# taz.de -- Tod von Schriftsteller Ngugi wa Thiong’o: Der Säer von Worten
       
       > Der kenianische Schriftsteller Ngugi wa Thiong’o ist tot. Er stand und
       > schrieb für eine „Dekolonisierung des Denkens“ und legte sich mit
       > Diktatoren an.
       
 (IMG) Bild: Er vertrat einen radikalen Begriff von Emanzipation: Ngugi wa Thiong'o ist mit 87 Jahren in den USA gestorben
       
       Als der kleine Njoroge zur Schule darf, ist er ganz stolz. Seine Mutter
       wird ihm ein Hemd und eine Hose kaufen, seine ersten. Seine Eltern würden
       ihn nicht zum Unterricht schicken, wenn sie nicht an ihn glaubten, das weiß
       er. Er wird Englisch lernen, und wer Englisch kann, der kann reich werden
       und kann sogar über das Meer fahren, nach Indien oder nach England, wo Mr.
       Howlands herkommt, der Schuldirektor, der alles weiß.
       
       „Ich frage mich, wieso er England verlassen hat, die Heimat des Wissens,
       und hier hergekommen ist“, meint da sein älterer Bruder Kamau, der nicht
       zur Schule geht, sondern eine Schreinerlehre macht. „Er muss dumm sein.“
       
       „Ich weiß nicht“, sagt der kleine Njoroge. „Man kann einen weißen Mann
       nicht verstehen.“
       
       Der Roman „Weep Not, Child“ mit diesen Eröffnungsszenen war 1964 der erste
       von einem Afrikaner geschriebene englischsprachige Roman, der in Ostafrika
       erschien. James Ngugi schrieb ihn als Student an der ugandischen
       Universität Makerere, während in Kenia der von den Briten [1][brutal
       niedergeschlagene Mau-Mau-Aufstand] des Volks der Kikuyu gegen die weißen
       Siedler tobte. Das Aufwachsen in diesem Krieg, der Familien zerstört, ist
       Kernthema dieses schmalen, düsteren Romans, der in den Kanon der
       Weltliteratur eingegangen ist. Für Millionen afrikanischer Schulkinder ist
       es die Einführung sowohl in englischsprachige Literatur als auch in den
       antikolonialen Widerstand.
       
       ## Für eine „Dekolonisierung des Denkens“
       
       Am Mittwoch ist Ngugi wa Thiong’o, wie der Autor seit seinem Bruch mit der
       englischen Sprache unter Hinzunahme des Familiennamens seiner Mutter hieß,
       im Alter von 87 Jahren in Atlanta (USA) verstorben. [2][Kenias Präsident
       William Ruto würdigt ihn] als „Kenias geliebten Lehrer“, der einen
       „unauslöschlichen Eindruck auf die Weise, wie wir über unsere
       Unabhängigkeit denken“, hinterlassen habe. Ugandas Oppositionsführer Bobi
       Wine sagt: „Seine Werke waren nicht bloß Literatur, sie waren
       Befreiungsmanifeste.“
       
       Wie kaum ein Schriftsteller Afrikas stand Ngugi wa Thiong’o für einen
       radikalen Begriff von Emanzipation, der weit über Unabhängigkeit
       hinausgeht. Der Kenianer forderte eine „Dekolonisierung des Denkens“, wie
       auch eine berühmte [3][Aufsatzsammlung] von ihm heißt. Für wahre Freiheit
       müssten Afrikaner sich von kolonialen Sprachen und kolonialer Leitkultur
       lösen, deren Überlegenheit ihnen nicht nur während der Kolonialzeit,
       sondern auch danach von klein auf eingeimpft werde.
       
       „Ich wurde in eine große Bauernfamilie hineingeboren: Vater, vier Frauen
       und ungefähr 28 Kinder“, erinnert sich der 1938 geborene Ngugi an seine
       Kindheit in Kamirithu, einer kolonialen Siedlung für enteignete
       Kikuyu-Bauern im Zentrum Kenias. Man sprach Gikuyu, die Kleinen hörten die
       Geschichten der Großen und erzählten sie sich gegenseitig weiter. „Die
       Sprache vermittelte uns über Bilder und Symbole eine Weltsicht und verfügte
       über ihre eigene Schönheit. Das Elternhaus und das Feld waren damals unser
       Kindergarten. […] Und dann kam ich in die Schule, in eine koloniale Schule,
       und diese Harmonie wurde gebrochen.“
       
       In „Weep Not, Child“ sind Njoroges erste Englischstunden Momente der Qual.
       Die Klasse lernt im Chor, wie man „You are standing up“ (Du stehst auf)
       sagt. Njoroge muss aufstehen, die Lehrerin fragt die Klasse, was er macht;
       die Kinder rufen „Du stehst auf“ – richtig! Die Lehrerin fragt Njoroge, was
       er macht, er flüstert „Du stehst auf“ – falsch! „Ich stehe auf“ wäre
       korrekt gewesen, aber woher soll er das wissen?
       
       Wer am Ende der Grundschule die Englischprüfung besteht, darf auf die
       Oberschule, wo nur Englisch gesprochen wird, erinnert sich Ngugi selbst in
       seinem Aufsatz [4][„Die Sprache der afrikanischen Literatur“]. Gikuyu
       sprechen ist jetzt streng verboten. „Der Übeltäter erhielt eine
       Prügelstrafe – drei oder fünf Stockhiebe auf den nackten Hintern – oder
       wurde dazu gezwungen, eine Metallplakette mit der Aufschrift ‚Ich bin doof‘
       oder ‚Ich bin ein Esel‘ um den Hals zu tragen.“ Ein ausgeklügeltes System
       zwang Schüler geradezu, sich gegenseitig zu denunzieren.
       
       Die koloniale Eroberung Afrikas durch Europa, so Ngugis Analyse, war nur
       der Anfang. „Der Nacht des Schwertes und der Gewehrkugel folgte der Morgen
       der Kreide und der Schultafel. Die physische Gewalt des Schlachtfeldes
       wurde von der psychischen Gewalt des Klassenzimmers abgelöst. […] Die
       Gewehrkugel war Mittel der physischen Unterwerfung. Die Sprache war
       Werkzeug der geistigen Unterwerfung.“
       
       Diese geistige Unterwerfung zu überwinden war Ngugis Lebensaufgabe. Kenia
       hält in Afrika eine Sonderstellung, ähnlich wie Kamerun auf der anderen
       Seite des Kontinents: In den 1950er Jahren regte sich eine bewaffnete
       Befreiungsbewegung, aber sie wurde von der Kolonialmacht niedergeschlagen.
       Danach erhielt das Land eine rein formale Unabhängigkeit unter einem
       Marionettenregime, das die Interessen der Kolonialmacht – Großbritannien in
       Kenia, Frankreich in Kamerun – intakt ließ. Nicht zufällig sind Kenianer
       wie Ngugi wa Thiong’o und Kameruner wie Achille Mbembe zu Wortführern der
       „postkolonialen“ Kritik an der Bewahrung kolonialer Unterdrückung unter
       afrikanischen Vorzeichen geworden.
       
       „Die Anwesenheit der Kolonisatoren führte dazu, dass eine Elite entstand,
       die die Sprache und den Stil der Eroberer annahm“, analysiert Ngugi in
       seinem Aufsatz „Auf dem Weg zu einer nationalen Kultur“. An anderer Stelle
       mokiert er sich über postkoloniale Herrscher wie Kenias damaligen
       Präsidenten Daniel arap Moi. Der riet seinen Ministern 1984, zum Höhepunkt
       seiner Gewaltherrschaft, sie sollten „mir nachplappern wie Papageien“ und
       keine eigenen Gedanken äußern. Er selbst habe das schließlich früher auch
       nie gemacht.
       
       ## Theaterstücke auf Gikuyu
       
       An der Sprachfrage entzweite sich Ngugi mit seinem Vorbild Chinua Achebe,
       dem berühmtesten Schriftsteller Nigerias. Als junger Student hatte James
       Ngugi ihm auf einer Konferenz an seiner Universität in Uganda das
       Manuskript zu „Weep Not, Child“ vorgelegt, woraufhin Achebe in London für
       die Veröffentlichung sorgte. Achebe warb in einer Rede 1964 dafür, dass
       afrikanische Intellektuelle sich der englischen Sprache nicht verweigern,
       sondern bemächtigen sollten, „ein neues Englisch, um der neuen
       afrikanischen Umgebung zu entsprechen“. Nur so könne man in der modernen
       Welt bestehen. Ngugi konterte, dies sei eine „fatalistische Logik“.
       
       Den Kampf für kulturelle Emanzipation focht Ngugi nach Kenias
       Unabhängigkeit 1963 aktiv aus. Während das Nationaltheater in Nairobi
       weiter von Weißen geleitet wurde und Shakespeare spielte, betrieb Ngugi an
       der Universität Nairobi im Umfeld der globalen 1968er-Debatten die
       Auflösung der Englischfakultät. Und schließlich gründete er auf einem Stück
       Brachland in seinem alten Heimatdorf ein Theater, das erstmals in Kenia
       Stücke auf Gikuyu aufführte und die Kikuyu-Kultur kritisch auf die Bühne
       brachte, was mittlere Skandale auslöste.
       
       Dafür wurde er Ende 1977 verhaftet, kurz nach Erscheinen seines Romans
       „Petals of Blood“ über den postkolonialen Verrat Kenias. Er saß in
       Einzelhaft, kam 1978 frei und musste, um seine Familie zu schützen, Kenia
       verlassen. Erst 2004 sah er sein Land wieder; bleiben konnte er nicht, er
       wurde angefeindet. Ins Kenia des 21. Jahrhunderts mit seinem
       selbstverständlichen Nebeneinander kosmopolitischer Globalisierung und
       intoleranter ethnischer Feindseligkeit passte der große Nationalist nicht
       mehr.
       
       Ngugis spätere Romane auf Gikuyu wurden – selbst in ihrer englischen
       Übersetzung – außerhalb Kenias wenig wahrgenommen. Den Literaturnobelpreis,
       den er nach Meinung vieler verdient hätte, bekam er nie. Manche seiner
       Schriften aus dem Exil triefen vor marxistischem Jargon; manchmal wirken
       seine Romane holzschnittartiger als in den Anfangszeiten.
       
       ## Eine Geschichte des Scheiterns?
       
       Schon 1978 konstatierte der kenianische Politologe Ali Mazrui bissig, Ngugi
       werde „mit jedem Werk wütender“ und es sei eben nicht so einfach, der
       kolonialen Prägung zu entrinnen, wie er selbst jeden Morgen feststellen
       müsse, wenn er sich vor dem Spiegel rasiere. Als Schriftsteller in London,
       Gastprofessor in Bayreuth, Filmstudent in Stockholm und ab 1989 als
       Professor in den USA hat Ngugi seinen Kampf für sprachliche Emanzipation
       nur deswegen global führen können, weil er ihn auf Englisch führen konnte.
       
       In gewisser Hinsicht ist Ngugis Karriere eine Geschichte des Scheiterns,
       wie auch Njoroges Aufwachsen als Verlust aller Illusionen in „Weep Not,
       Child“. Hätte Ngugi diesen Roman nicht auf Englisch geschrieben, dann hätte
       der Nigerianer Achebe ihn nicht lesen können und er hätte nie einen Verlag
       gefunden. Nirgends in Afrika gibt es höhere Bildung ohne die koloniale
       Sprache, keine Verfassungstexte, keine Rechtsprechung. In vielen Ländern
       Afrikas kommt bis heute die Unterrichtssprache aus Europa, und wer etwas
       auf sich hält, redet mit seinen Kindern Englisch oder Französisch, die
       einheimische afrikanische Sprache ist etwas fürs Kindermädchen.
       
       Ngugi beharrt darauf, das nicht hinzunehmen. Kinder müssen mit der Sprache
       aufwachsen, die ihrem unmittelbaren Erleben entstammt, sonst können sie
       ihre Umwelt nicht begreifen. „Wenn du alle Sprachen der Welt kennst, aber
       nicht deine Muttersprache – das ist Versklavung. Aber wenn du deine
       Muttersprache kennst und alle Sprachen der Welt hinzufügst – das ist
       Ermächtigung“, [5][sagte er 2015.]
       
       1995 diagnostizierten Ärzte in den USA, er habe Krebs und eine
       Lebenserwartung von drei Monaten. Es wurden dreißig Jahre. „Seine Worte
       haben den Geist gepflügt wie fruchtbares Land“, [6][lobt ihn das Green Belt
       Movement], die von der verstorbenen Friedensnobelpreisträgerin Wangari
       Maathai gegründete Umweltbewegung Kenias. „Er hat uns gelehrt, unsere
       Namen, unsere Sprachen und unser Land zurückzuholen. Ruhe in Frieden,
       großer Säer von Worten. Deine Ernte wird nie vergehen.“
       
       29 May 2025
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Kenias-Mau-Mau-endlich-legalisiert/!716467&s=mau+mau+kenia&SuchRahmen=Print/
 (DIR) [2] https://x.com/WilliamsRuto/status/1927961203344613769
 (DIR) [3] https://unrast-verlag.de/produkt/dekolonisierung-des-denkens/
 (DIR) [4] https://postcolonial.net/wp-content/uploads/2019/04/Ngugi_Excerpts_Language_of_African_Lit.pdf
 (DIR) [5] https://x.com/LarryMadowo/status/1927967601537200144
 (DIR) [6] https://x.com/GreenBeltMovmnt/status/1928003850604101901
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Dominic Johnson
       
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