# taz.de -- Filme des Jahres: Mehr Song wagen
       
       > Die Filme des Jahres zeigen Mut zum Musical und zu weiblichen
       > Perspektiven. Das deutsche Kino will mit Mohammad Rasoulof einen Oscar
       > holen.
       
 (IMG) Bild: Die Anwältin singt: Rita Moro Castro (Zoe Saldaña) bei einer Tanzeinlage im Musical „Emilia Pérez“
       
       Vielleicht muss man den Begriff „Abgesang“ wörtlich nehmen, zumindest für
       die Filme aus dem Jahr 2024. Die Entwicklung hin zu „mehr Song“ deutet sich
       zwar schon länger und mit [1][Musicals wie „Annette“ von Leo Carax (2021)]
       und einer steigenden Anzahl von Biopics über Musiker:innen (Amy
       Winehouse, Elton John, Freddie Mercury, Aretha Franklin) an. Aber so viel
       irres Musical wie jetzt war nie.
       
       In „[2][Wicked“ singen grüne und weiße Hexen] sich seit Wochen auf die
       obersten Plätze der US-amerikanischen Kinocharts (es mag helfen, dass
       Ariana Grande, die weiße Hexe, bereits über Billboarderfahrung verfügt).
       
       „Better Man“, der mit Jahresanfang startet, müsste eigentlich „Better Ape“
       heißen, denn sein Protagonist Robbie Williams wird von einem
       computeranimierten Affen dargestellt, auf dessen Versatilität das
       Motion-Capture-Geschöpf „Caesar“ aus „Planet der Affen“ nur neidisch sein
       kann. Die isländische Filmmusik-Frau der Stunde, Hildur Guðnadóttir, hat
       den Score für die [3][Mehrfachmord-Romanze „Joker: Folie à Deux“]
       komponiert und untergräbt dabei die Superheldenfilm-Erwartungen.
       
       ## Irgendwo zwischen Räuberpistole und Selbstfindungsgruppe
       
       Auch [4][„Emilia Pérez“] mit seinem permanenten Druck auf die Tränendrüsen
       passt zu der großartigen Verve, mit der sich das Musical vom Format des
       Melodramas abstößt und irgendwo zwischen Räuberpistole und
       Selbstfindungsgruppe wieder aufkommt – Transitionen auf allen Kanälen.
       
       Für Jacques Audiards opulenten Kartelltrip gab es nun Anfang Dezember nicht
       nur fünf Europäische Filmpreise, sondern er wird auch als bester
       französischer Film für den Oscar eingereicht.
       
       Musik, das zeigt diese Entwicklung, ist als Sprache eben noch universaler
       als Film – was in einer Welt der Sprachverrohung, die Kommunikation
       zwischen Menschen mit unterschiedlichen Ansichten immer schwerer macht,
       doch ein Lichtblick sein könnte.
       
       Auf der anderen Seite spiegeln sich ebenso die durch strukturellen Sexismus
       bedingten, tiefsitzenden Genderungerechtigkeiten in den diesjährigen
       filmischen Werken.
       
       ## Knallt ordentlich, viel Blut
       
       Mit „Blink Twice“ legte Zoë Kravitz einen nach außen
       Raffaello-Werbungs-glänzenden, aber nach innen verrotteten
       Rape-Revenge-Thriller vor, in dem die sexualisierte Gewalt gegen Frauen auf
       der Bildebene endlich einmal nahezu ausgespart wird. Was nicht heißen soll,
       dass es nicht ordentlich knallt. Aber das Blut stammt (fast ausschließlich)
       aus männlichen Körpern.
       
       [5][„The Substance“], ebenfalls mehrfach ausgezeichnet, fährt dagegen
       gleich kiloweise Frauenblut und -innereien auf – in ihrer nicht immer
       konzisen Horrorerzählung versucht Regisseurin Coralie Fargeat, den
       weiblichen Körper als Schlachtfeld für Lookismus und Ageismus abzubilden,
       hat dafür aber die falsche Darstellerin gecastet. Zu glauben, dass
       ausgerechnet die aus Ehrgeiz, Fleiß und Muckis bestehende Demi Moore wegen
       Altersdiskriminierung Jobs verliert, fällt bisweilen schwer.
       
       Dennoch ist der Film ein Schritt auf dem Weg zu mehr weiblichem Genrekino –
       und der matschige Gedärmhaufen, der sich am Ende auf einen
       Hollywood-Walk-of-Fame-Stern schleppt, gehört zu den besten Bildern des
       Jahres.
       
       ## Kitschromanze mit häuslicher Gewalt
       
       [6][„It Ends with Us“, inszeniert von Justin Baldoni] (und damit einem
       Mann), aber basierend auf den Roman von Colleen Hoover, wählt einen
       komplett anderen Weg, um die Situation von Frauen darzustellen: Unter dem
       Deckmantel einer Kitschromanze mit frisch geföhnten
       Model-Schauspieler:innen erzählt er von der Verdrängung häuslicher Gewalt –
       und zwar so gründlich, dass es dem Publikum auch erst ganz allmählich und
       gemeinsam mit der Protagonistin (Blake Lively) dämmert.
       
       Diese Trojanisches-Pferd-Strategie war ein Risiko. Dem Film wurde sein
       Groschenroman-Look vorgeworfen. Doch so schafft er es, sich auch in
       Beziehungen hineinzumogeln, in denen eine solche Verdrängung tatsächlich
       stattfindet. Und das ist dann wieder sehr politisch.
       
       Einige deutsche Filmemacher versuchten sich in diesem Jahr recht
       umständlich und unlustig an humoristischer Gesellschaftskritik („Alter
       weißer Mann“, „Der Spitzname“). Witze über Wokeness fallen zumeist doch
       eher auf den Witzbold selbst zurück – geht es doch schließlich nicht darum,
       was man angeblich „nicht mehr sagen darf“, sondern wieso man es denn
       überhaupt sagen will. Sich über politische Korrektheit so lustig zu machen,
       dass es wirklich lustig ist, kann ohnehin nur Bora Dağtekin.
       
       ## Strenges Dialogprotokoll
       
       Mit [7][Matthias Glasners „Sterben“] gab es aber den gelungenen Versuch,
       einfach einmal alles zu erzählen. Soleen Yusef bestätigte mit „Sieger sein“
       ihre Sensibilität zum Thema Integration. Und dass das als strenges
       Dialogprotokoll inszenierte [8][Vier-Stunden-Werk „Die Ermittlung“] den
       Zeitrahmen und damit die Form sprengte, war mehr als angemessen – wie soll
       ein Film auf Grundlage von Peter Weiss’ Theaterstück über den
       Auschwitz-Prozess sich auch an Vorlagen halten, wo er ein solch monströses,
       die Form sprengendes Verbrechen beschreibt?
       
       Auch Andreas Dresen widmete sich der politischen deutschen Vergangenheit
       und erzählt in „Alles Liebe, deine Hilde“ die berührende Geschichte einer
       Widerstandskämpferin gegen die Nazis. [9][Nora Fingscheidts Drama „The
       Outrun“] porträtierte eine alkoholabhängige Frau, gespielt von Saoirse
       Ronan; genau wie [10][Ed Berger mit „Konklave“, einem Vatikan-Thriller mit
       Ralph Fiennes], weisen beide Produktionen – wie andere – laut und deutlich
       den Weg zu mehr Koproduktion, mehr Internationalität, mehr globalem
       Erzählen.
       
       ## Mohammad Rasoulof floh nach Deutschland
       
       Genau wie die deutsche Oscar-Einreichung, der beeindruckende „Die Saat des
       heiligen Feigenbaums“ – er stammt vom iranischen Regisseur Mohammad
       Rasoulof, der vor der Premiere im Iran zu Gefängnis verurteilt wurde und
       nach Deutschland floh.
       
       Eventuell als Konsequenz aus den vielen Fortsetzungen des Jahres gab es
       außerdem den Versuch, ein neues „Barbenheimer“-Phänomen zu küren – seltsame
       Kofferworte lassen sich besonders gut memesieren. Doch obwohl
       [11][„Gladiator II“] und „Wicked“ Sequel und Prequel sind, die Kinocharts
       im Galopp stürmten und für den klassischen Zwist zwischen dem weiblich
       konnotierten Familien- und Selbstermächtigungsfilm und dem männlich
       konnotierten Actionfilm stehen könnten, klingt „Glicked“ tranig.
       
       Vielleicht müsste man auch langsam mal damit anfangen, angebliche Gräben
       zwischen den Zuschauer:innen beherzt zuzuschütten.
       
       30 Dec 2024
       
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