# taz.de -- Missstände in der „24-Stunden-Pflege“: Wer hilft ihnen?
       
       > Hunderttausende Menschen aus Ost- und Mitteleuropa arbeiten in
       > Deutschland in der Alten- und Krankenbetreuung. Statt fairer Jobs finden
       > sie oft unzumutbare Zustände vor.
       
 (IMG) Bild: Kochen, aufräumen, Körperpflege, Toilettengang, zum Arzt begleiten und vieles mehr gehört zum Arbeitsalltag der Betreuenden
       
       Es gibt Momente, da macht für die drei Frauen alles einen Sinn. Die
       unruhigen Nächte, die Rückenschmerzen, das Heimweh. Wenn Nadezda Kratinovás
       Patientin nach Tagen des gemeinsamen Trainings plötzlich wieder
       selbstständig auf die Toilette gehen kann und ihre Kinder von einem
       „Wunder“ sprechen. Wenn ein Hausarzt zu Lena Strejčková sagt: „Wow, Sie
       kennen sich so gut aus, Sie könnten glatt meinen Job machen.“ Oder wenn
       „der Opa“ Soña Hrnčírová einen Roadtrip quer durch Europa vorschlägt, weil
       es jetzt mal an der Zeit sei, dass er ihre Familie kennenlernt.
       
       Und dann gibt es Momente, da fragen sie sich, was zur Hölle sie da
       eigentlich tun. Wenn sie bei Regen das Fenster putzen sollen. Wenn „die
       Hexe“ sagt, heute gibt’s nur drei Kartoffeln für dich. Wenn der Kerl schon
       wieder absichtlich daneben pinkelt. Wenn man aufs Polizeirevier geladen
       wird, obwohl für die Medikamente doch die Tochter zuständig war. Wenn die
       einzige Option ist, im Auto zu schlafen, aus Angst, nachts allein mit
       diesem Mann zu sein.
       
       Soña Hrnčírová, Lena Strejčková und Nadezda Kratinová kommen aus Tschechien
       und arbeiten in der „24-Stunden-Pflege“ in Deutschland. Sie sind drei von
       schätzungsweise 400.000 bis 600.000 Menschen aus ost- und
       mitteleuropäischen Ländern, die sich hierzulande um die Alten kümmern und
       gleichzeitig dafür sorgen, [1][dass das Pflegesystem nicht zusammenbricht.]
       
       Auf dem Papier übernehmen sie Aufgaben, die auch Angehörige übernehmen
       könnten. Aufgaben also, für die man keine medizinische Ausbildung braucht:
       Hilfe bei der Körperpflege, beim Toilettengang, beim An- und Ausziehen.
       Kochen, aufräumen, waschen, zum Arzt fahren, gemeinsam Rommé spielen oder
       spazieren gehen. Deswegen ist offiziell auch nicht von Pflegekräften die
       Rede, sondern von Betreuer:innen oder sogenannten „Live-ins“.
       
       Denn die Menschen, meist sind es Frauen, leben teils mehrere Monate am
       Stück im Haushalt der zu betreuenden Person. Dort müssen sie oft sehr viel
       mehr sein als „bloß“ Betreuerin: nämlich Krankenschwestern, die ohne
       Vorwarnung mit Magensonden und Blasenkathetern umgehen sollen. Engste
       Vertraute, Psychologinnen, Physiotherapeutinnen, Tochterersatz.
       
       Aber wie funktioniert die „24-Stunden-Betreuung“ in Deutschland genau?
       Welche Rolle spielen sogenannte Vermittlungsagenturen? Und was erleben
       Betreuer:innen tagtäglich in ihren Jobs?
       
       Die Bezeichnung „24-Stunden-Pflege“ gehört in Anführungszeichen, weil in
       Deutschland niemand über mehrere Tage hinweg 24 Stunden am Stück arbeiten
       darf. Doch obwohl in vielen Verträgen von acht Stunden, freien Tagen und
       nur gelegentlichen Nachtbereitschaften die Rede ist, sieht das in der
       Realität oft anders aus. Da muss regelmäßig nach der dementen Patientin
       geschaut werden, weil sie sonst in die Küche läuft und aus der Blumenvase
       trinkt. Da ruft der frisch operierte Patient ständig aus dem Nebenzimmer,
       weil er aus Angst, nie mehr aufzuwachen, nicht einschlafen will. Da muss
       beim Weg ins Bad geholfen, der Körper in eine andere Schlafposition
       manövriert oder einfach die Hand gehalten werden.
       
       Ein Wohnblock in Litvínov in Nordböhmen, nur etwa 15 Kilometer entfernt von
       der deutsch-tschechischen Grenze. Lena Strejčková bittet herein, sie ist
       ganz offensichtlich im Freizeitmodus, trägt Leggings und einen weiten
       Pulli, auf dem Kopf ein Haarreif mit Hasenohren. Sie und ihre Partnerin
       Nadezda Kratinová, die im Wohnzimmer wartet, sind gerade erst zurück von
       mehrwöchigen Einsätzen in Deutschland und Österreich. Es ist ein Turnus,
       der für sie lange gut funktionierte: Ein paar Wochen Betreuerin sein, dann
       eine Woche gemeinsam in Litvínov verbringen. Wenn sie Freizeit haben,
       werden sie jeweils von einer anderen Frau vertreten.
       
       Das Paar arbeitet schon seit einigen Jahren in der Seniorenbetreuung,
       kennengelernt hat es sich über Social Media. Kratinová sitzt im
       Holzfällerhemd auf dem Sofa und macht mit ihrer Kurzhaarfrisur und der
       tiefen Stimme einen toughen Eindruck. Bevor die 47-Jährige Betreuerin
       wurde, hat sie unter anderem als Security in Bankfilialen gearbeitet. In
       ihrer Karriere haben die Frauen um die fünfzig Menschen betreut. „Und
       einiges gesehen“, sagt Strejčková. „Schönes und Schlimmes“, sagt Kratinová.
       Sie beide finden: „Es muss sich was ändern!“
       
       Etwa [2][5,7 Millionen Menschen in Deutschland sind derzeit
       pflegebedürftig,] nur etwa 900.000 davon werden in Pflegeheimen betreut. Um
       den überwiegenden Anteil der pflegebedürftigen Menschen kümmern sich also
       ihre Angehörigen – ein Viertel derer holt sich wiederum Unterstützung durch
       ambulante Pflegedienste oder nimmt eine „24-Stunden-Betreuung“ in Anspruch.
       Die Pflegeversicherung übernimmt je nach Pflegegrad einen Teil der Kosten.
       
       Menschen aus ehemaligen Ostblockstaaten, überwiegend aus Polen, arbeiten
       schon seit Jahrzehnten in deutschen Familien. Doch erst durch die
       EU-Osterweiterung und der damit einhergehenden Arbeitnehmerfreizügigkeit
       ist daraus eine Industrie geworden. EU-Bürger:innen können seitdem ohne
       besondere Arbeitserlaubnis von Privathaushalten beschäftigt werden (das
       Angestellten-Modell), darin selbstständig tätig sein (das
       Selbstständigen-Modell) oder von ausländischen Unternehmen dorthin entsandt
       werden (das Entsende-Modell). Letzteres ist in Deutschland am geläufigsten.
       
       Bei allen drei Modellen können sogenannte Vermittlungsagenturen eine Rolle
       spielen. Beim Entsende-Modell helfen diese in Deutschland ansässigen
       Vermittlungsagenturen den ausländischen Pflegeunternehmen, für deren
       Angestellte einen deutschen Haushalt zu finden. Sie führen vorab Gespräche
       mit den Familien, die eine Betreuerin suchen, und ermitteln so, welche
       Aufgaben übernommen werden müssen. Was hat der oder die Patient:in für
       einen Pflegegrad? Ist die Person dement? Wie mobil ist die Person? Wie
       schwer? Verbringt sie den Tag größtenteils lieber alleine oder wünscht sie
       sich Gesellschaft?
       
       Die Vermittlungsagentur leitet diese Anforderungen an das Pflegeunternehmen
       im Ausland weiter, das dann eine Person entsendet. Einen Vertrag schließt
       die Familie mit der Vermittlungsagentur ab, die wiederum einen Vertrag mit
       dem ausländischen Partnerunternehmen hat. Angestellt ist die
       Betreungsperson nicht bei der Vermittlungsagentur, sondern in ihrem
       Herkunftsland, dort werden auch ihre Sozialabgaben abgeführt. Trotzdem gilt
       deutsches Arbeitsrecht, also Bezahlung nach Mindestlohn, höchstens 48
       Stunden Wochenarbeitszeit und bezahlter Urlaub. Die Live-ins haben bei der
       Vermittlungsagentur außerdem eine Ansprechperson, die bei Problemen
       zwischen ihnen und der Familie vermitteln kann.
       
       All das gilt in der Theorie. In der Praxis lässt sich nur schwer
       überprüfen, ob deutsches Arbeitsrecht tatsächlich eingehalten wird –
       Betreuer:innen also ausreichend Pausen machen oder durchschlafen dürfen.
       Denn deren Arbeitsplatz befindet sich in einer hoch privaten, isolierten
       Umgebung. Das wiederum begünstige missbräuchliches Verhalten und Gewalt
       gegenüber den Live-ins, heißt es beispielsweise [3][in einem Bericht des
       Sachverständigenrats für Integration und Migration].
       
       Die Studie kam 2022 außerdem zu dem Schluss, dass Vermittlungs- und
       Entsendeagenturen „oft unseriös“ arbeiten. Absprachen würden demnach häufig
       nur informell getroffen, Arbeitsverträge nicht eingehalten oder gar nicht
       erst ausgestellt. Auch komme es immer wieder vor, dass Live-ins nicht
       abgesprochene Aufgaben übernehmen sollen oder nicht über Erkrankungen der
       zu betreuenden Personen informiert werden.
       
       Für Vermittlungsagenturen in Deutschland gibt es keinerlei
       Qualitätsstandards und Mindestanforderungen. Dass es sich um einen
       lukrativen Markt handelt, zeigt allein das Wachstum. Gab es 2009 nur etwa
       sechzig Agenturen, sind es mittlerweile viele hundert.
       
       Auf ihren Websites hingegen können viele dieser Agenturen gar nicht stark
       genug betonen, dass wirklich alle Beteiligten in den Pflege-Arrangements
       auf ihre Kosten kommen. Illustriert mit Agenturfotos, die junge adrette
       Frauen zeigen, die sich an glückliche Omis schmiegen, da ist die Rede von
       „Hausengeln“, die 100 Prozent legal, fair und sicher beschäftigt sind.
       Kompetent, freundlich, zuverlässig und „in nur drei Tagen verfügbar“.
       Nachts in Rufbereitschaft, tagsüber stets gut gelaunt. Alles im Einklang
       mit geltendem Recht, Kostenpunkt: ab 2.200 Euro im Monat.
       
       ## „Anything goes“ statt klarer Regelungen
       
       In dem Buch [4][„Gute Sorge ohne gute Arbeit?“] kommen mehrere Arbeits-,
       Migrations- und Geschlechterforscher:innen zum Ergebnis, dass in
       Deutschland in Sachen „24-Stunden-Pflege“ wegen mangelnder gesetzlicher
       Regelungen „anything goes“ gelte. Sie attestieren dem Entsende-Modell eine
       Unvereinbarkeit mit dem Arbeitszeitrecht und den damit einhergehenden
       Mindestlohnregelungen. Über einer selbstständigen Tätigkeit hänge wiederum
       das „Damoklesschwert der Scheinselbstständigkeit“.
       
       Das Angestellten-Modell, bei dem die Privathaushalte zu Arbeitgebern werden
       und Formalia wie die Anmeldung bei Sozialversicherungsträgern übernehmen
       müssen, gilt gemeinhin als für die Familien extrem bürokratisch und
       finanziell aufwändig. Da keine Regulierung in Sicht sei, nehme die Politik
       dabei eine „komplizenhafte Haltung des Laissez-faire“ ein, schreibt Ewa
       Palenga-Möllenbeck, die an der Goethe-Universität Frankfurt am Main zu
       Arbeitsmigration im Bereich der Pflege forscht.
       
       Die Ampelkoalition hatte sich zum Ziel gesetzt, eine „rechtssichere
       Grundlage“ in der Live-in-Pflege zu gestalten. In einem [5][im November
       veröffentlichten Abschlussbericht] einer Arbeitsgruppe heißt es, man sei
       zur Überzeugung gelangt, dass es „kein einfach umsetzbares Konzept“ gebe.
       An einer Lösung müsse „noch weitergearbeitet werden“. Eines der größten
       Probleme laut diesem Papier ist, dass „ein wesentlicher Teil der
       bestehenden Live-In-Verhältnisse dem informellen Segment zuzuzählen“ sei.
       In anderen Worten: Sehr viele Betreuungskräfte in Deutschland arbeiten
       schwarz.
       
       Lena Strejčková ist gerade erst aus Österreich wiedergekehrt. Nur 80 Euro
       am Tag sollte sie dort verdienen, denn die zu betreuende Frau brauchte laut
       Vermittlungsagentur angeblich nur wenig Unterstützung, könne laufen, könne
       alles machen. „Komme ich da hin, ist die Frau palliativ, die ist kurz vorm
       Sterben“, sagt Strejčková und lacht auf. „Sie hat Sauerstoff, Sonde,
       Katheter, braucht jeden zweiten Tag Dialyse, hat ein operiertes Herz,
       regelmäßige Panikattacken.“ Die Familie habe ihr dann netterweise 10 Euro
       mehr am Tag gegeben.
       
       Es ist ein Punkt, den die beiden Frauen an diesem Vormittag immer wieder
       ansprechen: Viele Vermittlungsagenturen hätten keine Ahnung, wie es der zu
       betreuenden Person wirklich gehe und welche Verhältnisse in deren Häusern
       und Wohnungen herrschten. „Oder sie wissen es und entscheiden, das zu
       ignorieren.“ Strejčková und Kratinová erzählen von völlig verdreckten
       Haushalten, in denen Menschen lebten, die seit Wochen nicht richtig
       gewaschen worden seien. Von Bettwanzen, die ihnen nachts die Beine
       zerbissen. Nicht alle ihre Geschichten lassen sich überprüfen, doch was die
       Frauen aus Litvínov erzählen, ähnelt anderen öffentlich gewordenen
       Berichten von Betreuerinnen.
       
       Strejčková und Kratinová sagen, Angehörige würden vor den Agenturen
       herunterspielen, was vor Ort tatsächlich zu tun sei. „Verständlich, so
       wird’s günstiger“, sagt Lena Strejčková. „Und jetzt stellen Sie sich mal
       vor, zu der palliativen Frau kommt eine Pflegerin hin, die keine Erfahrung
       hat mit Sauerstoff und so weiter. Das ist gefährlich!“
       
       Dabei sind Betreuerinnen eigentlich nicht einmal befugt, Medikamente in
       Tablettenboxen zu sortieren. Die beiden Frauen können darüber nur lachen.
       „Ich hatte diese Patientin in Bayern, die wurde von ungefähr vier
       verschiedenen Ärzten behandelt, die ihr vier verschiedene Schmerzmittel
       verschrieben haben“, erzählt Lena Strejčková. Die Frau sei völlig apathisch
       gewesen, habe weder essen noch trinken wollen. Strejčková habe die Familie
       darauf aufmerksam gemacht, dass die Frau Medikamente bekomme, die nicht
       zusammenpassten.
       
       „Da sagt einer der Ärzte ganz anerkennend zu mir, toll, Sie sind ja ein
       Profi“, sagt Strejčková, und man merkt, dass es sie immer noch stolz macht.
       Nach der Umstellung habe die Seniorin plötzlich wieder Lust auf Kaffee und
       Kuchen gehabt. Für Strejčková sei das einer der schönsten Momente als
       Betreuerin gewesen. „Wir haben gelernt, Packungsbeilagen zu studieren und
       nachzuprüfen“, sagt auch Nadezda Kratinová. „Sonst können das
       Todescocktails werden.“
       
       Ihnen ist bewusst, dass sie sich strafbar machen könnten, wenn sie mit
       Sauerstoffgeräten, Magensonden und Medikamentenpackungen hantieren und
       dabei etwas schiefgeht. „Aber was ist die Alternative?“, entgegnet Lena
       Strejčková. „Den Leuten ihre Medikamente oder etwas zu essen verweigern?“
       Dabei haben beide in der Vergangenheit die Erfahrung gemacht, dass sich
       ihre Ansprechpartner wegducken, wenn es ernst wird.
       
       Nadezda Kratinová zum Beispiel wurde bei einem ihrer ersten Einsätze
       vorgeworfen, falsche Medikamente verabreicht zu haben. Der Patient war ins
       Krankenhaus eingeliefert worden und sie soll Schuld gewesen sein. Laut
       Kratinová habe aber die Tochter Hoheit über die Medikamente gehabt. Sie
       suchte Hilfe bei der deutschen Vermittlungsagentur, dort wurde ihr gesagt:
       „Nadja, wenn du Probleme mit der Polizei hast, dann nehmen wir die Hände
       weg.“ Die Person von der Vermittlungsagentur habe der Polizei gegenüber
       später sowohl verneint, eine Nadezda zu kennen, als auch überhaupt eine
       Agentur zu haben.
       
       Die Familie habe schlussendlich die Vorwürfe zurückgezogen, ihr Geld für
       den letzten der drei Monate habe sie allerdings nie bekommen. Die taz hat
       die Agentur mit den Vorwürfen konfrontiert, eine Stellungnahme blieb aus.
       
       ## Entlastung für die Pflegeversicherung
       
       Fragt man Frederic Seebohm, Vorsorgeanwalt und Vorsitzender des
       Bundesverbands für häusliche Betreuung und Pflege (VHBP), dann werde im
       Bereich der „24-Stunden-Betreuung“ einiges ziemlich aufgebauscht. „Das ist
       ganz normale Angehörigenpflege, die die Betreuungspersonen aus Osteuropa
       leisten“, sagt er der taz am Telefon. „Dafür braucht es keine langjährige
       Ausbildung, das könnten wir beide auch für unsere Eltern tun.“ Seriöse
       Vermittler würden unter keinen Umständen medizinische Dienste anbieten, die
       Haftungsrisiken seien zu hoch.
       
       Für die „24-Stunden-Betreuung“ seien die Pflegeversicherungen jedenfalls
       sehr dankbar, denn sie sparten damit hohe Kosten für stationäre Pflege,
       meint Seebohm. Im VHBP sind 41 deutsche Vermittlungsagenturen organisiert,
       die sich, so Seebohm, von der deutschen Politik endlich klare Verhältnisse
       wünschen. Denn im Bereich der „24-Stunden-Pflege“ habe man es durch die
       mangelnde Regulierung mit einem unfairen Wettbewerb zu tun, und das mache
       keine Freude. „Die Regierung ist in der Lage, die gesamte
       Energieinfrastruktur unseres Landes umzustülpen, aber für die mehreren
       Hunderttausend Frauen aus Osteuropa, die im Laufe eines Jahres nach
       Deutschland migrieren, Rechtssicherheit herzustellen, das schafft sie
       nicht?“
       
       Entweder müsse man den Mut haben zu akzeptieren, dass das klassische
       Arbeitsrecht sich mit der „24-Stunden-Betreuung“ nicht vereinbaren lasse,
       „oder man muss sie eben verbieten und sagen, wir bauen jetzt hier große
       Hallen auf, da werden die rund 300.000 alten Menschen untergebracht, die
       bisher von osteuropäischen Betreuungspersonen versorgt werden“. Seiner
       Meinung nach gebe es genug Lösungen, „aber die Regierung will es einfach
       nicht regeln“. Weil das System, so wie es ist, für deutsche Haushalte, die
       Pflegekassen und die Sozialhilfeträger viel kostengünstiger funktioniere.
       Würde man versuchen, es mit geltendem Arbeitsrecht in Einklang zu bringen,
       „dann explodiert es“.
       
       Seebohm geht der „Fokus auf die bösen Vermittlungsagenturen“ merklich auf
       den Keks. Das Problem seien seiner Meinung nach vielmehr diejenigen, die
       sich die Betreuung für ihre Familie über Facebook einfach selbst
       organisieren. Wenn es nach ihm ginge, hätte Deutschland längst das
       „elegante Modell“ der Österreicher:innen übernommen. Dort wird vor
       allem auf Selbstständigkeit der Betreuungspersonen gesetzt.
       
       Natürlich könne man das so machen wie in Österreich, sagt Bernadett Petö.
       „Aber dann haben die Betreuerinnen hier eben überhaupt keinen
       arbeitsrechtlichen Schutz mehr. Kein Recht auf bezahlten Urlaub, auf
       Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, auf Mindestlohn, nicht mal ein Recht auf
       begrenzte Arbeitszeiten. Ich finde das nicht gut.“
       
       Petö arbeitet beim Beratungsnetzwerk Faire Mobilität des Deutschen
       Gewerkschaftsbunds und berät dort Menschen aus Ost- und Mitteleuropa, die
       in der häuslichen Betreuung arbeiten. Gemeinsam mit ihren Kolleg:innen
       veranstaltet sie beispielsweise virtuelle Treffen, in denen
       Betreuer:innen über ihre Rechte aufgeklärt werden sollen und
       gleichzeitig die Möglichkeit bekommen, sich untereinander zu vernetzen.
       
       Faire Mobilität war außerdem beteiligt [6][am Fall einer bulgarischen
       Betreuerin], die vor Gericht gefordert hatte, auch für ihre
       Bereitschaftszeiten entlohnt zu werden. Die Frau hatte nachweisen können,
       dass sie tatsächlich rund um die Uhr im Einsatz war. Das
       Bundesarbeitsgericht gab ihr recht. Für jede ihrer Arbeitsstunden gelte der
       Mindestlohn.
       
       „Dobrina hat das Geld aber zwei Jahre später immer noch nicht erhalten“,
       sagt Bernadett Petö. Denn auszahlen muss es die ausländische Agentur, bei
       der sie angestellt war, und die ist insolvent. Trotzdem hätte das Urteil
       Strahlkraft in die Branche gehabt: „Viele Betreuerinnen haben sich im
       Anschluss bei uns gemeldet und nachgefragt, was genau das eigentlich
       bedeutet, dass sie entsandt sind, worauf sie achten müssen und wie sie ihre
       Rechte durchsetzen können.“
       
       Immer wieder würden sie die Erfahrung machen, dass Ansprechpersonen von
       Vermittlungsagenturen sie einfach dauerhaft ignorieren oder die
       wahnwitzigsten Begründungen finden, ihnen Vertragsstrafen anzudrohen, sagen
       die beiden Frauen im Wohnzimmer in Litvínov. „Erzähl die Geschichte vom
       Nazi“, sagt Lena Strejčková in Richtung ihrer Freundin.
       
       Nadezda Kratinová räuspert sich. Noch nicht lange her, da sei sie bei einer
       Familie in Süddeutschland im Einsatz gewesen, „sehr reich, sehr
       intelligent, sehr großes Haus“, erzählt sie. „Aber es war dort wie im
       Knast.“ Jedes Mal, wenn sie an den Kühlschrank wollte, habe sie den Herrn
       des Hauses um Erlaubnis bitten müssen. Morgens und abends gab es je nur
       eine Scheibe Brot, ohne Butter, weil man das in dieser Familie so machte.
       Eigentlich sei sie zur Betreuung der Frau eingestellt worden, aber der Mann
       habe sie ständig zur Gartenarbeit aufgefordert oder sie die Küchenschränke
       ausräumen lassen.
       
       Während sie erzählt, gibt ihre Lebensgefährtin zu verstehen, dass sie es
       nicht fassen kann, dass Kratinová das mit sich hat machen lassen. Einmal,
       führt Nadezda Kratinová fort, habe sie Karotten an der Brotschneidemaschine
       schneiden sollen und sich dabei am Finger verletzt. Nur ein einziges
       Pflaster habe sie von der Familie bekommen, obwohl es im Haushalt mehr
       davon gab. „Und dann sollte sie mit der kaputten Hand und im Regen die
       Fenster putzen. Was für ein Schmarrn“, sagt Strejčková.
       
       Der Mann habe sie außerdem immer wieder rassistisch und homophob beleidigt.
       Andere Betreuerinnen, die in derselben Familie tätig waren und mit denen
       sich Kratinová im Anschluss vernetzte, soll er aufgefordert haben, ihre
       Brüste zu zeigen. „Nach elf Tagen habe ich der Agentur gesagt, dass ich
       gehen will“, sagt Kratinová. „Und ich habe ihnen vorgeworfen, dass sie mich
       dahin geschickt haben, obwohl sie von seinen Einstellungen wussten, und
       auch wussten, dass ich lesbisch bin.“ Daraufhin habe die Agentur gesagt,
       wenn sie gehe, bekomme sie nur einen Bruchteil des Lohns, der ihr
       eigentlich für den Zeitraum zustehen würde.
       
       Nadezda Kratinová reiste trotzdem vorzeitig ab, das ausstehende Geld für
       den Monat hat sie nie bekommen. Die beiden Frauen hatten überlegt, vors
       Arbeitsgericht zu ziehen, es dann aber doch sein lassen. Zeitlich und
       finanziell wäre das einfach zu aufwändig. Die taz hat der Agentur
       Gelegenheit gegeben, zu diesem Fall Stellung zu nehmen. Eine Rückmeldung
       blieb aus.
       
       Eine Frage liegt nahe: Warum tun sie sich das an?
       
       Beide betonen sie, dass ihnen der Job sehr liegt und sie keine
       Berührungsängste mit anderen Menschen haben. Nachdem ihr Sohn zur Welt kam,
       hat Lena Strejčková eine Physiotherapieausbildung gemacht, eigentlich
       wollte sie mal Krankenschwester werden. Die meiste Zeit ihres Lebens hat
       sie dann jedoch als Grundschullehrerin gearbeitet, und mit dem Job sehr
       viel weniger verdient als in der „24-Stunden-Betreuung“ in Deutschland.
       Deswegen beschloss sie vor fünf Jahren, es zu probieren.
       
       Nadezda Kratinová war schon an so manchen Orten beruflich tätig: im
       Restaurant, beim Metzger, in einem Security-Unternehmen, beim Bestatter.
       „Ich komme mit Krankheiten klar und ich komme mit den Körpern anderer
       Menschen klar. Und in Deutschland verdient man einfach schönes Geld.“ Als
       sie das erste Mal 1.000 Euro bekommen hätte, habe sie gedacht „Jipppieeeh“.
       „Bis mir dann jemand gesagt hat, dass ich diesen Job nicht für unter 2.000
       Euro netto machen sollte.“
       
       Etwas weniger als 2.000 Euro netto verdient seit ein paar Jahren Soña
       Hrnčírová im Haushalt eines wohlhabenden Mannes, den sie nur „den Opa“
       nennt. Aber das sei okay, denn im Grunde würden die beiden wie in einer
       gleichberechtigten Wohngemeinschaft zusammenleben.
       
       Die 53-jährige großgewachsene Frau sitzt in einem Café in einer Kleinstadt
       am Niederrhein und lässt vor lauter Erzählen ihren Latte Macchiato kalt
       werden. Die Gemeinde liegt unweit der niederländischen Grenze und ist über
       tausend Kilometer entfernt von Hrnčírovás Geburtsort Modra in der Slowakei.
       Dort und in der Nähe von Prag, wo sie die meiste Zeit ihres Lebens
       verbrachte, lebt Soña Hrnčírovás Familie. Mittlerweile hat sie aber keinen
       Wohnsitz mehr in Tschechien, sie verbringt immer drei Monate am Stück beim
       „Opa“, dann zwei Wochen bei ihrem inzwischen erwachsenen Sohn.
       
       ## Es gibt solche und solche Männer
       
       Seit 2015, nachdem sie als Chefin eines Supermarktes einen Burn-out erlitt
       und viele Monate krankgeschrieben war, arbeitet sie in der
       „24-Stunden-Betreuung“ in Deutschland. Eine Freundin schlug ihr damals vor,
       es mal zu probieren.
       
       „Ich habe in den fast zehn Jahren überwiegend gute Erfahrungen gemacht“,
       sagt Soña Hrnčírová. Sie hofft, dass ihr 90-jähriger Patient „noch 15 Jahre
       lebt“, denn sie genießt es sehr bei ihm und hat sich am Niederrhein ein
       eigenes soziales Umfeld aufgebaut. Mit ihren Freundinnen geht sie
       regelmäßig in die Sauna, ins Solarium oder macht andere „Frauensachen“.
       
       Für den „Opa“ hat Soña Hrnčírová zwei ihrer eigentlich eisernen Prinzipien
       gebrochen. Erstens: Nie wieder einen Mann betreuen. Zweitens: Niemals
       Patient:innen auf den Friedhof begleiten. „Ich habe ein großes Problem
       damit, mehrmals die Woche die Gräber fremder Angehöriger zu besuchen“, sagt
       sie. Ihr Vater sei 2012 gestorben und sie habe so weit von Zuhause entfernt
       keine Möglichkeit, zu ihm auf den Friedhof zu gehen. Mit der Frau des
       „Opas“, deren Grab sie gemeinsam mit ihm pflegt, ist es aber etwas anderes.
       Denn bevor sich Hrnčírová um den Mann kümmerte, war sie für dessen Frau
       zuständig. Einer ihrer härtesten Einsätze, denn „Louise hatte die schwerste
       Demenz, die ich jemals gesehen habe“, erzählt sie.
       
       Hrnčírová habe ihr nonstop hinterherlaufen müssen, denn die alte Frau habe
       so gut wie nie geschlafen, sei ständig zu ihr ins Zimmer gerannt und habe
       Zuwendung eingefordert. „Manchmal hat sich das angefühlt, als wäre ich 26
       Stunden am Stück wach gewesen.“
       
       Soña Hrnčírová schlug der Schlafentzug irgendwann auf die Psyche, sie
       fühlte sich unglücklich, fahrig, ließ ständig Dinge fallen. Immerhin
       verdiente sie damals noch knapp dreimal so viel wie heute, aber das Geld
       tröstete auch nicht hinweg über die Dunkelheit, die sie oft spürte. Damals
       vermisste sie ihr Zuhause noch mehr als sonst. Normalerweise weinte sie auf
       der Rückfahrt nach Deutschland nur bis zur Grenze, nun auch manchmal
       darüber hinaus.
       
       Als Louise starb, sei das trotzdem hart gewesen. Soña Hrnčírová beteuert,
       sich trotz allem sehr gerne um sie gekümmert zu haben. Hrnčírová war Teil
       der Familie geworden. Und so bat „der Opa“ sie, zu bleiben. Er könne nicht
       mehr ohne sie.
       
       Die beiden haben ein so inniges Verhältnis miteinander, dass sie sogar
       während Soña Hrnčírovás zweiwöchiger Auszeit jeden zweiten Tag miteinander
       telefonieren. Im Juli sind sie gemeinsam in die Slowakei gefahren, weil
       „der Opa“ ihre Familie kennenlernen wollte. „Normalerweise kann er maximal
       bis 23 Uhr wach bleiben, aber dort … 2 Uhr!“, sagt Hrnčírová.
       
       Auch wenn sie manchmal zanken oder über Politik diskutieren: „Besser als
       mit dem Opa geht’s nicht!“ Dabei war sie lange der Überzeugung, dass Männer
       nur von Männern gepflegt werden sollten. Was sie zu ihrem früheren Prinzip
       Nummer 1 bringt: „Nie wieder einen Mann betreuen.“
       
       Vor ein paar Jahren bekam Soña Hrnčírová von ihrer damaligen Agentur einen
       Mann vermittelt, der sich ihr gegenüber immer und immer wieder entblößte.
       „Er war Anfang 60, nach einem Unfall im Rollstuhl, aber er hatte ein gutes
       Gehirn und wusste genau, was er tut.“ Bei jeder Gelegenheit habe er seinen
       Penis rausgeholt, und sexuelle Anspielungen gemacht. Auch in der
       Öffentlichkeit, eine Decke auf seinem Schoß, darunter die offene Hose. Wenn
       sie sich zu ihm runterbeugte, um ihn in den Treppenlift zu verfrachten,
       wenn sie sein Abendessen hinstellte, wenn sie ihn durch den Supermarkt
       schob. „Und dann musste ich ihn natürlich auch waschen, das war so
       peinlich, das war sehr, sehr schwer für mich.“
       
       Hrnčírová erzählte ihrer Agentur von dem Verhalten des Mannes. Dort hieß
       es, man habe da schon Beschwerden gehört, aber der Mann ziehe sich ja nur
       die Hose runter, er tue ja nichts. Wenn sie jetzt ginge, sagte man ihr,
       müsste sie eine Strafe zahlen. Hrnčírová schlief in dieser Zeit immer
       wieder im Auto, sie hatte Angst und sie schämte sich. Nach drei Monaten
       warf sie hin.
       
       Dieser Mann und die „Hexe“ seien ihre demütigendsten Einsätze bisher
       gewesen. Die Geschichte von der „Hexe“ ähnelt Nadezda Kratinovás Geschichte
       vom „Nazi“. Rationiertes Essen, ständige Zurechtweisungen, „Verhalten wie
       ein General“. Jedes Mal, wenn Hrnčírová das Wort „Hexe“ sagt, senkt sie
       ihren Blick und ihre Stimme, wie aus Sorge, die Leute am Nachbartisch
       könnten sie hören. „Aber wenn jemand nicht nett zu mir ist, dann bin ich es
       auch nicht.“ Sie habe der „Hexe“ entgegnet, dass sie essen müsse, um
       arbeiten zu können, und dass sie nicht fürs Fensterputzen bezahlt werde.
       Und dann habe sie eben gekündigt.
       
       Und es sei ja nun mal wirklich so, dass in ihrem Job das Schöne überwiege.
       Die alte, feine Dame, die sich immer noch täglich schminkte und so was wie
       eine Großmutter für sie wurde. Oder die Familie, die ihr nach dem Tod der
       Patientin deren alten Ford Fiesta schenkte. Und jetzt eben der Opa, der
       bitte mindestens 105 Jahre alt werden möge. Denn das ist natürlich auch so
       ein Thema: Sterben, Tod und Trauer. „Man verbringt teilweise Jahre mit
       diesen Menschen, rund um die Uhr, kennt sie in- und auswendig. Wenn die
       sterben, dann ist das hart.“
       
       Da war zum Beispiel diese Frau, bettlägerig seit Jahren, die nicht mehr
       sprach, aber noch sang und der bei romantischen Filmen die Tränen kamen.
       Die röchelte jede Nacht und dann eines Nachts eben nicht mehr. Soña
       Hrnčírová traute sich am nächsten Morgen nicht, ihr ins Gesicht zu schauen,
       sie fummelte an den Vorhängen rum, wünschte ihr mit klopfendem Herzen einen
       guten Morgen, fragte in die Stille hinein, wie sie denn geschlafen hätte,
       und zwang sich dann irgendwann, den Kopf in ihre Richtung zu drehen. „Ich
       war fix und fertig.“
       
       Bei Nadezda Kratinová hätte die Trauer einmal fast dazu geführt, dass sie
       das mit der „24-Stunden-Betreuung“ ein für alle mal sein lässt. Und zwar
       wegen Inge, Schlaganfallpatientin, die sie oft dick einpackte und zu
       Veranstaltungen wie dem Schützenfest schob. „Nadja, du bist der beste
       Mensch!“, habe Inge dann immer gesagt. Irgendwann wollte Inge morgens nicht
       mehr aufstehen, sie weigerte sich, zu essen und zu trinken. „Einen Monat
       lang musste ich täglich raten, was sie braucht“, erzählt Kratinová. Mit
       einer Spritze gab sie ihr Flüssigkeit in den Mund, wich ihr nicht von der
       Seite. Bis sie dann doch mal ein Wochenende bei ihrer damaligen Partnerin
       verbrachte und zur Mittagszeit der Anruf kam. „Ich habe so geweint. Inges
       Sohn musste mich trösten.“
       
       ## Auch Psychologinnen müssen sie sein
       
       Kratinová fuhr zurück zu Inge, saß abends mit Familienmitgliedern zusammen,
       die sie immer wieder fragten: „Nadja, erzählst du uns was von unserer
       Mutter?“ Als alle weg waren, wusch sie Inge, machte sie fertig für den
       Bestatter. „Die Familie hat mich dann noch gefragt, ob ich zwei Wochen
       länger bleiben kann, weil sie alle noch mal mit mir über Inge sprechen
       wollten. Ich war so erschöpft, so leer“, sagt Kratinová. „Sie musste noch
       Psychologin sein!“, ruft Lena Strejčková aus. „Aber das ist normal. Wir
       müssen immer auch noch Psychologin sein.“
       
       Der Wissenschaftlerin Ewa Palenga-Möllenbeck ist es wichtig zu betonen,
       dass auch die deutschen Familien es nicht unbedingt leicht haben in diesem
       „sehr unübersichtlichen Feld der 24-Stunden-Betreuung“. Es gäbe da „so
       viele Akteure, dass keiner den Überblick hat und ganz bestimmt nicht die
       Angehörigen, die neben ihrem Job die Betreuung eines Familienmitglieds
       organisieren müssen“, sagt sie.
       
       Palenga-Möllenbeck ist aktuell beteiligt an einem Forschungsprojekt, das
       sich unter anderem mit Folgen für die Herkunftsländer der Pflegenden
       befasst. Denn die Abwanderung von Betreuungspersonen in andere Länder reißt
       natürlich Lücken in Pflegesysteme vor Ort. Das kann zu Überlastung von
       Familienangehörigen und verfestigten Geschlechterrollen führen und
       sogenannte transnationale „Care-Ketten“ zementieren: So übernahmen auch
       schon vor dem russischen Angriffskrieg überwiegend ukrainische Frauen
       Care-Jobs in Polen, weil vor Ort die einheimischen Betreuungspersonen
       fehlen – denn die sind in Deutschland. Die Ukrainerinnen fehlen dann
       wiederum in ihrem Heimatland.
       
       Ein Ergebnis des Forschungsprojekts soll auch sein, für deutsche Familien
       eine Reihe an Empfehlungen zusammenzustellen, worauf sie bei der Suche nach
       einer Betreuerin achten müssen. Ist die Betreuerin selbstständig, sollte
       man beispielsweise prüfen, dass sie mehrere Patient:innen hat, weil
       sonst eine Nachzahlung von Sozialbeiträgen droht. Ist die Betreuerin
       entsendet, sollte sie eine A1-Bescheinigung mit sich führen, die bestätigt,
       dass sie im Entsendeland sozialversichert ist. „Außerdem ist wichtig, dass
       die Verträge transparent sind. Welche Gebühren fallen für die deutsche und
       die ausländische Agentur an, welchen Anteil bekommt die Betreuerin?“ Die
       Gesamtkosten müssten sich im Schnitt auf mindestens 2.800 Euro belaufen.
       
       Ewa Palenga-Möllenbeck stößt bei ihrer Forschung immer wieder auf Dinge,
       die ihr Hoffnung machen. Beispielsweise sei da diese eine polnische
       Agentur, die Betreuerinnen vor ihrer Entsendung Kurse zu
       Arbeitnehmerrechten anbietet und nun auch Workshops zu interkultureller
       Bildung in ihr Programm aufnehmen wolle. Die versuche, das Maximum an ihre
       Angestellten auszubezahlen. „Wir sehen diese Tendenzen oft: Agenturen, die
       sich selbst regulieren, sich selbst Standards setzen, weil es sonst niemand
       macht.“
       
       Das haben sich nun auch Lena Strejčková und Nadezda Kratinová vorgenommen.
       Sie beide wollen jeweils noch einen Einsatz absolvieren und dann ihr
       eigenes Pflegeunternehmen aufmachen. „Ich habe langsam genug davon, nicht
       mein eigenes Leben zu leben“, sagt Strejčková. „Ich kann nicht mehr, ich
       bin müde“, sagt Kratinová. Beide wollen sie mehr Zeit haben für Strejčkovás
       16-jährigen Sohn.
       
       Was die beiden sich für ihr eigenes Unternehmen vorstellen? „Pflegerinnen,
       die nichts können, werde ich nicht einstellen“, sagt Strejčková. Zu oft
       habe sie in den vergangenen Jahren unhaltbare Zustände vorgefunden, wenn
       sie nach Urlauben in Litvínov an ihren Einsatzort zurückgekehrt sei. Viele
       Betreuer:innen würden den Job herzlos erledigen, klauen, alles dreckig
       hinterlassen.
       
       Und, am wichtigsten: Strejčková wolle sich vorab unbedingt ein Bild machen
       vom Gesundheitszustand des Patienten und den Begebenheiten im Haushalt –
       unabhängig von der deutschen Vermittlungsagentur. Keine bösen
       Überraschungen mehr. Damit für ihre Angestellten die Momente, in denen
       alles einen Sinn ergibt, überwiegen.
       
       Redaktionelle Mitarbeit: Ester Klimecká
       
       12 Jan 2025
       
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