# taz.de -- „Der Keim“ im Theater Bremen: Ersoffen in Bedeutung
       
       > Am Theater Bremen inszeniert Ruth Mensah den Roman „Der Keim“ von Tarjei
       > Vesaas. Das ist schön anzuschauen – und vielleicht ein bisschen zu
       > clever.
       
 (IMG) Bild: Symbolisch, düster und … irgendwie schön: die Bühne von „Der Keim“ im Theater Bremen
       
       Da kommt einer auf die Insel, um hier „Stille und Frieden und Grün“ zu
       finden. Stattdessen bringt er ein junges Mädchen um. Warum, das weiß man
       nicht – nur dass der Mann nicht bei Sinnen ist, ähnlich wie der Mob, der
       auf Menschenjagd geht, um die Tote zu rächen.
       
       Das ist Ausgangspunkt, Kern und eigentlich auch fast schon der gesamte
       Inhalt von „Der Keim“, wie das Stück nun am Theater Bremen zu sehen ist.
       Denn statt einer Geschichte stehen hier Zustände im Mittelpunkt,
       gesellschaftliche und seelische, was in kürzester Zeit in eins fällt – und
       vielleicht auch darum dann bald ganz auseinander.
       
       Ruth Mensah hat den Roman des Norwegers Tarjei Vesaas erstmals in deutscher
       Sprache auf die Bühne gebracht. Neu ist der Stoff allerdings nicht, auch
       wenn vor etwa zwei Jahren Hinrich Schmidt-Henkels Neuübersetzung auch
       dieses Romans für gewisses Aufsehen sorgte.
       
       Tatsächlich ist der in Norwegen sehr bekannte Text des [1][in Norwegen sehr
       bekannten Autors] bereits 1940 erschienen – und in Deutschland eher
       vergessen worden, als unbemerkt geblieben. So lag unter dem Titel
       „Nachtwache“ hierzulande bereits Mitte der 1960er eine Übersetzung vor.
       
       ## Alle mittendrin
       
       [2][In Bremen] wirkt die Geschichte jetzt aber ohnehin recht zeitlos.
       Shayenne Di Martinos Kostüme sind grob, filzig und braun, mit einem eher
       unbestimmt folkloristischen Einschlag. Sie springen einem bereits im Foyer
       ins Auge. Denn hier beginnt das Stück im Direktkontakt mit dem
       eintrudelnden Publikum: als Geplauder über die Ernte, aber auch zunehmend
       besorgteres Umhören nach der verschwundenen Inga.
       
       Das ist kein bloßer Gag zur Aktivierung der Zuschauenden, sondern wohl auch
       gleich ein erster Versuch, die Sache mit der Zeug:innenschaft aufs
       Tableau zu bringen. Darum geht es nämlich ganz zentral in diesem Text. Wer
       hat wobei (nur) zugesehen, und was tut das eigentlich zur (zu welcher)
       Sache? Das mag arg abstrakt klingen, aber darauf muss man sich bei „Der
       Keim“ ohnehin einstellen.
       
       Die Konstruktion kommt nämlich wirklich wie aus dem Ethik-Seminar daher,
       gemalt in biblischen Farben: Weil der Sohn die Tochter rächt, geht er Vater
       und Mutter gleich mit verloren. Und das nicht nur, weil er dafür
       wahrscheinlich einige Jahre ins Gefängnis muss, sondern viel mehr noch
       wegen der Schuld, die er auf sich geladen hat und für die er laut Vater
       büßen müsse, bevor man auch nur ernsthaft nachdenken könne über Verständnis
       oder Vergebung oder so.
       
       Präsentiert wird die Gemengelage in einer schweren Sprache, im Sinne von
       gewichtig, die in der Dramatisierung mitunter hölzerner wirkt als in der
       Vorlage. Auch in Sachen Schauspiel tritt die Besetzung vor allem durch
       präzise Arbeit an der Distanz – zueinander und zum eigenen Selbst – in
       Erscheinung. Wirklich lebendig wird es nur kurz und das ausgerechnet in den
       finstersten Momenten.
       
       ## Sehr hübsch und sehr traurig
       
       Wenn [3][Irene Kleinschmidt] als Kind über die Insel geistert wie eine
       Schicksalsgöttin ohne neue Nachrichten, da schaudert es einen schon. Oder
       wenn [4][Alexander Swoboda] als trauernder Vater nach fast zwei Stunden
       schließlich doch am Totenbett der Tochter zusammensackt, dann nimmt er
       einen schon mit. Also nach unten.
       
       Die Tote selbst hängt hier übrigens als abgesägter Ast im Raum, mit
       offenbar trotzdem frischen Knospen dran. Das ist ein schönes Bild, wie
       alles hier auf Yuni Hwangs toller Bühne: reduziert, exakt und bis zum
       Platzen aufgeladen mit Bedeutung.
       
       Diese allegorische Dichte ist Stärke und Schwäche des Abends zugleich, weil
       die Konstruktion im Ganzen vielleicht doch ein bisschen zu schlau ist für
       die allzu menschlichen Dimensionen des Abgrunds, der sich da auftut.
       
       In diesem Sinne besonders clever, aber eben auch besonders schematisch
       erscheint der später selbst ermordete Mörder Andreas im Spiel seiner fünf
       Schauspieler:innen. Mal erscheint er vermeintlich intakt als Einzelperson,
       dann wieder gedoppelt oder mit den flüsternden Stimmen der anderen im
       Nacken. Ein seichter Gruseleffekt, der vor allem aber klärt: Der Verrückte
       ist nicht allein in seinem Kopf, und gleichzeitig sind eben auch fast alle
       anderen der Verrückte.
       
       Das ganze Stück ist so, ein interessantes Puzzle oder Rätsel – das aber
       sonderbar kühl und folgenlos bleibt, was die Empfindung angeht. Eben weil
       all die zarten Kunstgriffe und kleinen Klugheiten aus vollem Hals [5][nach
       Bedeutung und Allegorie schreien].
       
       Einen Versuch gibt es immerhin, die erstarrte Konstruktion doch noch ins
       Offene zu wenden, genauer gesagt in Choreografie. Gerade wenn die Ratio
       versagt, versetzt die aus der Tanzsparte des Theater ausgeliehene
       [6][Waithera Lena Schreyeck] die Figuren in Bewegung – als Mob eben, oder
       auch als ziellos ums Selbst kreisende Einzelschicksal. Und das ist, wie
       auch alles hier, zwar schön anzusehen, am Ende aber auch nur ein weiterer
       Code. Solche Codes aber gilt es eher zu knacken, als sie auf der Bühne zu
       bestaunen.
       
       1 May 2025
       
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