# taz.de -- Bundestagswahl in Berlin: Zwischen Euphorie und Stille
       
       > Nach den ersten Prognosen: Die Grüne Julia Schneider hofft, der Linke
       > Ferat Kocak jubelt und bei der SPD wird es kurz sehr still.
       
 (IMG) Bild: Bundestagsgebäude in Berlin
       
       Berlin taz | Wahlparty lässt sich die Ansammlung grün-affiner Menschen im
       Schwuz, dem traditionsreichen queeren Club in Neukölln, nicht wirklich
       nennen. Als um Punkt 18 Uhr auf einer Leinwand an der Stirnseite des Raums
       die bundesweiten Wahlergebnisse zu sehen sind und der Balken der Grünen bei
       12 Prozent stehen bleibt, gibt es gerade mal Pflichtapplaus.
       
       Ein paar Momente später könnte man sich fragen, ob es sich bei der
       zentralen Veranstaltung der Berliner Grünen überhaupt eine ebenjener Partei
       handelt: Es wird nämlich richtig laut, als es um die Linkspartei geht und
       deren Balken auf 9 Prozent steigt
       
       In den Führungsriegen der Parteien kennt man zu diesem Zeitpunkt meist die
       Tendenzen, die Meinungsforschungsinstitute leiten ihre Exit Polls, der
       Befragungen beim Verlassen des Wahllokals, dorthin weiter. Dennoch sieht
       das Gesicht des Landesvorsitzenden Philmon Ghirmai just in dem Moment, da
       die Prognose im Saal zu sehen ist, wie versteinert aus.
       
       Auch die Spitzenkandidatin der Berliner Grünen, Bundesfamilienministerin
       Lisa Paus, scheint schlucken zu müssen. Gleiches bei Co-Chefin Nina Stahr,
       die auf ein Bundestagsmandat über die Landesliste ihrer Partei hofft.
       Begeisterung sieht anders aus.
       
       Für Nina Stahr, aber noch mehr für Julia Schneider, die Direktkandidatin in
       Pankow, stellt sich nun die Frage: Wie wirken sich diese 12 Prozent, die
       eine knappe halbe Stunde später eine Hochrechnung bestätigt, in ihren
       Wahlkreisen aus, bei den Erststimmen? 2021 holten die Grünen bundesweit
       fast 15 Prozent, also fast ein Viertel mehr. Damals hieß der
       Wahlkreissieger in Pankow Stefan Gelbhaar, 9 Prozentpunkte lag er vor der
       zweitplatzierten CDU-Bewerberin.
       
       Er steht an diesem Abend kurz nach 18.30 Uhr äußerlich entspannt wirkend
       vor dem Eingang des Clubs, unterhält sich und trinkt ein „Früh“-Kölsch.
       Mittlerweile fast komplett in sich zusammen gebrochene Vorwürfe über
       angebliche Übergriffe brachten ihn um seine Nominierung als Kandidat und
       das eigentlich für die Grünen sichere Bundestagsmandat.
       
       Würde die Grünen-Anhängerschaft die zwischenzeitliche Abwahl Gelbhaars und
       die neue Kandidatin Schneider gutheißen? Oder, selbst wenn nicht, zumindest
       aus Parteiräson für Schneider stimmen, um den Wahlkreis für die Grünen zu
       halten?
       
       Schneider hatte sich in der letzten Wahlkampfwoche gegenüber der taz
       optimistisch gezeigt, von großer Motivation, vielen Wahlkampf-Helfer und
       guter Stimmung gesprochen. Unterschwellig aber kursierten Befürchtungen,
       Grünen-Anhänger könnten – enttäuscht vom Umgang der Partei mit Gelbhaar –
       nun SPD oder Linke wählen und damit indirekt die AfD nach vorn bringen.
       
       ## Hoffen bei der Linken Neukölln
       
       In Neukölln hofft währenddessen Linken-Politiker Ferat Koçak darauf, den
       dortigen Wahlkreis zu gewinnen – und mit ihm 900 Menschen auf einer bereits
       vor Tagen restlos ausgebuchten Wahlparty der Bezirks-Linken in einem
       Veranstaltungssaal südlich des Tempelhofer Feldes. Es wäre bundesweit das
       erste Direktmandat der Linken in einem West-Wahlkreis.
       
       Um das möglich zu machen, hatte Koçak mit vielen Freiwilligen, die teils
       extra nach Berlin anreisten, einen intensiven Haustürwahlkampf geführt,
       insgesamt habe man an 139.000 Türen geklingelt – etwa zwei Drittel aller in
       Neukölln. In der langen Schlange, die sich vor Öffnung der Türen zur
       Wahlparty gebildet hatte, war die Stimmung zuversichtlich. Angesichts
       dieser Zahlen müsste man es eigentlich geschafft haben, so der Tenor.
       
       2021 hatte die Linkspartei nur auf Platz vier gelegen, mit nur rund halb
       soviel Stimmen wie die dort erfolgreiche SPD. Die bundesweit 8 Prozent,
       welche die ARD-Prognose der Linkspartei nun um 18 Uhr gibt, lassen Kocak
       zumindest hoffen. Dass parallel dazu in Treptow-Köpenick Parteiikone Gregor
       Gysi zum sechsten Mal in Folge gewinnt, ist quasi eingepreist. Hoffnungen
       macht sich die Partei zudem in Lichtenberg, wo die Bundesparteivorsitzende
       Ines Schwerdtner kandidiert, sowie in Friedrichshain-Kreuzberg mit dem
       ehemaligen Bundestagsabgeordneten Pascal Meiser.
       
       ## Lange Gesichter bei der SPD in Mitte
       
       Auch beim Treffen des SPD-Kreisverbands Mitte im durchaus ordentlich
       besuchten Restaurant Supersonico unweit des Mauerparks ist die Stimmung
       erstaunlicherweise gut. Die Parteilinke Annika Klose, die zusammen mit
       ihrem Bundestagskollegen Ruppert Stüwe aus Steglitz-Zehlendorf das
       Spitzenduo der Berliner Sozialdemokrat:innen bildet, hofft hier auf
       einen Wahlsieg.
       
       „Wir sind überzeugt, dass wir gute Antworten haben“, sagt Klose kurz vor
       der 18-Uhr-Prognose zu den Wahlkämpfer:innen des selbst für
       hauptstädtische Verhältnisse noch einmal besonders linken Kreisverbands. Es
       gehe darum, die Menschen zu überzeugen. „Nur leider gelingt uns das nicht
       immer.“
       
       In der Tat: Mit den von der ARD prognostizierten 16 Prozent hat die Partei
       ihr schlechtestes Ergebnis der Nachkriegsgeschichte eingefahren. Als der
       SPD-Balken auf dem Bildschirm erscheint, herrscht Stille. Jubel kommt nur
       bei den Werten der FDP und des BSW auf. Beide Parteien bleiben der Prognose
       zufolge unter 5 Prozent.
       
       Für Klose selbst dürfte es in Mitte am Sonntag noch schwer werden. 2021
       hatte Hanna Steinmüller von den Grünen den Wahlkreis mit klarem Vorsprung
       gewonnen. Das Szenario könnte sich an diesem Sonntag wiederholen. Gefeiert
       wird trotzdem ein bisschen. Die ehemalige Berliner Jusos-Chefin ist
       schließlich über den SPD-Landeslistenplatz 2 vernünftig abgesichert.
       
       ## Immer noch Hoffnung
       
       Die Hoffnung auf das Direktmandat hat sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht
       ganz aufgegeben. Dass die SPD insgesamt derart abschmiert, hätte sie
       bereits befürchtet. „Wir sind krachend abgewählt worden“, sagt Klose zur
       taz. Die Partei könne so nicht weitermachen. „Wenn es am Ende des
       Wahlabends andere Koalitionsoptionen für die CDU/CSU gibt als die SPD, dann
       sollten wir daraus die Konsequenz ziehen.“ Und die hieße dann:
       Oppositionsbank.
       
       Noch bei der Aufstellung der SPD-Landesliste im Dezember hatte Berlins
       SPD-Chefin Nicola Böcker-Giannini die Parole ausgegeben, dass die Wahl für
       die Sozialdemokrat:innen längst nicht gelaufen sei. Damals stand die
       Partei in Umfragen bei 14 Prozent. „Wie Aufholjagd geht, wissen wir, da
       macht uns niemand etwas vor“, versuchte sich Böcker-Giannini als
       Mutmacherin. Geholfen hat es kaum.
       
       Nach der Klatsche am Sonntag sieht Böcker-Giannini ihre Partei am
       Scheideweg: „Entweder können wir unseren Anspruch, führende Mitte-Links
       Volkspartei zu sein, glaubhaft unter Beweis stellen und sich entsprechend
       neu aufstellen oder sie wird bedeutungslos werden.“
       
       Ihr Co-Vorsitzender Martin Hikel kritisiert unterdessen auffällig gnadenlos
       den vorangegangenen Wahlkampf der eigenen Partei. Das Pokern um die
       Kanzlerkandidatur, der reine Abgrenzungswahlkampf zur Union und die Form
       der Migrationsdebatte wären kaum hilfreich gewesen. „Symptomatisch ist,
       dass die SPD die soziale Gerechtigkeit als ihren Markenkern durch einen
       egozentrierten Claim ‚Mehr für dich‘ infrage gestellt hat“, so Hikel.
       
       ## Heterogene Wahlkreisstrukturen
       
       Zahlen aus einzelnen Wahlkreisen hat Berlins Wahlleitung erst für später am
       Abend angekündigt. Die werden aber in keiner Weise repräsentativ sein: Wenn
       etwa die ersten ausgezählten Stimmen schwerpunktmäßig aus Neukölln-Nord
       kommen und dort die Linkspartei vorn liegt, sagt das wenig über Kocaks
       tatsächliche Chancen.
       
       Der Norden des Bezirks ist ohnehin eine Hochburg der Linken. Doch zum
       Wahlkreis gehören auch die südlichen Ortsteile um Buckow und Rudow, wo bei
       der Abgeordnetenhauswahl die CDU stark punktete. Ähnlich verhält es sich in
       Pankow mit den unterschiedlichen Wählergruppen im grün-affinen Prenzlauer
       Berg einerseits oder in Französisch-Buchholz im Norden des Bezirks
       andererseits, wo zuletzt die AfD erfolgreich war.
       
       23 Feb 2025
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Stefan Alberti
 (DIR) Rainer Rutz
 (DIR) Erik Peter
       
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