# taz.de -- Eskalation zwischen Israel und Libanon: Einfach überleben wollen
       
       > Zehntausende Menschen fliehen aus dem Südlibanon Richtung Beirut, wo die
       > israelische Armee Luftangriffte ausübt. Über eine Krise, die nie vorbei
       > war.
       
       Überall im Straßenbild von Beirut sind sie derzeit zu sehen: Matratzen,
       manchmal dick, strahlend weiß und in Plastik verpackt, manchmal schmal und
       dünn, mit buntem Stoffbezug. Die dicken Matratzen werden auf Autodächern
       transportiert, fixiert durch die Hände der Fahrer und Beifahrer. Die dünnen
       Matratzen lassen sich sogar auf dem Motorroller fortbewegen: Über den
       Köpfen. Wer hinten sitzt, hält fest.
       
       [1][Über 90.000 Menschen] sind nach Angaben der Vereinten Nationen in den
       vergangenen Tagen vor den Luftangriffen des israelischen Militärs aus dem
       Südlibanon und der östlichen Bekaa-Ebene geflohen. Über 550 Menschen kamen
       dabei ums Leben, mehr als 1.500 wurden verletzt. Wer geflohen ist, hat oft
       kaum etwas dabei, manche nur die Kleidung, die sie am Körper tragen.
       Matratzen, auf denen man bei Verwandten und Freunden, in den über Nacht zur
       Notunterkunft gewordenen Schulen oder auf dem Boden teurer Ferienhäuser
       schlafen kann, sind der wohl sichtbarste Ausdruck der Not.
       
       Auch Mohammad, der nur seinen Vornamen nennen möchte, muss nun Matratzen
       kaufen: 25 Menschen, Verwandte seiner Ehefrau aus dem Süden, schlafen
       derzeit in seiner Drei-Zimmer-Wohnung. Dazu kommen er selbst, seine Frau
       und die beiden Töchter. Für fünf Familien sei er nun verantwortlich, sagt
       Mohammad.
       
       Auf dem Parkplatz des Restaurants in Khalde, einem Vorort südlich Beiruts,
       steckt er sich eine Zigarette an. In normalen Zeiten arbeitet er hier als
       Lieferfahrer. Es sei einer von drei Jobs, denen er nachgehe, um seine
       Familie zu ernähren. Doch in dieser Woche läuft der Betrieb nicht gut. Nur
       wenige Menschen kommen zum Essen, obwohl das Lokal direkt an der Autobahn
       liegt, die aus dem Süden des Landes nach Beirut hineinführt. Auszuliefern
       gibt es auch nicht viel. Der Besitzer, sagt Mohammad, denke nun darüber
       nach, den Laden einige Tage zu schließen.
       
       Die Sorge vor wirtschaftlicher Not treibt den Familienvater um. Am Morgen
       habe er für alle nun bei ihm wohnenden Verwandten Frühstück besorgt. „Für
       25 US-Dollar!“, für ihn eine große Summe.
       
       Mohammad ist selbst Mitglied in der Gruppe, die für seine derzeitige Lage
       große Mitverantwortung trägt: Er ist Mitglied der Hisbollah, aber kein
       kämpfendes. Seinen Handrücken ziert das Tattoo eines Löwenkopfes, doch
       sein T-Shirt spannt sich über einen gemütlichen Bauch. Trotz der Kinder,
       der 25 geflohenen Verwandeten in seiner Wohnung, von der Hisbollah kann er
       wohl kein Geld erwarten. Bald solle sie aber mit der Auslieferung von
       Lebensmittelpaketen an ihre bedürftigen Anhänger beginnen, sagen Kenner der
       Gruppe.
       
       Er ist zwar Mitglied der libanesischen Miliz, hat aber keinen libanesischen
       Pass: Mohammad ist als Sohn eines Palästinensers und einer
       schiitisch-libanesischen Mutter aufgewachsen. Da die Staatsbürgerschaft im
       Libanon nur über den Vater weitergegeben kann, sind sowohl er als auch
       seine beiden Kinder keine Bürger ihres Heimatstaates – sondern
       [2][palästinensische Flüchtlinge]. Auf die Frage, wie es ihm derzeit gehe,
       vermag Mohammad kaum zu antworten. Er zuckt mit den Schultern und zieht an
       seiner Zigarette.
       
       Viele Menschen im Libanon scheinen in den Überlebensmodus gewechselt zu
       haben. Permanent trudeln Bilder und Videos aus dem Süden und der
       Bekaa-Ebene auf den Smartphones ein: Das dumpfe Dröhnen der Explosionen,
       dunkle, dichte Rauchwolken, das Blut der Toten und Verletzten. In den
       Wohnungen und Geschäften laufen die Fernseher pausenlos. Es gibt beinahe
       nur noch ein Gesprächsthema: den Krieg.
       
       Nach dem [3][Überfall von Hamas-Kämpfern auf Israel am 7. Oktober 2023]
       wurde auch der Libanon schnell zum Kriegsgebiet. Lange Zeit beschränkten
       sich die Kämpfe, die das israelische Militär und die vom Iran unterstützte
       Schiiten-Miliz Hisbollah miteinander führen, größtenteils auf den
       Südlibanon und auf Nordisrael. Dabei schießt die Hisbollah
       Anti-Panzer-Waffen, Raketen und Drohnen Richtung Süden, Israel fliegt
       Luftangriffe, nach eigenen Angaben [4][vor allem auf militärische
       Infrastruktur der Hisbollah].
       
       Ende Juli schlug eine Rakete – mit großer Wahrscheinlichkeit abgeschossen
       von der Hisbollah – auf einem Spielplatz auf den von Israel annektierten
       Golanhöhen ein. Sie tötete zwölf drusische Kinder. Kurz darauf tötete
       Israel bei einem Luftangriff in einem südlichen Vorort der libanesischen
       Hauptstadt Beirut den Hisbollahkommandeur, den es dafür verantwortlich
       machte: Fuad Schukr. Sein Konterfei, den Blick ruhig in die Ferne
       gerichtet, hängt heute auf Märtyrerplakaten an vielen Straßenlaternen von
       Dahieh, wie die südlich gelegenen und schiitisch geprägten Vororte
       zusammengefasst genannt werden.
       
       Die Hisbollah schlug zurück, wenn auch weniger extrem, als Analysten
       zunächst teilweise befürchtet hatten. Aber von beiden Seiten nahmen die
       Angriffe zu, bis Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu Mitte
       September ein neues Kriegsziel ankündigte: Die über 60.000 aus dem Norden
       Israels Evakuierten [5][sollen zurückkehren können]. Dafür muss sich – so
       die israelische Auffassung – die Hisbollah hinter den Fluss Litani
       zurückziehen. Der verläuft im Abstand von etwa 20 Kilometern teilweise fast
       parallel zur Grenze durch den Südlibanon und ist immer wieder Thema, wenn
       es darum geht, wie weit die Hisbollah zurückweichen müsse.
       
       ## Eine Resolution ohne viel Wirkung
       
       Der Konflikt zwischen Hisbollah und Israel eskalierte zuletzt im Jahr 2006.
       Damals marschierte das israelische Militär in den Südlibanon ein, in
       Südbeirut kämpfte es vor allem mit Luftschlägen. Insgesamt starben etwa
       1.200 Libanesinnen und Libanesen und 165 Israelis.
       
       Den Krieg beendete die Resolution 1701 des UN-Sicherheitsrats. Sie sah vor,
       dass die Hisbollah sich von der Grenze bis hinter den Litani zurückzieht
       und ihre Waffen abgibt. Die libanesische Armee sollte künftig die einzige
       Streitkraft im Lande sein. Stattdessen rückte die Hisbollah noch weiter an
       Israel heran, teils bis auf Sichtweite. Ihre militärischen Kapazitäten
       baute die Organisation aus. Über 150.000 Raketen, darunter solche mit
       Reichweite bis südlich von Tel Aviv, soll die Hisbollah heute besitzen.
       
       Auch Israel hielt sich nicht an seinen Teil der Abmachung. Zwar zog das
       Land seine Bodentruppen ab, verletzte aber weiterhin immer wieder den
       libanesischen Luftraum.
       
       Zu keinem Zeitpunkt [6][übte die Internationale Gemeinschaft genug Druck
       auf die beiden Parteien aus], um die Umsetzung der Resolution zu erzwingen.
       Sie war letztlich nur eine 18 Jahre anhaltende Pause. Die damals nicht
       erfüllten Forderungen sind wieder aktuell. Und wieder steht eine
       Bodenoffensive Israels im Raum, zusätzlich zu den massiven Luftangriffen.
       
       ## Leben mit Raketen
       
       An den Krieg 2006 erinnert sich auch Michel noch lebhaft, erzählt er. Auch
       er möchte nur seinen Vornamen nennen. Er lebt in Ain El Remmaneh, ebenfalls
       ein Vorort im Süden Beiruts. Zu Dahieh gehört Ain El Remmaneh aber nicht –
       im Gegenteil. Das Viertel wird vor allem von libanesischen Christen
       bewohnt. Von ihnen sind zumindest Teile erklärte Gegner der Hisbollah. So
       auch Michel. Unterhalten möchte er sich auf Französisch – und entspricht
       damit einem gängigen Klischee über libanesische Christen. Sie gelten oft
       als gebildeter und wohlhabender als der Schnitt des Landes.
       
       Von seiner Wohnung in Ain El Remmaneh, sagt Michel, habe er 2006 die
       Einschläge der Raketen hören können. Der Stadtteil liegt nur wenige Minuten
       Autofahrt entfernt von Haret Hreik und Ghobeiry – dem Teil von Dahieh, wo
       die jüngsten israelischen Luftangriffe auf Südbeirut erfolgten.
       
       Seit vergangenem Oktober gab es sechs solcher Luftangriffe, alle dienten
       nach israelischen Angaben dem [7][gezielten Töten von höherrangigen
       Hisbollahmitgliedern]. Gehört habe er von den Einschlägen bisher nichts,
       sagt er, trotz der geringen Distanz zu seinem Zuhause. Auch die Bilder von
       den Angriffsorten lassen auf gezielte Attacken schließen: Meist ist nur
       eine Wohnung oder ein Stockwerk zerstört, während der Rest des Gebäudes
       noch steht.
       
       Doch die Bilder zeigen auch viele Trümmer auf dem Boden und komplett
       zerstörte Fahrzeuge. Trotz der präzisen Angriffe kommen Zivilisten ums
       Leben. Bei dem Luftangriff auf Fuad Schukr im Juli waren es mindestens
       vier.
       
       Zwischen den Vororten Ain El Remmaneh und Haret Hreik und Ghobeiry liegen
       Welten – zumindest, wenn man Michel zuhört. Die Christinnen und Christen
       seien „la racine“, die Wurzel des Landes, und die einzigen im Libanon,
       denen wirklich an dem Zedernstaat gelegen sei, findet Michel. Der Iran
       wiegele die Schiiten auf, die Türkei und Saudi-Arabien die Sunniten.
       
       Immer wieder bricht unter den Religionsgemeinschaften im Libanon der
       Konflikt aus. Schon im Bürgerkrieg zwischen 1975 und 1990 kämpften viele
       Sunniten, Schiiten und Christen gegeneinander. Zuletzt eskalierte der
       Konflikt zwischen dem christlichen Ain El Remmaneh und dem benachbarten
       Chiyah – ebenfalls Teil von Dahieh – im Oktober 2021. Bei einer Schießerei
       von Hisbollahmitgliedern und der ebenfalls schiitischen Amal-Miliz auf der
       einen sowie Christen auf der anderen Seite starben sieben Menschen, dreißig
       wurden verletzt.
       
       Wie bei vielen anderen sitzt auch bei Michel die Abneigung tief. Als am
       Montag die ersten Menschen aus dem Südlibanon in Beirut ankommen, versuchen
       sie auch in Ain El Remmaneh Unterkünfte zu finden. Während manche sich
       entscheiden, ihre Wohnungen zu vermieten, findet Michel: „Sie haben ihre
       Gebiete. Warum müssen sie nach Ain El Remmaneh ziehen?“ Am letzten Montag
       gab es einen Zwischenfall, über den libanesische Medien und auch Michel
       berichten: Ein Mann, angeblich ein Mitglied der Hisbollah, versuchte dort
       unterzukommen – und wurde vertrieben.
       
       Manche christlichen Parteien koalieren heute mit dem Parteiflügel der
       Hisbollah – was ihnen Macht verleiht und sie an die Regierung bringt. Für
       Michel ein Fehler.
       
       Schon im Bürgerkrieg hatten sich Teile der Christen im Libanon an die Seite
       Israels gestellt. Bis sie im Jahr 2000 abzogen, kontrollierte das
       israelische Militär fast 20 Jahre lang eine Sicherheitszone – oder
       Besatzungszone – im Südlibanon. Heute reklamiert die Hisbollah für sich,
       dass sie die „Besatzungsmacht“ von dort vertrieben und die territoriale
       Integrität des Libanon wiederhergestellt habe.
       
       Ob Israel heute ein guter Partner für den Libanon sein könnte, könne er
       nicht beurteilen, sagt Michel. Sicher ist er sich aber darin, dass die
       Hisbollah das Land zerstöre.
       
       Er habe Sorge, dass die Wirtschaft beeinträchtigt werde, dass er und seine
       christlichen Kameraden ihre Jobs verlieren. Der Krieg selbst ängstige ihn
       weniger. In Ain El Remmaneh gebe es keine Hisbollah und deswegen auch
       keinen Grund für Israel, das Gebiet anzugreifen. Statt den wehenden Fahnen
       der Hisbollah oder der Amal dominieren das Straßenbild hier Statuen der
       Jungfrau Maria und leuchtende Kreuze.
       
       ## Viele offene Fragen
       
       Trotz seiner Überzeugung, in seinem Zuhause sicher zu sein, weiß Michel
       nicht, wie es nun weitergeht – genauso wie Mohammad. Kommt die
       Bodenoffensive? Hält der Luftkrieg an? Wird es einen Waffenstillstand,
       vielleicht sogar dauerhaft geben? Und wenn ja, zu welchem Preis?
       
       An einer Straße, irgendwo zwischen Michel in Ain El Remmaneh und Mohammad
       im Süden von Beirut, fahren zwei Autos entlang – ein teurer Geländewagen,
       und ein heruntergekommener Minilaster. Auf beiden Dächern sind Matratzen
       befestigt.
       
       27 Sep 2024
       
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