# taz.de -- Bayerisches Essen: Schweizer Käse, rohe Leber
       
       > Die Mutter unseres Autors propagiert Obstquark und Sanostol, der Vater
       > isst bayerisch derb. Eine Kindheit zwischen Essensgenuss und
       > Nahrungsaufnahme.
       
 (IMG) Bild: Gegensätze aus bayerischer Küche
       
       Knapp die Hälfte aller italienischen Kinder bekommt bereits im Alter von
       vier Jahren ein Pastagericht serviert, an das sie sich als Erwachsene noch
       erinnern können. Das ergab 2018 [1][eine Studie der „Associazione delle
       industrie del Dolce e della Pasta Italiane“] – da allein bekommt man ja
       schon Appetit.
       
       Bei mir und nördlich der Alpen setzt die Erinnerung leider nicht mit
       Nudeln, sondern mit Vollkornbrot ein. Meine Mutter hatte kein
       Zubereitungsbedürfnis nach leckeren Speisen, sondern eines nach Rohstoffen:
       Vollmilch, Butter, Joghurt, Rindfleisch, frisches Obst – das waren die
       Köstlichkeiten, die sie in ihrer Nachkriegskindheit bitter vermisst hatte
       und mit denen meine Brüder und ich nun durch die 60er und 70er Jahre des
       vergangenen Jahrhunderts gefüttert wurden.
       
       Manche Dinge wie dünne Streifen rohe Leber (Eisen!) waren eklig, der mit
       Honig angerührte Apfelessig (Vitamine!) ging so, und eine Zeitlang gab es
       sogar Sanostol, ein im Wesentlichen aus Zucker bestehendes
       „Multivitaminpräparat“. Eben als meine Mutter das abschaffte, entdeckte ich
       das Versteck des ähnlich süßen und stark alkoholhaltigen Kinderhustensafts
       im Schrank – zum Akademiker hat’s trotzdem gereicht.
       
       Und dann gab es noch meinen Vater: Während meine Mutter uns nach 90 Minuten
       abendlichem Training im Schwimmverein selbst gemachten Obstquark servierte
       (aber immerhin durfte man dazu „Die Profis“ glotzen), ging mein Vater schon
       mal mit uns zum gegenüberliegenden McDonald’s, auch wenn er den USA, sagen
       wir mal, kritisch gegenüberstand. Dort tunkten wir unsere frittierten
       Hühnerbeine, die es damals noch gab, in Vanilleshakes, die so kalt waren,
       dass der ganze Mundraum vereiste – nie wieder habe ich Schmerzen so
       genossen.
       
       ## „Behaglich derber Genuss“
       
       Mein Vater kam aus einer ganz anderen Ecke als meine Mutter: nicht
       abgestürzter Adel, der am Schluss seiner Laufbahn bei der SS landete (was
       der familiär chronisch untereingestandene Grund für die Nachkriegsarmut
       meiner Mutter war: Es sind oft nicht die Verbrecher, die für ihre
       Verbrechen bezahlen). Mein Vater war das einzige Kind einer altbayerischen
       Bauern- und Beamtensippe, für die die Grundversorgung mit Lebensmitteln
       auch in bittersten Inflations- und Kriegszeiten nie ein Problem dargestellt
       hatte. Und sie hing, wie [2][Lion Feuchtwanger im Roman „Erfolg]“ den
       bayerischen Stamm abschließend definiert hat, am „behaglich derben Genuss“.
       
       Konkret also: Dampfnudeln, Rohrnudeln, Milchnudeln, Kirchweihnudeln
       („Auszogne“); Zwetschgendatschi, Salzburger Nockerl, Kaiserschmarrn,
       Reiberdatschi; Griesnockerl, Semmelknödel, Kartoffelknödel roh, Knödel aus
       Kartoffelteig, Knödel halb und halb, Knödelgröstl; Boeuf à la mode
       (gesprochen und auf der ersten Silbe betont „Böfflamodd“), Schweinsbraten;
       Gans, Gansjung; Herz; Leber mit Äpfeln und Zwiebeln, saure Leber, gebackene
       Leber; Tellersulze, Weißwürste, Wollwürste, Regensburger, Lyoner;
       Blaukraut, Weißkraut, Sauerkraut; Spargel, Schwarzwurzel, Schwammerl,
       Maroni; gelbe Rüben, Kohlrabi; Kuheuter gebacken – nein, den tatsächlich
       gab es zu Hause nicht, sondern nur in den Metzgereien am Münchner
       Viktualienmarkt.
       
       ## Was dem „Gerdi-Bubi“ schmeckte
       
       Diese Liste hat meine Mutter mit dem Eintritt in die Ehe erlernen und
       abkochen müssen. Und da es ihre eigene Mutter, eine zart-harte
       Künstlerperson, die von Zigaretten und Amikippen lebte, ihr nicht
       beibringen konnte, ging sie bei der Großmutter meines Vaters in die Lehre
       und bekam unter Hinzuziehung des bis heute immer wieder neu aufgelegten
       [3][„Bayerischen Kochbuchs“] vermittelt, was dem „Gerdi-Bubi“ schmeckte.
       
       Wenn meine Mutter meinen Vater mit seinem Oma-Kosenamen „Gerdi-Bubi“
       nannte, dann war etwas im Anzug, es konnte ein luftig-lustiger Wortwechsel
       sein oder ein krachendes Streitgewitter. Dahinter stand aber immer die
       Auseinandersetzung ums Essen, das mein Vater vorgesetzt bekam, wenn er
       abends von der Arbeit kam und das er meistens allein einnahm, weil wir
       Kinder schon gesunde Nahrung zu uns genommen hatten. Er revanchierte sich
       für diese Isolation, indem er an Sonntagen, wenn meine Mutter einen sauren
       Obstblechkuchen gebacken hatte, aus der Konditorei Windbeutel, Sacher- und
       Prinzregententorte und andere cremige Köstlichkeiten anbrachte, die wir
       gierig in uns hineinsogen.
       
       ## Globalisierung „made in Yugoslavia“
       
       So ging das bis ungefähr Mitte der 1970er Jahre. Dann kam die
       Globalisierung über uns, zunächst „made in Yugoslavia“ wie meine noch heute
       tragbare Adidas-Sporthose. Die Eltern nahmen uns mit in die Balkangrills,
       mit Ćevapčići und rot gefärbtem Djuveč-Reis. Wir schaufelten das kulturell
       unsensibel in uns rein, wenn wir nicht das obligatorische Schnitzel mit
       Pommes bekamen. Nun brandeten die Wellen in immer kürzeren Abständen an, im
       Schrebergarten kam plötzlich eine so ertragreiche wie nach nichts
       schmeckende Gemüsesorte in Mode, Zucchini genannt.
       
       Dass es bei denen eigentlich um die Blüten geht, blieb unbekannt. Es kamen
       die Griechen, [4][die aus historischen Gründen in München immer schon eine
       Rolle gespielt hatten], und schließlich war die Reihe an einer Kette namens
       „Bella Italia“. Seitdem war mit uns in den heimischen Wirtschaften kein
       Staat mehr zu machen, wir verlangten lauthals nach Pizza und Pasta. Der
       Wienerwald, in dem wir vom Vater bei den sehr seltenen Abwesenheiten
       unserer Mutter abgespeist wurden, verlor seinen Glanz [5][und ging bald
       pleite.]
       
       ## Simples Schinken-Käse-Baguette
       
       Dass es außer heimatlichem Essen und mütterlicher Nahrung noch einen ganz
       anderen Zugang gab, hatte sich mir aber schon als Zehnjährigem in der
       Schweiz angedeutet, auf Zwischenstopp der Ferienreise an die Costa Brava.
       Es war ein simples Schinken-Käse-Baguette gewesen, alles so fein, so
       köstlich aufeinander abgestimmt, das Weißbrot im Mund zergehend, der Käse
       in schmelzender Verbindung mit dem Kochschinken so abnorm geil, dass ich
       wieder zu Hause gefühlt stundenlang auf meinem „Lieken Urkorn“ herumkaute,
       so seine vollkommene Ungenießbarkeit meiner Mutter kundtun wollend, die
       aber dadurch nicht zu beeindrucken war.
       
       Noch heute, wenn ich meine knapp hundert Kilo bei ihr zu Besuch zur Tür
       hineintrage, sagt sie nur: „Unter meinem Regime hast du besser
       ausgeschaut“, und wenn ich erwidere, „Aber Mama, ich bin jetzt auch schon
       fast ein halbes Jahrhundert älter“, dann zuckt sie nur mit den Schultern.
       
       Dass ich heute öfter, als es mir schmecken will, nach dieser Welt mit einer
       bescheideneren Speisenkarte, die ich einst so aufbruchslüstern verlassen
       habe, Sehnsucht habe, liegt aber nicht nur am Alter und an meiner Mutter.
       „Ihr Leben paßte ihnen“, sagt Feuchtwanger von den Bayern. Das ist eine
       Lebenshaltung, die in diesem hasszerfressenen Land mal wieder unpopulär
       ist. Zufrieden sein als Avantgarde – darauf eine Schmalznudel!
       
       25 Sep 2024
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.editorialedomani.it/idee/cultura/il-primo-ricordo-culinario-la-pasta-e-parte-di-noi-uskglv5w
 (DIR) [2] https://www.aufbau-verlage.de/aufbau-taschenbuch/erfolg/978-3-7466-5629-8
 (DIR) [3] /Germanistin-ueber-Kochbuchklassiker/!5411595
 (DIR) [4] /Beziehung-zwischen-Athen-und-Muenchen/!5544473
 (DIR) [5] /Archiv-Suche/!1107081&s/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ambros Waibel
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Essen
 (DIR) Bayern
 (DIR) Nachkriegszeit
 (DIR) Jugoslawien
 (DIR) Kochen
 (DIR) Schwerpunkt Stadtland
 (DIR) London
 (DIR) Käse
 (DIR) Longread
 (DIR) Italien
 (DIR) wochentaz
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Kochen für die Familie: Gegessen wird, was auf den Tisch kommt
       
       Gehört in den Kartoffelsalat Mayonnaise? Es lohnt sich, nicht nur zum Fest
       mal übers Essen nachzudenken. Eine Geschichte über Familientraditionen.
       
 (DIR) Westafrikanische Restaurants in London: Große Legende in kleinen Schalen
       
       Westafrikas Küche war im Fine-Dining-Bereich bisher kaum vertreten. In
       London ändert sich das gerade, dank Gastronomen wie Aji Akokomi.
       
 (DIR) Parmesanherstellung in Italien: Alessia Zini und ihre 7.000 Kinder
       
       Für die Produktion von Parmesan braucht man beste Kuhmilch und viel
       Erfahrung. Zu Besuch bei einer Parmesankäserin in der Emilia-Romagna.
       
 (DIR) 35 Jahre nach der Wende: Das neue Ostbewusstsein
       
       Nicht nur die Rechten beanspruchen den Osten für sich, auch vielen
       progressiven jungen Menschen ist ihre Herkunft wichtig. Wie kommt das?
       
 (DIR) Italienische Küche: Die cucina italiana existiert!
       
       Der Historiker Alberto Grandi behauptet, die italienische Küche gebe es gar
       nicht. Stimmt nicht, denn die so eigenen lokalen Küchen vereint vieles.
       
 (DIR) Warenkunde auf TikTok: Gewürzgurken trenden im Netz
       
       Was in den sozialen Medien an Essen viral geht, kommt dann auch in den
       Innenstädten an. Eine große Rolle dabei spielen Food-Influencer*innen.