# taz.de -- Menschenrechtlerin zum Umsturz in Syrien: „Wir Frauen sollten mit am Tisch sitzen und mit entscheiden“
       
       > Die Anwältin Joumana Seif hat von Deutschland aus Syrien für die Zeit
       > nach Assad vorbereitet. Sie sieht mit Hoffnung in die Zukunft – und
       > Sorge.
       
 (IMG) Bild: Wollen nach Hause: Syrische Familien warten am türkischen Grenzübergang Cilvegozu darauf, nach Syrien zu gelangen
       
       taz: Frau Seif, das Assad-Regime ist gefallen. Sie haben als Teil der
       syrischen Zivilgesellschaft seit Jahren auf diesen Moment hin gearbeitet.
       Wie fühlen Sie sich in diesen Tagen? 
       
       Joumana Seif: Ich bin überglücklich, dass wir von diesem Regime befreit
       wurden. Ich habe aber auch Angst. Ich hoffe, ich irre mich, aber ich
       fürchte um all die Grundsätze, für die wir wirklich kämpfen: für Gleichheit
       und Gerechtigkeit, gegen Diskriminierung. Es scheint, als würden die
       Syrer*innen, die gesamte Zivilgesellschaft, von der Entscheidung
       ausgeschlossen.
       
       taz: [1][Hajat Tahrir al-Schams (HTS)] gestaltet jetzt den Übergang. Aber
       Sie sitzen nicht am Tisch. 
       
       Seif: Hoffentlich wird die [2][Exil-Zivilgesellschaft] bald im Lande sein.
       Ich kenne viele Leute, die sich darauf vorbereiten. Wir müssen vor Ort
       sein, damit das Gesamtbild klarer wird.
       
       taz: Der Flughafen in Damaskus soll bald öffnen. Planen Sie selbst, nach
       Syrien zu reisen? 
       
       Seif: Ja, sicher. In ein paar Tagen oder Wochen, nicht mehr.
       
       taz: HTS-Anführer Mohammed al-Jolani hat Mohammed al-Baschir, den
       ehemaligen Premierminister der HTS-Regierung in Idlib, eigenmächtig zum
       Leiter der Übergangsregierung ernannt. 
       
       Seif: Ja, das ist unfassbar! Dafür sind wir, das syrische Volk, nicht auf
       die Straße gegangen. Wir wollen einbezogen werden. Besonders wir Frauen
       sollten mit am Tisch sitzen und mitentscheiden.
       
       taz: Gerade entscheiden die Männer der HTS. Glauben Sie, dass Frauen mit
       diesen Männern an einem Tisch sitzen können? 
       
       Seif: Ja. Ich habe mich noch nie mit einem von ihnen getroffen, um solche
       Dinge zu besprechen. Aber wir sollten auf jeden Fall daran arbeiten, dass
       wir bestimmte Dinge und Bedenken mit ihnen besprechen können.
       
       taz: Welche wären das? 
       
       Seif: Alle müssen vertreten sein. Wir wünschen uns einen Frauenanteil von
       mindestens 30 Prozent und echte Technokrat*innen, die das Land führen –
       nicht die Armee. Eine Armee ist nur dazu da, das Volk und das Land zu
       schützen.
       
       taz: Sind Sie in Kontakt mit HTS? 
       
       Seif: Nein, bisher nicht. Zwar haben einige Kolleg*innen Bekannte oder
       Verwandte, die Kämpfer sind. Aber wir sind nicht offiziell als Bewegung in
       Kontakt.
       
       taz: Glauben Sie denn, die Übergangsregierung wird die Arbeit der
       Zivilgesellschaft einbeziehen? 
       
       Seif: Es ist noch zu früh, das zu beurteilen. Als Momentaufnahme: Bislang
       sind uns keine Verstöße gegen unsere Werte bekannt. Sie haben versprochen,
       [3][Minderheiten zu schützen]. Ihre Kommunikationsform ist bisher gut. Bei
       seiner ersten Fernsehansprache hatte al-Baschir eine Flagge im Hintergrund
       …
       
       taz: Es war eine, die mit sunnitischen islamistischen Gruppen assoziiert
       wird. 
       
       Seif: Es gab Kritik, beim nächsten Fernsehauftritt war sie weg. Das sind
       erste gute Zeichen.
       
       taz: In Ägypten und Libyen wurde eine erfolgreiche Revolution von neuen
       politischen Eliten korrumpiert. Wird das in Syrien anders sein? 
       
       Seif: Ich hoffe, dass wir aus diesen Ereignissen lernen konnten. Wir
       Syrer*innen haben unter dem Diktator und dem Krieg sehr gelitten. Ich
       habe in den letzten Tagen gespürt, dass die Mehrheit sich unbedingt
       politisch einbringen will.
       
       taz: Es gab bis zum Sturz Assads [4][nur eine Partei]. Gibt es Versuche der
       Zivilgesellschaft, neue zu gründen? 
       
       Seif: Nein, bisher gibt es keinen solchen Prozess. Wir diskutieren darüber,
       aber offiziell liegt noch nichts auf dem Tisch.
       
       taz: Syrische Jurist*innen und Akademiker*innen haben an einer
       Verfassung und an Konzepten für den Übergang gearbeitet. Kennt die
       Übergangsregierung diese Konzepte? 
       
       Seif: Das weiß ich nicht. Es ist auch nicht klar, ob sie bereit sind, die
       von uns entwickelten Konzepte und Ideen wirklich umzusetzen. Wir können
       sagen, dass wir als Zivilgesellschaft uns auf die Umsetzung der
       [5][Resolution] 2254 des UN-Sicherheitsrates von 2015 geeinigt haben. Wir
       hatten viele Onlinesitzungen, Diskussionen und Workshops dazu.
       
       taz: Was fordert die Resolution? 
       
       Seif: Einen politischen Übergang unter syrischer Führung, unter Aufsicht
       der UN. Die Resolution integriert das Genfer Kommuniqué: Alle Frauen müssen
       beteiligt werden, der Übergang sollte friedlich verlaufen und es soll eine
       Institution mit voller Autorität geben, um den Übergang zu leiten. Die
       Resolution besagt, [6][dass alle Gruppen der syrischen Gesellschaft am
       Prozess teilnehmen sollen], um das Übergangsgremium zu formen.
       
       taz: Die UN-Resolution schließt die HTS praktisch aus, weil ihre
       Vorgängerorganisation vom Sicherheitsrat als „terroristisch“ eingestuft
       wurde. Als die Resolution verabschiedet wurde, wurde darin al-Assad als
       Teil des politischen Übergangs behandelt. 
       
       Seif: Zu dieser Zeit gab es ein Regime und die Opposition. Jetzt ist Assad
       raus. Aber nicht alle Menschen des Systems haben Syrien verlassen. Um einen
       dauerhaften Frieden zu schaffen, müssen wir all dies ansprechen,
       diskutieren und uns demokratisch einigen.
       
       taz: Die HTS möchte wohl erst mal die alten Staatsbediensteten behalten.
       Also Leute, die zumindest loyal gegenüber dem Regime waren. Wie kann das
       funktionieren? 
       
       Seif: Das Regime ist weg, es gibt keinen Regime-Teil mehr. Es gibt viele
       Technokrat*innen in Syrien, auch wenn sie für die Regierung gearbeitet
       haben. Wir sollten unterscheiden zwischen Leuten, die nur Angestellte und
       nie in die Verbrechen verwickelt waren, und denjenigen, die Blut an den
       Händen haben.
       
       taz: Hunderttausende wurden [7][aus Foltergefängnissen] befreit. Was
       bedeutet das für die Übergangszeit? 
       
       Seif: Wir müssen alle Beweise sichern und die Dokumentation der Fälle
       schützen. Später hängt es von vielen Faktoren ab, wie dieser Prozess
       gestaltet wird. Auch da muss das gemeinsame Interesse des syrischen Volkes
       berücksichtigt werden. Deshalb ist das Konzept der Transitional Justice
       wichtig.
       
       taz: Was bedeutet Transitional Justice? 
       
       Seif: Unrecht aufzuarbeiten und anzuerkennen. Also: Wahrheitsfindung,
       strafrechtliche Rechenschaft und Verantwortung, Versöhnung,
       Wiedergutmachung oder Entschädigung für die Verluste der Menschen. Wir
       haben diese Arbeit in Deutschland begonnen. Der weltweit erste Prozess
       wegen staatlicher Folter in Syrien war in Deutschland, im April 2020, gegen
       zwei ehemalige Regimevertreter. Wir haben die Angriffe auf die
       Zivilbevölkerung dokumentiert und bewiesen, dass Folter, Tötung und
       sexualisierte Gewalt systematisch gegen die Zivilbevölkerung eingesetzt
       wurden. Es laufen noch viele Prozesse, auch in Deutschland. Was die
       Menschen durchgemacht haben, muss von allen anerkannt werden, auch
       offiziell.
       
       taz: Es geht Ihnen um Vergangenheitsarbeit. 
       
       Seif: Ja, die Menschen brauchen Gerechtigkeit, auch indem ihr Schaden und
       Schmerz anerkannt wird. Sonst könnten sie anfangen, Verluste aufzurechnen –
       vor allem die Menschen, die nirgendwohin zurückkehren können, die gewaltsam
       vertrieben wurden. Millionen haben ihre Häuser, ihre Geschäfte verloren.
       
       13 Dec 2024
       
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