# taz.de -- Psychologin über Autismus: „Den Autisten gibt es nicht“
> Bärbel Wohlleben macht sich für die Kommunikation mit Autisten stark. Das
> Beratungs- und Betreuungsangebot in Berlin reiche nicht aus.
(IMG) Bild: Bärbel Wohlleben
taz: Frau Wohlleben, was ist Autismus?
Bärbel Wohlleben: Autismus ist eine besondere Form der Wahrnehmung und der
sozialen Interaktion. Menschen mit Autismus sind über- oder
unterempfindlich in bestimmten Wahrnehmungsbereichen, etwa gegenüber
Geräuschen, Licht oder Berührungen. Viele haben die Fähigkeit, sich Details
zu merken, aber große Schwierigkeiten, Dinge im Zusammenhang zu sehen. Es
kommt zu Verhaltensweisen, die andere nicht verstehen.
taz: Autistische Menschen ticken anders.
Wohlleben: Ja, genau. Wobei das autistische Spektrum sehr groß ist: Das
reicht von Menschen, die gar keine Sprache entwickeln und Probleme bei den
einfachsten Handlungsabläufen im Alltag haben, also eine Rundumbetreuung
brauchen, bis zu Leuten, die sprachlich sehr gewandt sind, aber
Schwierigkeiten in der sozialen Interaktion haben. Den Autisten gibt es
nicht.
taz: Woran lässt sich Autismus festmachen?
Wohlleben: Es gibt drei Faktoren, die für alle autistischen Menschen – in
unterschiedlicher Ausprägung – zutreffen: Einmal sind das kommunikative
Schwierigkeiten, also einen Dialog zu führen, das Gegenüber wahrzunehmen
und sein Verhalten richtig zu interpretieren. Zweitens haben Menschen mit
Autismus Probleme, auf Situationen adäquat zu reagieren. Typisch ist für
Menschen mit Autismus außerdem, dass sie feste Rituale haben und abhängig
sind von geregelten Abläufen und Strukturen.
taz: Was ist die Ursache für Autismus?
Wohlleben: Die genaue Ursache kennen wir nicht. Wir wissen, dass bei
autistischen Menschen das Gehirn anders funktioniert. Bestimmte
Informationen werden bei ihnen anders verarbeitet. Eine Autismusdiagnose
basiert auf genauen Beobachtungen des Verhaltens und der Interaktion sowie
Interviews mit den Eltern und anderen Bezugspersonen.
taz: Zeigt sich Autismus immer schon im Kindesalter?
Wohlleben: Ja. Menschen mit Autismus haben oft schon früh Probleme, mit
ihrem Gegenüber Blickkontakt zu halten. Sie sind oft auf sich bezogen,
reagieren nicht auf Ansprache oder anders als erwartet. Auch gelten sie als
besonders „regelverliebt“. Schon kleinste Veränderungen, etwa im
Kita-Alltag, können sie völlig aus der Bahn bringen. Dass ein autistisches
Kind laut schreit oder vor Wut ausrastet, ohne dass das Umfeld versteht,
warum, gehört zum Alltag.
taz: Was läuft beim Lernen anders?
Wohlleben: Autistische Kinder brauchen sehr klare Ansagen und Strukturen.
Nur über die Sprache funktioniert das häufig nicht. Wenn eine Aussage etwa
auf veränderte Weise wiederholt wird, sorgt das für Chaos im Kopf. Bilder
funktionieren besser, sie sind eindeutig und bleiben gleich. Manche
Lernprozesse finden auch langsamer oder gar nicht statt. Ein Kind, das eine
Schaukel gegen den Kopf kriegt, weiß danach, dass es den Kopf beim nächsten
Mal wegziehen muss. Ein autistisches Kind lernt das auch nach der zweiten
Platzwunde oft nicht. Überhaupt sind ihm Gefahren meist weniger bewusst.
taz: Es ist gesichert, dass Autismus angeboren, also genetisch bedingt ist.
Trotzdem hält sich die Idee, dass die Eltern schuld sind.
Wohlleben: Ja, dieses Eisschrank-Eltern-Konzept, also dass die Eltern
emotional zu distanziert sind und dem Kind nicht genug Fürsorge oder Liebe
geben, hat Generationen von Müttern in die Verzweiflung getrieben. Das ist
völliger Quatsch. Wenn ich ein Kind habe, das mich immer wegdrückt, wenn
ich mit ihm kuscheln möchte, dann höre ich irgendwann auf, dieses Angebot
zu machen. Das ist eine Reaktion auf das autistische Verhalten, nicht die
Ursache.
taz: Sie haben in Berlin einen Verein mitgegründet, der Menschen mit
Autismus unterstützt. Das war 1972.
Wohlleben: Ich hatte mit dem Thema schon während des Studiums zu tun und
bin von ein paar Müttern gebeten worden mitzumachen. Damals gab es wenig
Informationen über Autismus und keine speziellen Einrichtungen. Kinder mit
Autismus hatten keine Unterstützung im Kita- und Schulalltag, sondern
wurden zu Hause beschult. Das wurde dann peu à peu entwickelt. Heute haben
wir zwei heilpädagogische Kita-Gruppen, in der Kinder- und Jugendambulanz
beraten wir Eltern. Ein Schwerpunkt liegt auch in der Beratung von
pädagogischen Fachkräften in Kita und Schule. Wir haben eine Wohnstätte für
Erwachsene und bieten betreutes Einzelwohnen an.
taz: Was hat sich seit der Gründung vor 50 Jahren getan?
Wohlleben: Das Wissen ist deutlich gewachsen, was zu mehr Diagnosen führt
sowie zu der Erkenntnis, dass mit einer gezielten Intervention geholfen
werden kann. Auch gibt es seit 1994 eine eigene Diagnose für das
Asperger-Syndrom. Vorher konnte man „fittere“ Autisten gar nicht
diagnostizieren.
taz: Wie sieht es mit Angeboten für Menschen mit Autismus in Berlin aus?
Wohlleben: Im Vergleich zu 1972 hat sich die Situation natürlich
verbessert. Damals haben sich die Eltern darüber ausgetauscht, wo man einen
Therapeuten findet, der überhaupt bereit ist, ein Kind zu behandeln, das
nicht gradlinig mitmacht. Heute gibt es viele Angebote bei verschiedenen
Trägern. Insgesamt sind es aber viel zu wenig. Für die beiden Kitas habe
ich im letzten Jahr 68 Anfragen bekommen – für acht Plätze. Die 18 Plätze
der Wohnstätte sind dauerhaft belegt, im betreuten Einzelwohnen gibt es
immer wieder Wechsel, aber auch hier ist der Bedarf größer. Die
Beratungsstelle für Erwachsene mussten wir schließen. Es gab keine
Dauerfinanzierung. Und auch unsere Kinder- und Jugendberatung kommt
bezüglich der Beratung an ihre Grenzen, letztes Jahr hatten wir rund 1.200
Beratungen.
taz: Wie steht es um die Frühförderung? Die ist ja gerade bei Kindern mit
Autismus so dringend notwendig.
Wohlleben: Das ist ein großes Problem in Berlin. In den Kitas und Schulen
gibt es nicht genügend Personal. Dieses ist ja so schon völlig überfordert.
Auch gibt es oft keine Räume, in denen sich autistische Kinder zurückziehen
können. Eltern werden heutzutage wieder oft gebeten, ihre Kinder nach zwei,
drei Stunden wieder abzuholen. Häufig fliegen die Kinder auch ganz aus der
Einrichtung. Da waren wir in den 80er, 90er Jahren schon mal weiter.
taz: Gibt es nicht für jedes Kind ein Recht auf Beschulung?
Wohlleben: Kinder mit starken Beeinträchtigungen haben auf jeden Fall
Anspruch auf fünf Stunden Hausunterricht. Wenn sich keine Betreuung findet,
müssen sie zu Hause bleiben.
taz: Die Probleme fangen aber meist schon bei der Diagnose an.
Wohlleben: Ja, eine Autismusdiagnose ist sehr aufwendig, es gibt nur wenig
Psychiater, die das machen. Bei anderen riskiert man Fehldiagnosen. Für
jüngere Kinder wird man meist noch fündig, je älter das Kind, desto
schwieriger wird es. Für einen Erwachsenen einen spezialisierten Psychiater
zu finden, ist fast unmöglich.
taz: Ohne Diagnose gibt es aber keine Hilfe.
Wohlleben: Jedenfalls keine Therapien und pädagogischen Hilfen, die von der
Krankenkasse nicht abgedeckt sind. Unser Verband wird immer wieder bei der
Ärztekammer vorstellig, damit Autismus eine größere Relevanz erhält. Und
auch sonst braucht es bessere Aufklärung bei Leuten, die im medizinischen
und pädagogischen Bereich arbeiten. Auch, weil es ja immer mehr Betroffene
gibt.
taz: Wieso, gibt es heute mehr Menschen mit Autismus?
Wohlleben: Anfang der 1970er war es ein sehr seltenes Erscheinungsbild, da
war eine von 10.000 Geburten betroffen. Heute ist es eine von 100. Der
Grund dafür ist einmal, dass man heute genauer hinschaut, also mehr Fälle
entdeckt werden und sich das Diagnosespektrum erweitert hat. Mit Genetik
hat das aber auch zu tun, Autismus wird in der Familie weitergegeben,
multipliziert sich also.
taz: Bei einem Prozent kann man nicht mehr von einem Randphänomen sprechen.
Wohlleben: Zumal man davon ausgehen kann, dass es eine große Dunkelziffer
gibt. Es gibt viele Menschen, die erst im Erwachsenenalter feststellen,
dass sie Probleme, etwa in der sozialen Interaktion und Kommunikation
haben. Heutzutage sind ja gerade die „soft skills“ so wichtig im Beruf.
Auch Frauen sind nach wie vor unterdiagnostiziert, weil viele
Verhaltensweisen,wie Schüchternheit, Nicht-Angucken-Mögen, mit weiblichen
Attributen assoziiert sind. Außerdem sind Fragebögen meist an männlichen
Klienten evaluiert.
taz: Was raten Sie, was sollten wir im Umgang mit Menschen mit Autismus tun
oder lassen?
Wohlleben: Eindeutige Kommunikation ist das A und O. Wir reden oft sehr
verschnörkelt und indirekt. Eine Frage wie „Haben Sie die Uhrzeit?“ würde
ein Autist mit Ja beantworten und basta. Zu viel Information ist auch nicht
gut. Fragen wie etwa „Wie geht es dir?“ können verunsichern, autistische
Menschen haben ja ein Wahrnehmungsproblem. Manche empfinde nicht mal Hunger
und Durst.
taz: Und das, was wahrgenommen wird, stellt sich bei ihnen ganz anders als
bei mir dar. Das muss ich also immer auf dem Schirm haben.
Wohlleben: Richtig. Eine leichte Berührung kann wie ein Affront rüberkommen
und eine verärgerte Reaktion auslösen. Das darf man nicht persönlich
nehmen. So wie man damit klar kommen muss, dass autistische Menschen einem
direkt ins Gesicht sagen, was sie denken. Ich muss mir zum Beispiel oft
anhören, dass ich schon sehr alt bin. (lacht)
taz: Sie scheinen diese direkte Art zu mögen.
Wohlleben: Ja, ich finde diese Menschen einfach klasse. Es ist aber auch
anstrengend, weil man ständig aus seiner Komfortzone geholt wird.
30 Oct 2024
## AUTOREN
(DIR) Karlotta Ehrenberg
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