider in seinem Laden auf.
       
       Und nachdem Spike Lees Figur Mookie am Ende des Films eine gewalttätige
       Eskalation im Viertel gerade so verhindert, laufen im Abspann
       hintereinander Zitate von King und X: Kings absolutes Plädoyer für
       Gewaltfreiheit gegen den berühmten Aufruf von X, sich „mit allen
       notwendigen Mitteln“ gegen rassistische Gewalt zur Wehr zu setzen.
       
       ## Malcom X wird zum Held der Popkultur
       
       Drei Jahre später drehte Spike Lee das Biopic „X“ über das Leben von
       Malcolm X, das für zwei Oscars nominiert wurde. Der Film kam unmittelbar
       nach den Rassenunruhen von Los Angeles aufgrund der Polizeigewalt gegen
       Rodney King in die Kinos. Er löste einen wahrhaftigen X-Hype aus. X machte
       King als Schwarze Identifikationsfigur den Platz streitig und erwuchs zur
       kulturellen Ikone. Von NWA über Lauryn Hill bis zum Wu-Tang Clan kam im Rap
       niemand mehr ohne X-Zitate aus. X-T-Shirts und X-Mützen waren
       allgegenwärtig, selbst Präsident Bill Clinton setzte sich zum Joggen eine
       auf.
       
       Zur selben Zeit schrieb der Schwarze Philosoph und Theologe Cornel West,
       ebenfalls als Reaktion auf die Unruhen von Los Angeles, sein berühmtes
       Manifest mit dem doppeldeutigen Titel „Race Matters“ – auf den nicht
       zuletzt auch der spätere Slogan von [3][Black Lives Matter] zurückging. Das
       Buch endet mit einer Würdigung von Malcolm X.
       
       Das Verdienst von Malcolm X, schreibt West, ist zweierlei. Einerseits habe
       er auf eine Weise Schwarzen Zorn artikuliert, wie es sich bislang niemand
       getraut hatte. Die Tatsache, dass Schwarze Körper bis in die Gegenwart
       schutzlos willkürlicher Gewalt ausgeliefert sind, dass ihnen de facto noch
       immer Grundrechte verwehrt bleiben, der Mangel an Hoffnung, in Würde in der
       amerikanischen Gesellschaft leben und Träume verwirklichen zu können – all
       das formulierte X mit einer Schonungslosigkeit, wie das Land sie vorher
       noch nicht zu hören bekommen hatte.
       
       Leider, schließt West, habe X nicht lange genug gelebt, um diesen Zorn in
       eine politische Philosophie zu übersetzen, die über Selbsthass und
       Zerstörung hinausgeht. Gleichzeitig lobte West X mehr dafür, was seine
       Biografie exemplarisch vorgeführt hat, als für das, was er gepredigt hat.
       
       ## Seine Kindheit war von Armut geprägt
       
       In einfachste Verhältnisse im rassistischen Mittleren Westen der 1920er
       Jahre hineingeboren, war der gebürtige Malcolm Little zu jenem Schicksal
       prädestiniert, das bis heute mehrheitlich sozial schwachen Afroamerikanern
       blüht: einem Dasein in Kriminalität und Armut, das nicht selten im
       Gefängnis oder in einem frühen Tod mündet.
       
       Und zunächst sah für X alles danach aus. Nach dem Tod seines Vaters, der
       wahrscheinlich von einer Klan-ähnlichen Bande erschlagen wurde, brach seine
       Mutter psychisch zusammen. Die Kinder wurden in weiße Pflegefamilien
       gegeben. Der entfloh X, sobald es ging, um eine Karriere als
       Kleinkrimineller auf den Straßen von Boston zu starten. Mit 20 landete er
       im Zuchthaus.
       
       Dort begründete er seinen Mythos: Er konvertierte zu jener bastardisierten
       Form des Islam, welche die afroamerikanische Nation of Islam praktizierte.
       Die N.O.I. predigt bis heute allerlei krude Dinge, darunter Antisemitismus,
       Schwarzen Nationalismus und die bedingungslose Unterwerfung der Frau.
       Wichtig für Malcolm X war jedoch der Weg zu einem aufrechten Leben, den die
       Nation wies, und vor allem der Stolz auf die eigene Schwarze Identität.
       
       Wie Cornel West es beschreibt, half X dabei, das „doppelte Bewusstsein“
       loszuwerden, unter dem Schwarze in Amerika seit jeher leiden. „Schwarze
       konnten aufhören, ihre Körper, ihren Geist und ihre Seele durch die weiße
       Brille zu sehen, ihre volle Menschlichkeit bekräftigen und ihr Schicksal
       selbst in die Hand nehmen.“
       
       ## X und die Nation of Islam
       
       X wurde dank seines Charismas nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis zum
       wichtigsten Anführer der Nation of Islam. Mit ihm wuchs die vorher
       marginale Organisation auf mehrere Hunderttausend Mitglieder an und nahm
       eine stark politische Wendung. Die Macht, die X dadurch gewann, wurde ihm
       schließlich zum Verhängnis. Er wurde von der Nation of Islam, deren
       Anführer sich bedroht fühlten, verstoßen und schließlich ermordet.
       
       Der Tod von X mit nur 40 Jahren war tragisch. Er stand am Ende seines
       Lebens vor einer erneuten Konversion. Nach Reisen nach Ägypten und Mekka
       bekam er ein tieferes Verständnis für den Islam und wandte sich von vielen
       Dogmen der Nation of Islam ab. Er zweifelte die Idee des Schwarzen
       Separatismus an und öffnete sich der Zusammenarbeit mit Martin Luther King,
       den er vorher seines Integrationismus wegen verspottet hatte.
       
       Die Frage, was er mit reiferen politischen Ansichten, gepaart mit seinem
       Charisma und einem produktiv kanalisierten Zorn, hätte erreichen können,
       bleibt leider unbeantwortet. So bleibt X, wie sein gewählter Nachname, ein
       Enigma oder, wie Cornel West es ausdrückte: „Er ist Jazz.“ Man kann ihn
       schwer festnageln, er war wandelbar, seine Identität und Bedeutung blieben
       unabgeschlossen, im Werden begriffen. Und so eignet er sich auch zu
       Projektionen aller Art.
       
       Der Schwarze Intellektuelle Ta-Nehisi Coates etwa nimmt X als Wegbereiter
       für Barack Obama in Anspruch, obwohl sich der radikale Malcolm X ganz
       sicher gegen die Idee gewehrt hätte, am politischen System des
       Unterdrückerlandes zu partizipieren. Dennoch hat Coates’ Argumentation
       einen Punkt: X hat vorgeführt, wie man als Afroamerikaner in der
       Öffentlichkeit stehen kann, ohne sich zu verleugnen. Und wie man als
       intelligenter Schwarzer Mann in Amerika eine moralische Instanz für alle
       sein kann.
       
       ## Auch Obama hat ein kompliziertes Verhältnis zu X
       
       Obama selbst hatte derweil ein kompliziertes Verhältnis zu X. Die
       Autobiografie von Malcolm X, aufgezeichnet vom „Roots“-Erschaffer Alex
       Hayley, gibt Obama zu, habe durchaus seine eigene Autobiografie „Dreams of
       my Fathers“ inspiriert. Die Geschichte wiederholter Selbst-Neuerschaffung –
       eine zutiefst amerikanische Geschichte – habe ihn ebenso beeindruckt wie
       die Poesie der Worte von X.
       
       Gestolpert ist Obama jedoch über den Selbsthass von X ob des weißen Blutes,
       das er von seinem ihm unbekannten Großvater geerbt hatte. Obama ist selbst
       halb weiß, doch sein Verhältnis zu diesem Teil seines Genpools ist deutlich
       freundlicher. Obamas Fazit ist letztlich, dass es Schwarzen Stolz und
       Schwarze Solidarität geben kann, ohne Weiße zu hassen. X ist nie ganz an
       diesen Punkt gelangt. Aber vielleicht wäre er es, wenn er länger Zeit
       gehabt hätte.
       
       19 May 2025
       
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