# taz.de -- Protokolle aus dem Libanon: „Wir sind überwältigt“
       
       > Noch hat die israelische Bodenoffensive im Libanon nicht begonnen, doch
       > schon jetzt leidet die Bevölkerung. Betroffene berichten aus ihrem
       > Alltag.
       
 (IMG) Bild: Binnenvertriebene versammeln sich am Samstag in Beirut auf dem Märtyrerplatz
       
       ## Alaa B., 42, Arabischlehrer
       
       ist Syrer und lebt mit seiner Frau und zwei Söhnen im Alter von 13 und 5 in
       Beirut, in einem christlich geprägten Viertel. Seine erweiterte Familie
       lebt in den Golanhöhen in Syrien. Nach Angaben der UNO flohen 50.000
       Menschen ins benachbarte Syrien, Syrer*innen und Libanes*innen. Das Land
       befindet sich noch immer im Krieg. Rückkehrenden Syrer*innen droht durch
       das Assad-Regime sexueller Missbrauch, Folter und Verschwindenlassen.
       
       Meine Frau und mein älterer Sohn haben wie ich den Krieg in Syrien
       miterlebt. Und ich glaube nicht, dass sie es überwunden haben. Bei jedem
       Knall haben sie große Angst. Wenn wir einen Jet oder Explosionen hören,
       kommen die Erinnerungen an die Bombardierung unseres Dorfes hoch. Sogar
       mein kleiner Sohn, der hier geboren ist, hat Angst vor Feuerwerk und nun
       auch dem Geräusch von Bomben. Er ist immer sehr gestresst. Die Kinder
       rennen weg und fangen an zu zittern, sie werden blass im Gesicht. Meine
       Frau zittert auch jedes Mal. Die Kinder fragen mich: Wo ist die Bombe
       eingeschlagen? Sie fühlen sich ganz in der Nähe an, auch wenn sie weiter
       weg sind. Die alten Häuser wackeln. Wir fühlen uns hier nicht sicher.
       
       Wir sind gestresst, besorgt, ängstlich. Überwältigt von den Nachrichten.
       Nachdem wir Syrien verlassen hatten, dachten wir, dass wir hier keinem
       Stress mehr ausgesetzt sein würden. Aber dann ist so viel passiert: Die
       Hafenexplosion, das Erdbeben und die Eskalation. Das passiert hier im
       Libanon jedes Jahr: Stress. Kein Stress, Stress. Das ist schon sehr
       ermüdend. Auf einer Pressekonferenz hat der Innenminister gesagt, dass die
       Priorität bei der Hilfe auf den Libanes*innen liegt. Das macht mich
       wirklich sehr wütend, dass sie uns selbst im Krieg voneinander trennen. Ich
       habe Essensvorräte gekauft: Kichererbsen für Hummus, Mehl, etwas Gemüse,
       das nicht so schnell schlecht wird. Und Milch für die Jungs. Wir sind es
       gewohnt, Vorräte für den Krieg anzulegen. Das haben wir auch in Syrien
       gemacht. Nicht viel, maximal für eine Woche. Wir können noch täglich Brot
       kaufen. Während ich spreche, bin ich in der Küche, damit die Kinder das
       nicht hören. Wir versuchen, dem täglichen Leben nachzugehen, den Stress
       unseren Jungs nicht zu zeigen. Aber sie merken es.
       
       Ich mache Spaziergänge mit den Jungs durch die Nachbarschaft. Wir hören
       Lieder, singen, malen, schauen Zeichentrickfilme. Aber um ehrlich zu sein,
       bin ich nicht in der Lage, mit der Situation umzugehen. Meine Gedanken
       drehen sich. Ich schaue viel Nachrichten. Hier in Beirut sollte es sicher
       sein für meine Kinder, zur Schule zu gehen. Aber sie wollen kein Risiko
       eingehen. Sowieso ist die Schule erst mal zu, bald wird es wohl nur
       Online-Unterricht geben. Schon bevor dieser große Krieg begann, haben wir
       überlegt, ob wir den Libanon verlassen, weil wir bald das Schulgeld nicht
       mehr bezahlen können. Ich arbeite in diesen Tagen nicht viel. Ich habe eine
       Unterrichtsstunde pro Woche oder zwei. Ich bin von Ausländern abhängig, und
       die meisten von ihnen sind weggegangen. Es ist schwer für Syrer, eine
       Arbeit zu finden. Ich hatte jahrelang eine Aufenthaltsgenehmigung, aber die
       Behörde weigert sich, die Genehmigungen für alle Syrer*innen zu
       verlängern. Also haben wir überlegt, ob wir die Jungs aus der Schule nehmen
       und sie zurück nach Syrien schicken oder ob ich mit ihnen gehe. Vielleicht
       diesen Monat, vielleicht den nächsten Monat, ich weiß es nicht. Ich wollte
       nie daran denken, wieder nach Syrien zurück zu müssen. Es ist ein
       angsteinflößender Gedanke. Nun sind wir gezwungen, uns damit
       auseinanderzusetzen. Nach Syrien zu gehen ist ein großer Schritt und wir
       wollen das nicht hinterher bereuen und sagen müssen: Im Libanon war alles
       einfacher als in Syrien. Bei allem, was hier passiert, ist es immer noch
       okay für uns im Libanon. Besser als in Syrien. Wie oft sollen wir
       vertrieben oder bombardiert werden?
       
       Wir denken auch an Europa, die westlichen Länder und fragen uns, warum sie
       das zulassen. Im Libanon, in Palästina und woanders: Wie können sie es
       wagen, mitten in Beirut zu bombardieren, Häuser und Moscheen zu
       bombardieren und Zivilist*innen zu töten, wie sie es in Gaza tun? Und
       sie kommen damit davon! Niemand wird sie dafür verantwortlich machen.
       
       Angesichts der Zerstörung glaube ich nicht, dass die Menschen so bald in
       ihre Häuser zurückkehren können, aber wir hoffen, dass zumindest das Töten
       von allen Seiten aufhört. Für uns persönlich weiß ich nicht, was ich hoffen
       soll. Ob im Libanon oder in Syrien: Wir brauchen einfach ein anständiges
       Leben, ein normales Leben, ohne all den Stress und Unsicherheit.
       
       ## Baraa, 28, Mitarbeiterin von Save the Children im Libanon
       
       möchte aus Sicherheitsgründen ihren Nachnamen nicht nennen. Save the
       Children hat Matratzen, Decken, Kissen, Wasser und andere Hilfsgüter an
       fast 5.000 Menschen in 30 Notunterkünften im ganzen Land verteilt. Die
       Organisation schätzt, dass rund 1,5 Millionen Kinder von Schulschließungen
       betroffen sind. 
       
       Ich habe zwei der Sammelunterkünfte besucht, die wir derzeit unterstützen.
       Diese Unterkünfte sind Schulen, und die Familien leben in Klassenzimmern.
       Sie mussten stundenlang fahren, um sich vor den Bombenangriffen und dem
       Terror in ihren Heimatstädten und Dörfern in Sicherheit zu bringen. Die
       Menschen sind geistig, körperlich und seelisch erschöpft. Es herrscht ein
       Gefühl der Angst und Verzweiflung. Die Erwachsenen sind besorgt und
       frustriert, während die Kinder mit besorgten Augen daneben stehen und die
       Angst ihrer Eltern widerspiegeln und verstärken.Wenn ich mich umschaue,
       sehe ich Menschen auf Gehwegen sitzen. Einige sitzen im Schatten. Sie
       sitzen draußen, um etwas frische Luft zu schnappen oder einfach nur ein
       paar Momente der Ruhe zu finden. Denn die Räume sind überfüllt. Die
       Klassenzimmer sind zu Zimmern umfunktioniert, in denen die Menschen
       untergebracht sind. Sie sind sicher nicht dafür ausgelegt, dass Menschen
       dort unterkommen – vor allem nicht so viele, in jedem Zimmer sind mehr als
       zehn Personen.
       
       Ich habe mit mehreren Familien gesprochen, und obwohl sie für die
       Unterstützung dankbar sind, bleiben viele ihrer Grundbedürfnisse unerfüllt.
       Sie können nicht duschen oder ihre Wäsche waschen, in den Badezimmern
       fehlt es an nötiger Ausstattung. Einige mussten in nahe gelegene Gebiete
       fahren, nur um sich und ihre Kinder zu baden. Die Eltern sind besorgt
       darüber, dass sich möglicherweise Krankheiten ausbreiten können, und
       darüber, wie lange sie unter diesen Bedingungen bleiben müssen. Sie machen
       sich ganz allgemein Sorgen um ihre Kinder. Sie sind widerstandsfähig und
       stark, trotzdem lastet die Ungewissheit schwer auf ihnen. Sie sind dankbar,
       dass sie vorübergehend Schutz und Unterkunft gefunden haben, aber die
       drängenden Fragen lauten: Wie lange werden sie hier bleiben? Wie können sie
       unter so schwierigen Bedingungen für die Gesundheit und das Wohlergehen
       ihrer Familie, insbesondere ihrer Kinder, sorgen?
       
       ## Farah Hijazi, 27, Masterabsolventin in Internationaler Wirtschaft
       
       Sie ist im Libanon geboren und aufgewachsen, vor Kurzem hat sie ihr
       Masterstudium in Mainz abgeschlossen. Ihre Eltern leben im Dorf Lebaa, ihr
       Cousin in Tyros, viele Freunde in Saida.
       
       Während wir sprechen, musste meine Tante aus ihrem Haus in dem Ort Joun
       fliehen, weil Israel ein Nachbarhaus bombardiert hat, in dem geflohene
       Familien Zuflucht gefunden hatten. Sobald ein Dorf bombardiert wird, ist es
       vom Internet abgeschnitten. Ich habe den Kontakt zu mehreren Mitgliedern
       meiner Familie verloren, weil sie im Süden leben. Meine ganze Familie lebt
       im Süden.
       
       Die Medien sollten aufhören, diese Leute als islamische Terroristen der
       Hisbollah zu bezeichnen. Ich möchte betonten: Meine Eltern leben in einem
       Gebiet mit christlicher Mehrheit. Mein Cousin, der schwul ist, musste aus
       seinem Haus fliehen, weil es von Israel bombardiert wurde.
       
       Ich bin eine offene und stolze Queer-Libanesin. Ich möchte das sagen, weil
       die Wahrscheinlichkeit, von Israel getötet zu werden, als queere
       libanesische Araberin, viel höher ist als von jeder anderen „radikalen
       Gruppe“ wie beispielsweise der Hisbollah. Ich halte nichts von Religion.
       Ich verteidige keine terroristische Organisation. Doch wie können wir alle
       Menschen als islamistische Terroristen bezeichnen? Es ist erschreckend,
       dass wir einen Punkt erreicht haben, an dem wir ein Kind namens „Mohamad“,
       das bei einem Luftangriff getötet wird, als Kollateralschaden betrachten.
       
       Die jüngsten Pager-Anschläge im Libanon haben mich in einen Schockzustand
       versetzt. Es fiel mir schwer, meine Gefühle zu verarbeiten, wenn mich Leute
       fragten, wie es mir geht. Ich musste meinen Therapeuten anrufen, damit er
       mir hilft, das Geschehene zu verarbeiten. Danach wurde ich körperlich krank
       und blieb zwei Tage lang im Bett. Als ich die deutschen Nachrichten und
       Medien las, die die Anschläge lobten, war ich entsetzt und paranoid, und
       das war der Tag, an dem mir klar wurde, dass ich mich in Deutschland nicht
       sicher fühle.
       
       Der jüngste Krieg im Libanon hat schmerzhafte Erinnerungen an den
       israelischen Krieg im Jahr 2006 wachgerufen. Als ich 9 Jahre alt war, wurde
       ich Zeuge der verheerenden Auswirkungen des Krieges. Ich sah Leichen,
       Kinder und Familien, die bombardiert wurden, und UN-Unterkünfte, die
       angegriffen wurden. Seit 2006 habe ich eine komplexe posttraumatische
       Belastungsstörung. Bestimmte Auslöser, wie das Geräusch von Hubschraubern,
       können zu Panikattacken führen. Ich habe zum Beispiel nachts Panikattacken,
       weil ich in der Nähe eines Krankenhauses wohne, in dem rund um die Uhr ein
       Hubschrauber fliegt.
       
       Ich fühle ein tiefes Gefühl der Abwesenheit und Machtlosigkeit, während
       mein Land unvorstellbare Verwüstungen erleidet. Obwohl ich physisch weit
       weg bin, ist mein Herz bei meinen Lieben, und meine Gedanken drehen sich um
       ihre Sicherheit inmitten des unerbittlichen Chaos. Der Schrecken der
       gewalttätigen israelischen Luftangriffe auf Zivilist*innen hat in mir
       ein Gefühl der Leere hinterlassen, als wäre ich von meinem eigenen Körper
       losgelöst und in einem surrealen Albtraum gefangen. Jede Nachricht belastet
       mich und bringt Wellen von Angst, Trauer und Verzweiflung mit sich. Ich bin
       überwältigt von einem tiefen Gefühl der Ungerechtigkeit.
       
       Ich hoffe auf einen Waffenstillstand und ein Ende der Besatzung, der
       Kolonisierung, der radikalen Gruppen, des israelischen Pinkwashings und der
       Entmenschlichung der Araber*innen in den Medien.
       
       ## Nour Noureddine*, 29, Chemieingenieurin
       
       ist in der Dahie, einem schiitisch geprägten Wohnviertel in Beirut,
       aufgewachsen. Am Freitag, 20. September, war sie in Beirut, als israelische
       Raketen in einem Wohnhaus in der Nachbarschaft einschlugen. Die Hisbollah
       bestätigte, dass dabei zwei hochrangige Kommandeure getötet wurden. Das
       libanesische Gesundheitsministerium zählte 37 Tote, darunter Frauen und
       Kinder. Noureddin* wohnt und arbeitet in Frankreich. Sie möchte ihren
       Klarnamen nicht nennen. 
       
       Die vergangene Woche war die Hölle. Der Anschlag am Freitag war sehr nahe
       an unserem Haus. Mein Bruder und ich waren gerade in einem Einkaufszentrum
       in Beirut, als meine Mutter mich verzweifelt angerufen hat. Sie sagte, dass
       eine Bombe neben ihnen eingeschlagen ist und wir sofort nach Hause kommen
       sollen. Ich habe eine Panikattacke bekommen. Mein Bruder und ich sind
       hektisch umhergelaufen. Wir wussten einfach nicht, was wir tun sollen.
       
       Meine Mutter rief nochmals an, nach 15 Minuten haben wir beschlossen,
       zurück nach Hause zu fahren und bei ihr zu sein – auch wenn es vielleicht
       nicht sicher ist. Danach haben wir am Fernseher geklebt und gesehen, wie
       jede Minute die Zahl der Toten und Vermissten nach oben korrigiert wurde.
       Es ist ein Albtraum. Wir wissen nicht, wann die nächste Bombe fallen wird
       und wo. Ja, es hat Hisbollah-Mitglieder getroffen, aber auch
       Zivilist*innen. Wenn sie Hisbollah-Mitglieder töten, töten sie auch sehr
       viele Zivilist*innen. Das ist die Doktrin des israelischen Militärs.
       
       Meine Eltern sind aus ihrem Zuhause in Beirut geflüchtet, in eine Gegend im
       Norden, wo Christen leben. Dort waren sie erst mal sicher. Am Mittwoch habe
       ich in den Nachrichten gesehen, dass Orte angegriffen wurden, an denen
       Christen leben. Jetzt habe ich Angst, dass eine Bombe vielleicht in der
       Nähe meiner Eltern explodiert.
       
       Ich selbst konnte mit einem teuren Flug ausfliegen. Ich bin ängstlich,
       sorge mich und bin sehr traurig. Ich habe das Gefühl, verloren zu sein.
       Wir wissen nicht, was morgen passieren wird. Ich könnte im Handumdrehen
       meine Familie verlieren. Ich habe das Gefühl, nicht lachen zu können. Ich
       habe kein Recht, mich zu freuen, weil so viele Menschen gestorben sind.
       
       Wie komme ich damit zurecht? Indem ich jeden Tag meine Eltern anrufe, um
       mich zu vergewissern, dass sie am Leben sind. Meine Mutter ist eine starke
       Frau. Wenn ich sie lächeln sehe – trotz allem –, gibt mir das Kraft. Ich
       verfolge jeden Tag die Nachrichten, um zu sehen, wo attackiert wird und ob
       es in der Nähe meiner Familie ist. Und ich schaue, ob es irgendeine
       Intervention des Westens, der UNO oder irgendeiner Organisation gibt, die
       diesen Krieg stoppen kann.
       
       29 Sep 2024
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Julia Neumann
       
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