# taz.de -- Saisoneröffnung am Gorki-Theater Berlin: Beethoven und Teufelsaustreibung
       
       > Cem Kaya inszeniert am Berliner Gorki-Theater mit „Pop, Pein,
       > Paragraphen“ eine Videovorlesung. Die beleuchtet das komplexe
       > deutsch-türkische Verhältnis.
       
 (IMG) Bild: Ekim Zafer in „Pop, Pein, Paragraphen“ von Cem Kaya am Berliner Gorki-Theater
       
       Das deutsch-türkische Verhältnis ist eine komplexe Angelegenheit. Cem Kaya,
       in Schweinfurt geborener und mittlerweile mit dem Grimme-Preis dekorierter
       46-jähriger (Film-)Regisseur, lotet es mit einer Vielzahl kommentierter
       Filmschnipsel auf sehr eigene Art aus.
       
       Er zeigt – umrahmt von zwei übergroßen aufgeblasenen Frontex-Figuren –, wie
       tief der Hass auf Migrant*innen bereits in den 1970er und 80er Jahren in
       Teilen des politischen Establishments wie auch in Teilen der Bevölkerung
       der Bundesrepublik verankert war.
       
       Kaya überlässt aber auch dem Künstler und erfolgreichen Youtuber Ekim Acun
       die Bühne. Denn der ist es gewohnt, auf seiner Plattform „ŞOKOPOP“ ganz
       hinreißend den Zusammenhang zwischen politischer Repression und bunter
       Popkultur in der Türkei vorzustellen – was zu vielen Lachern unter den
       Kennern und zum Staunen der Unbeleckten führt.
       
       Die Herzkammer der Show stellen zwei Asylfälle dar, die unterschiedlicher
       kaum sein könnten. Gemeinsam haben sie das tödliche Ende, den Todesort
       Hardenbergstraße in Berlin und die Tatsache, dass beide Opfer Türken waren.
       1983 stürzte sich Cemal Kemal Altun, ein 23-jähriger Student und
       politischer Aktivist, aus einem Fenster des Berliner
       Oberverwaltungsgerichts. Das Gericht hatte über seine Abschiebung zu
       entscheiden.
       
       ## SPD-Regierungen kamen der Forderung nicht nach
       
       Altun drohte ein politischer Prozess in der Türkei mit der Perspektive
       einer langen Haftstrafe, sogar die Todesstrafe war möglich. In der Türkei
       herrschte damals eine Militärjunta, die erwiesenermaßen brutal gegen
       politische Gegner vorging. Aus Verzweiflung zog der junge Mann den Freitod
       vor – und wurde dann, wie Kaya sarkastisch kommentiert, auch auf deutschem
       Boden heimisch: in der Erde des Dreifaltigkeitskirchhofs in Mariendorf.
       
       Der zweite Todesfall ereignete sich bereits 1921. Ein Mitglied der
       armenischen Untergrundorganisation Operation Nemesis erschoss den früheren
       türkischen Innenminister Talat Paşa. Der war einer der Hauptorganisatoren
       des Völkermords an den Armeniern 1915/16. Er fand nicht nur politisches
       Asyl in Deutschland, dem einstigen Verbündeten im Ersten Weltkrieg.
       
       Er wurde sogar von einem deutschen U-Boot in Sicherheit gebracht. Und als
       die damalige liberal gesinnte türkische Regierung die Auslieferung von
       Talat Paşa als Kriegsverbrecher forderte, kamen die meist
       sozialdemokratisch geführten Reichsregierungen in Berlin dem Ersuchen nicht
       nach.
       
       Kaya förderte aus den Filmarchiven Bildmaterial zur Verquickung deutscher
       und türkischer Militärs vor und während des Ersten Weltkriegs zutage. Er
       fand auch die berührende Rede Wolfgang Wielands am Grab von Altun. Wieland,
       im Dezember letzten Jahres in Berlin gestorbener Grünen-Politiker von
       besonderem Format, war seinerzeit Anwalt von Altun.
       
       In seiner Grabrede schilderte er Beispiele für den Hass auf Türk*innen in
       der Berliner Bevölkerung, die einem auch 40 Jahre danach noch die Haare zu
       Berge stehen lassen. Sie belegen zudem, dass aktuelle Remigrationsparolen
       der AfD keineswegs allein aus einem in schrägem Opferkult tiefblau gemalten
       ostdeutschen Himmel fallen. Nein, die Basis dafür ist sehr fest gewachsen
       und solide.
       
       ## Langer Zeitstrahl
       
       Der Zeitstrahl, den Kaya immer mal wieder auf den Theatervorhang
       projizieren lässt, zeigt vor den Ausschreitungen in Hoyerswerda 1991 und
       Rostock-Lichtenhagen 1992 [1][die rechtsextremen Terroranschläge von
       Hamburg und München 1980 sowie von Nürnberg 1982].
       
       Es ist eine Zeitreise, die erschüttert, eben auch, weil bereits vor mehr
       als vier Jahrzehnten Politiker von CSU und CDU in einem Maße das Asylrecht
       zu verschärfen suchten, wie es jetzt die AfD fordert.
       
       Lustiges gibt es an diesem Abend ebenfalls. In einem Lehrfilm zum
       Deutsch-Lernen [2][steigen unter anderem Goethe und Beethoven vom
       Denkmalssockel] und nehmen auf väterliche Art Sprachprüfungen ab. Wie
       wichtig Beethoven wiederum in der Türkei ist, zeigen Filmszenen eines
       Orchesters aus Ankara beim Einüben von dessen 5. Sinfonie. Die Klänge
       nutzten die putschenden Militärs bei ihrer ersten Pressekonferenz 1980. Und
       aktuell liefert Beethovens Neunte als Europahymne die Begleitmusik für die
       Zurückweisung Geflüchteter durch Frontex.
       
       ## Luft aus den Puppen lassen
       
       Am Ende wird die Luft aus den Frontex-Puppen auf der Bühne gelassen. Nur
       mit Pneumatik allein lassen sich die größeren Probleme, auf die diese
       famose „Deutschstunde“ hinweist, aber leider nicht beheben. Und so schlägt
       Kaya in munterer Verzweiflung Exorzismus als Strategie vor.
       
       Er beendet den Abend mit Ausschnitten seines Abschlussfilms „Do Not
       Listen!“, in dem er Christen aus William Friedkins „Der Exorzist“ und
       Muslime aus dem türkischen Remake „Şeytan“ stakkatohaft
       aneinandergeschnitten das Böse bannen lässt. Möge es nützen.
       
       9 Sep 2024
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Tom Mustroph
       
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